Wer hat Angst vor der Cancel Culture?
Ein Gespenst geht um in den Medien – das Gespenst der «Cancel Culture». Besorgte, ja gar alarmierte Stimmen warnen vor überbordender politischer Korrektheit, die unsere Meinungsfreiheit beschneidet und bestenfalls in einer engen Einfalt an Meinungen und Ansichten mündet, schlimmstenfalls das Ende der Demokratie bedeutet. Warum diese Befürchtungen unbegründet und weitgehend haltlos sind.
Kürzlich stellte der Philosoph Konrad Paul Liessmann in der Neuen Zürcher Zeitung fest, dass nach den Medien nun auch die Kultur zur «ironiefreien Zone» werde. Es dürften nur noch unlustige Witze gemacht werden, weil «jedes Wort brav den Massstäben der politischen Korrektheit entspricht».
Philipp Löpfe fragt bei «Watson» suggestiv, ob die Cancel Culture unsere Meinungsfreiheit bedrohe. Eine Antwort bleibt er den Leserinnen und Lesern zwar schuldig, aber er hält fest, dass der Trend, «missliebige Meinungen» in den sozialen Medien zu «boykottieren», auch zu uns nach Europa komme.
Milosz Matuschek konstatiert in der Neuen Zürcher Zeitung, dass politische Korrektheit, der «Lochfrass für die Freiheit», auch im Journalismus Probleme bereite. Unter Journalistinnen und Journalisten herrsche eine «Tugendolympiade», deren Regeln «direkt» aus dem Handbuch der stalinistischen Geheimpolizei Tscheka entlehnt sein könnten.
Martin Ebel beklagt im Tages-Anzeiger, Empfindlichkeit mache offenbar aggressiv, und aus «wirklicher oder vorgeblicher Betroffenheit» werde schnell eine «Hetzmeute», ein «digitaler Mob». Auch er selber riskiere mit seinem mutigen Text, an den «öffentlichen Pranger» gestellt zu werden.
Tamara Wernli stellt in der Weltwoche fest, dass das Canceln «täglich» stattfinde; etwa, wenn Leute «aus Angst vor Verleumdung» nicht mehr öffentlich sagen, was sie wirklich denken. Wer dies als «verbalen Terrorismus» bezeichne, habe «nicht ganz unrecht».
Auch Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», beklagt, «neue Tugendwächter» würden das Grundrecht der freien Rede «beschädigen und missbrauchen». Dieser «Terror der Wahrheit» erinnere an die «Bücherstapel der Nazis auf dem Berliner Bebelplatz» und an den «Prozess der Inquisition gegen Giordano Bruno».
«Tugendwächter», «Mobs», «Hetzmeute», «Terror» fast so schlimm wie jener der Nazis – Cancel Culture und politische Korrektheit scheinen eine existenzielle Bedrohung für Meinungsfreiheit und Demokratie zu sein.
Die Sorge über eine mögliche Cancel Culture, also über die Tendenz, Personen mit politisch «inkorrekten» Meinungen sprichwörtlich zu löschen, stammt aus den USA. Im Juli 2020 haben über 150 Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens in einem offenen Brief im «Harper’s Magazine» die Gefahren der Cancel Culture beschrieben und für mehr Toleranz und Meinungspluralismus appelliert. Unter den Unterzeichnenden sind so illustre Personen wie der Linguist und Bestsellerautor Steven Pinker, die Harry-Potter-Erfinderin J.K. Rowling, der Linguist und Kritiker Noam Chomsky oder der preisgekrönte Autor Salman Rushdie.
Im Brief, der weltweit für Schlagzeilen sorgte, beklagen die Prominenten, dass sich ein intolerantes Klima breit gemacht habe:
«Die demokratische Integration, die wir wollen, kann nur erreicht werden, wenn wir uns gegen das intolerante Klima aussprechen, das auf allen Seiten entstanden ist.»
