von Oliver Classen

Petitionsplattformen als Corona-Ventil und lokaler Themenradar

Der grösste Schweizer Online-Petitionsdienst verzeichnet einen regelrechten Corona-Boom: Campax verwandelt Unmutsbekundungen zu Unterschriftensammlungen. Auch die «Aargauer Zeitung» bietet mit der Plattform Petitio ein digitales Protestventil. Dort geht es aber nicht um Corona, sondern um Aufreger aus Dorf und Quartier.

«Dieses Anliegen ist mir sehr wichtig, bitte mach mit.» So lautete die Nachricht, die mir eine befreundete Journalistin Anfang Mai auf WhatsApp weitergeleitet hat. Was folgte, war keine Erklärung, sondern ein Link. Und zwar zu einem Aufruf zum «Normalbetrieb in der Schule», der sich gegen die Halbklassen-Strategie zum Corona-Wiedereinstieg wandte. Die Online-Aktion fand nicht nur auf Chat-Plattformen, sondern auch via TeleZüri und «Schweiz aktuell» schnelle Verbreitung. Innert Wochenfrist kamen über 7500 Unterstützerinnen zusammen.

Initiiert und konzipiert hat diese «nachdrückliche Bitte an die Zürcher Bildungsdirektion» eine ehemalige Lehrerin. Sabine Fercher ist Mutter von Zwillingen und selbstständige Compliance-Spezialistin. Sie bezeichnet sich als «sonst eher apolitisch» und ihr Engagement in dieser Sache als «spontanes Resultat persönlicher Betroffenheit». Motivationsmässig steht sie damit stellvertretend für all jene, die ihrem Ärger über getroffene oder unterlassene Regierungsmassnahmen gegen die Pandemie und ihre Folgen per Sammelaktion Luft verschaffen. Das beschert der Schweiz und vielen anderen Ländern dieser Tage eine beispiellose Petitionsflut.

Vom Boom dieses lange nur von NGOs genutzten Protestinstruments profitiert primär Campax, die führende Schweizer Plattform für Internet-Petitionen. Und laut Selbstdeklaration zudem «eine Bewegung, bei der sich inzwischen über 100’000 Engagierte für soziale, wirtschaftliche und ökologische Fairness einsetzen». Die bislang erfolgreichste Corona-Petition aus dieser progressiven Küche vertrat allerdings ein relativ konservatives Anliegen: Die Forderung eines Reisebüro-Inhabers nach «Bundeshilfe auch für Selbständige» wurde in bloss drei Tagen fast 100’000 Mal unterschrieben. Tatsächlich hat der Bundesrat Kleinunternehmern kurz darauf eine Monatspauschale von 3320 Franken zugesprochen. Welche Rolle diese Web-basierten Solidaritätswelle dabei spielte, bleibt freilich offen.

«Im ersten Quartal dieses Jahres ermöglichten wir über 200 Petitionen, so viele wie im ganzen letzten Jahr nicht»
Andreas Freimüller, Campax

Fest steht hingegen: Solche Zahlen erreicht man nur mit einem sich selbst verstärkenden Echo, das von Social Media häufig auch auf traditionelle Medien überspringt. Campax-Geschäftsleiter Andreas Freimüller kennt und beherrscht diese Wirkungslogik. «Im ersten Quartal dieses Jahres ermöglichten wir über 200 Petitionen, so viele wie im ganzen letzten Jahr nicht», freut sich der Kampagnenprofi. Freimüller gründete die Plattform 2017 nach Vorbildern wie MoveOn.org oder campact.de. Sein Vorsatz war es, innert fünf Jahren die grösste E-Mail-Reichweite aller Schweizer NGOs zu haben. «Jetzt haben wir sie schon nach drei Jahren, natürlich auch wegen dem Virus.»

Mit Appellen wie jenem des Reiseunternehmers erschliesst sich Campax eine neue, politisch viel breitere Klientel. Beim Erstkontakt wissen Adressaten, die nicht NGO-affin und protestgewohnt sind, aber zumeist nicht, wofür die Organisation steht. «Sobald sie merken, dass wir links-grün unterwegs sind, ignoriert ein Grossteil der Corona-Petitionäre unsere Folgekommunikation», so Freimüller. Für ihn, seine acht Mitarbeitenden und den Vorstand käme auch die SVP als Absender «grundsätzlich in Frage». Allerdings nur, solange es um «eine Strassenberuhigung in Oberwil-Lieli» oder ähnlich unideologische Anliegen geht. Für politische Forderungen aus dem Kerngeschäft von Rechtsaussen bietet Campax keine Plattform.

«Unser Ziel ist letztlich die Beeinflussung nationaler Politik.»
Andreas Freimüller

Mit dem Erfolg kommt aber auch die Kritik. So sieht sich der US-amerikanische Branchenprimus change.org regelmässig mit dem Vorwurf konfrontiert, zur Optimierung seiner Reichweite und Spendeneinnahmen auch konservativen Kräften oder gar Konzernen eine Plattform zu bieten. Veränderung als Selbstwert also, egal in welche Richtung die Reise geht? «Wir kennen keine Tabus, haben aber eine klare Mission, nämlich sozialen und ökologischen Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen», sagt Freimüller. «Unser Ziel ist letztlich die Beeinflussung nationaler Politik, wie wir es zuletzt beim Thema Waffenexporte und der Korrektur-Initiative geschafft haben.»