Ansichten, die der eigenen widersprechen, werde zunehmend mit Intoleranz begegnet, und dieser zunächst verbalen Geisselung folge auch eine institutionelle: Menschen würden entlassen, Bücher zurückgezogen, Journalistinnen und Journalisten erhielten Maulkörbe. Und zwar nicht nur, wenn man eine abweichende Meinung habe; es genüge, dem Konsens mit zu wenig Eifer zuzustimmen:
«Wir zahlen bereits den Preis in einer grösseren Risikoaversion unter Schriftstellern, Künstlern und Journalisten, die um ihren Lebensunterhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder es ihnen sogar an ausreichendem Einigungseifer mangelt.»
Das klingt alles sehr alarmierend, doch leider hat die geballte intellektuelle Kraft der über 150 Unterzeichnenden nicht gereicht, ihrer Besorgnis auch in Form empirischer Evidenz Ausdruck zu verleihen – konkrete Fälle und Statistiken finden sich in dem offenen Brief keine.
Was ist nun also die Cancel Culture ganz konkret? Eine Ausprägung davon, die tatsächlich besorgniserregend ist, beschreibt die New York Times in ihrem Podcast The Daily vom 11. August 2020. Auf Twitter ging ein Video viral, in dem ein konservativer Mann, der sich weigerte, eine Maske in einem Laden mit Maskenpflicht zu tragen, ausflippte. Mehrere Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer machten es sich zur Aufgabe, diesen Mann zu identifizieren und ihn bei seinem Arbeitgeber anzuschwärzen, damit er seinen Job verliert.
Eine Debatte findet vor allem deshalb statt, weil Prominente als Opfer der Cancel Culture gesehen werden.
Solche Fälle haben in der Tat einen starken Beigeschmack von Lynchjustiz. Wenn Gruppen von Social-Media-Usern Einzelpersonen, die weder besonders prominent noch besonders mächtig sind, für ein einmaliges Fehlverhalten (so falsch dieses auch sein mag) brutal in die Pfanne hauen, spielen sie Richter und Henker und «löschen» diese Person sozial aus.
Doch die amerikanische Cancel-Culture-Debatte dreht sich nicht nur um solche Fälle von Online-Lynchjustiz gegenüber unbekannten Einzelpersonen. Eine Debatte findet vor allem deshalb statt, weil prominente und in der Öffentlichkeit präsente Leute aus Politik, Wirtschaft und Kultur als Opfer der Cancel Culture gesehen werden. Zum Beispiel J.K. Rowling, die auch den Brief im Harper’s Magazine mitunterzeichnet hat.
J. K. Rowling kann weiterhin einem Millionenpublikum sagen, was sie will.
Der Stein des Anstosses waren wiederholte Äusserungen Rowlings auf Twitter, in denen sie auf teilweise sarkastische Art ihre ablehnende Haltung gegenüber Transgender-Menschen, vor allem gegenüber Trans-Frauen, kundtat. Nicht zuletzt für viele Harry Potter-Fans dürften diese Äusserungen Rowlings überraschend und enttäuschend gewesen sein, und entsprechend heftig fielen die Reaktionen aus – Rowling musste sich auf Twitter tausendfach anhören, dass sie transphob sei.
Doch wie genau die Cancel Culture hier zugeschlagen haben soll, ist unklar. Rowling kann weiterhin einem Millionenpublikum sagen, was sie will. Sie hat nach wie vor all ihre Social-Media-Konten, ihr Vermögen beträgt nach wie vor über 500 Millionen Dollar, die Harry-Potter-Bücher und sonstiges Merchandise sind nach wie vor im Handel. Das Einzige, was Rowling widerfahren ist, ist Kritik.
Ein anderer Fall, der ebenfalls für internationale Schlagzeilen sorgte, ist der Abgang der konservativen Journalistin Bari Weiss bei der «New York Times». Weiss war Kommentatorin bei der Zeitung, und ihren Abgang hat sie öffentlichkeitswirksam mit einem offenen Brief gestaltet. Weiss beklagt, ihre Meinung sei innerhalb der «New York Times» nicht toleriert worden, Kolleginnen und Kollegen hätten sie immer wieder kritisiert und gemobbt, und die Leitung habe dagegen nichts unternommen.
Bari Weiss wird ihre Ansichten weiterhin ungehindert all jenen kundtun können, die sich dafür interessieren.
Doch auch diese Cancellation ist nicht ganz lupenrein. Weiss hat sich nämlich selber gecancelt: Sie hat bei der «New York Times» gekündigt und es gibt keine Evidenz, dass sie tatsächlich in irgendeiner Form intern dazu gedrängt wurde. Auch sie wird ihre Ansichten weiterhin ungehindert all jenen kundtun können, die sich dafür interessieren. Auf ihren eigenen Wunsch hin einfach nicht mehr in der «New York Times».
Die Causa Bari Weiss war nicht das einzige Mal, dass die «New York Times» in den Dunstkreis der Cancel Culture geriet. Der Journalist James Bennet verlor im Juni 2020 seinen Job als Redaktionsleiter des Meinungsteils der «New York Times», nachdem ein Meinungsbeitrag des konservativen US-Senators Tom Cotton für eine Art Shitstorm sowohl in den sozialen Medien als auch in anderen journalistischen Medien sorgte. Auf den ersten Blick scheint in diesem Fall die Cancel-Culture-These zu greifen: Jemand sagt etwas Kontroverses und die empörte Meute in den sozialen Medien und im Journalismus verlangt, dass dafür Köpfe rollen.
Bennets Abgang bei der «New York Times» ist keine Cancellation, sondern die Entlassung eines Mitarbeitenden, der schlechte Arbeit geleistet hat.
Doch die Geschichte erhält einen anderen Drall, wenn man sich den Inhalt des kritisierten Beitrags von Tom Cotton anschaut. Cotton forderte, dass das amerikanische Militär eingesetzt werden soll, um die zu jenem Zeitpunkt landesweiten «Black Lives Matter»-Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Diese faschistoide Forderung begründete Cotton mit dem verschwörungstheoretischen Verweis auf «Linksradikale», die die Proteste für ihre «anarchistischen» Ziele untergraben hätten. Die New York Times räumte angesichts der Kritik ein, dass dieser Beitrag nicht die normale redaktionelle Schlaufe der Qualitätskontrolle durchlaufen habe. Bennets Abgang ist angesichts dieser Hintergründe keine Cancellation, sondern die Entlassung eines Mitarbeitenden, der schlechte Arbeit geleistet hat.
Zusammenfassend können wir bei der US-amerikanischen Cancel-Culture-Debatte vier Punkte festhalten:
Erstens scheinen sich Prominente und Bekannte – Mitglieder der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite – von der Cancel Culture betroffen zu fühlen. Einfache Bürgerinnen und Bürger, die Opfer von Online-Lynchjustiz werden, stehen nur sekundär im Fokus.
Zweitens ist das vermeintliche Cancelling, also die «Löschung», der Elite-Angehörigen, nicht selten eher nebulös bis inexistent. Die betroffenen Personen sind Kritik ausgesetzt, aber an ihrer Macht, an ihrer Stellung und an ihren Privilegien rüttelt diese Kritik oftmals nicht wirklich.
Drittens wird Cancel Culture bisweilen als Synonym für jede Form der materiellen Konsequenz für Handlungen verwendet. Der NYT-Journalist James Bennet wurde nicht «gecancelt», sondern von seinem Arbeitgeber wegen einer nachweislich mangelnden, fehlerhaften Arbeitsleistung entlassen.