Campax ist rechtlich ein Verein und versteht sich eigentlich als NGO, die immer stärker selbst Themen setzen und eigene Interessen vertreten will. Ihre dank Corona explodierende Petitionsplattform liefert dafür nur den Rohstoff, einerseits durch Adressdaten und andererseits durch die mit der Reichweite wachsende Markenbekanntheit. Für Daniel Graf, den Schweizer Pionier der digitalen Unterschriftensammlung, hat Campax «eine grosse und wichtige Lücke gefüllt». Hätten früher ausschliesslich Parteien und Verbände den politischen Takt angegeben, könnte es heute jede/r mit einem Veränderungswunsch «innert zwei Wochen vom Bierdeckel über Facebook bis auf die Frontseite eines Leitmediums» bringen.

«Wer es politisch ernst meint, startet hierzulande gleich ein Referendum oder eine Initiative»
Daniel Graf, Kampagnenspezialist

Fakt ist: Auch in der direkten Demokratie konnte man Petitionen bislang nur auf Papier unterschreiben. Jetzt lassen sie sich mit ein paar Klicks selbst starten. Ihre Durchschlagskraft steht und fällt jedoch mit der Mobilisierung und den Schlagzeilen, die Thema und Tonalität einer privaten Kampagne generieren. «Wer es politisch ernst meint, startet hierzulande gleich ein Referendum oder eine Initiative», sagt Graf. Denn bis eine Petition bei Behörden oder Regierung auch nur ein bisschen Eindruck macht, braucht es laut dem WeCollect-Macher «schon deutlich über 100‘000 Unterstützende». Dies ist zuletzt ausgerechnet dem Aufruf für eine Senkung der Radio- und Fernsehgebühren gelungen («Gebührenmonster»), welcher bekanntlich als Testlauf für die «No Billag»-Initiative diente.

Anstatt nur über die Petitionen anderer zu berichtet, bietet die «Aargauer Zeitung» von CH Media seit dreieinhalb Jahren selbst eine redaktionell betreute Online-Plattform zur elektronischen Unterschriftensammlung. Dort geht es beispielsweise gegen die «Lärmbelästigung durch Auto-Poser» oder um die «Verhinderung von 5G-Antennen» oder für die «Liberalisierung von Homeschooling im Kanton Solothurn». Offiziell wurde Petitio «zur Förderung der Bürgerbeteiligung» lanciert. Strategisch dient die von Google mitfinanzierte Petitionsplattform aber eher der Leserbindung und als Themenradar.

«Wir mussten in der letzten Zeit bloss ein paar Verschwörungstheoretiker abblocken, die auf Petitio ihre struben Ideen verbreiten wollten.»
Rolf Cavalli, Aargauer Zeitung

Das dementiert der fürs Projekt zuständige AZ-Chefredaktor Rolf Cavalli denn auch nur halbherzig. Und präzisiert: «Die Berichterstattung über Anliegen, die eine genügend breite Unterstützung finden, ist ebenso Teil unseres Angebots wie die Petitionseinreichung mit unserem Absender beim zuständigen Amt.» Wobei sich «genügend breit» nach der jeweiligen Gemeindegrösse richte. Dass ein Grossverlag politische Projekte über die Berichterstattung hinaus aktiv unterstützt, ist für die Kampagnenprofis Graf und Freimüller unproblematisch. Dazu seien die Anliegen zu kleinräumig und die verlegerische Risikobereitschaft fürs Projekt zu gering.

Dass die Corona-Krise auf der AZ-Plattform fast keinen Niederschlag findet, liegt wohl am hyperlokalen Fokus der dort artikulierten Anliegen. «Wir mussten in der letzten Zeit bloss ein paar Verschwörungstheoretiker abblocken, die dort ihre struben Ideen verbreiten wollten», so Cavalli.

Was als Nebenprodukt des Relaunchs 2016 begann, könnte bei der anstehenden Überarbeitung der CH Media-Websites diesen Herbst vertieft und auf andere Regionen ausgeweitet werden. Noch sei diesbezüglich aber «nichts entschieden». Vielleicht skalieren Weltwoche oder «Wochenzeitung» dieses Lokalexperiment ja bald auch auf nationales Niveau. Das würde dem häufig bemühten Begriff des Kampagnenjournalismus dann definitiv eine völlig neue Bedeutung und Dimension geben.

Leserbeiträge

Sabine Fercher 22. Mai 2020, 21:07

Herzlichen Dank Herr Classen – die Petition für das Anliegen die Schulen im Normalbetrieb fortzuführen war die schnellste Möglichkeit in diesen Zeiten wo Schulen von einem Tag auf den anderen geschlossen werden können, eine wirklich gute Möglichkeit.