Und viertens scheinen die Cancel-Culture-Empörten in erster Linie um Fälle besorgt, bei denen das vermeintliche oder tatsächliche löschbegierige Verhalten von links kommt und die zu schützenden Meinungen eher rechts bis rechtskonservativ sind. Wenn der Spiess hingegen umgedreht ist, bleibt die Empörung aus. Einige Beispiele: Als der konservative NYT-Kommentator Bret Stephens versuchte, einen Twitter-User, der Stephens kritisierte, feuern zu lassen, als der Journalist Lewis Raven Wallace für seine Trump-kritische Haltung gefeuert wurde, als der Footballspieler Colin Kaepernick für seinen stillen Protest gegen Polizeigewalt mit einem Berufsverbot belegt wurde, wenn Unternehmen wie Google, Amazon und viele weitere mehr Mitarbeitende feuern, weil sie sich gewerkschaftlich organisieren wollen – in all diesen Fällen bleiben die sonst so lauten Cancel-Culture-Warner stumm.
Die deutschsprachige Cancel-Culture-Debatte nahm ihren Lauf mit dem besorgten Blick in die USA, aber so richtig explodiert ist die Diskussion erst Anfang August 2020 mit zwei aufsehenerregenden Fällen: Der deutsche Komiker und Kabarettist Dieter Nuhr und die österreichische Kabarettistin und Autorin Lisa Eckhart wurden für ihre «politisch unkorrekten» Meinungen «gecancelt». Kultur, Humor und Satire – ausgerechnet jene Domäne, die wir Europäer spätestens seit den Charlie-Hebdo-Terroranschlägen als für in einer Demokratie unantastbar halten, geraten durch die Cancel-Culture-Hetzmeute unter Beschuss. Das scheint in der Tat alarmierend – bis man sich mit den Fällen ein wenig genauer auseinandersetzt.
Drohungen wegen Eckharts Lesung gab es gar nie, wie der betroffene Veranstaltungsort später einräumte.
Zunächst zu Lisa Eckhart. Die talentierte Kabarettistin, deren Auftritte immer eine imposante künstlerische Wucht haben, spielt gerne mit Tabus und Grenzüberschreitungen. Eckhart hätte an einem Literaturfestival in Hamburg teilnehmen sollen, das im September 2020 beginnt, doch sie wurde wieder ausgeladen. Die Betreiber des geplanten Veranstaltungslokals hätten befürchtet, in dem «linken» Hamburger Viertel würden der «Schwarze Block» und Antifa aufmarschieren, um den Aufritt Eckharts – allenfalls auch gewaltsam – zu verhindern. Einer der Mitgründer des Festivals erklärte, die Zustände erinnerten ihn an «Weimarer Verhältnisse»; man müsse der Gewalt weichen. Das klingt alles sehr alarmierend.
Und wer genau hat wie wann gedroht? Drohungen gab es gar nie, wie der betroffenen Veranstaltungsort einige Tage später einräumte. Es habe einzig «besorgte Warnungen aus der Nachbarschaft» gegeben. Trotzdem verbreitete sich die Nachricht der gewaltbereiten Linken, welche Eckhart «gecancelt» hätten, wie ein mediales Lauffeuer; die Geschichte war wohl zu attraktiv, um zu recherchieren, was wirklich passiert ist.
Die Betreiber, die das Phantom-Cancelling Eckharts konstruiert haben, sehen das Problem übrigens nicht bei sich. Sie wünschen sich stattdessen eine Diskussion darüber, «wie es zu der Atmosphäre von Cancel-Culture-Ängsten kommt». Auch, wenn man selber die Cancel Culture herbeifabuliert, muss man offenbar darüber reden, warum andere daran schuld sind.
Die Causa Nuhr passt eher ins Schema Cancel Culture, weil offenbar heftige Online-Kritik zu einer effektiven Löschung geführt hat.
Die Situation mit dem Komiker Dieter Nuhr ist greifbarer. Nuhr sollte für eine PR-Kampagne der Deutschen Forschungsgesellschaft DFG ein kurzes Statement abgeben. Darin meint Nuhr, Wissenschaft sei keine «Heilslehre», keine «Religion», die «absolute Wahrheiten verkündet»; Wissenschaft wisse nicht alles, sei aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Nuhrs Statement wurde veröffentlicht, dann aber auf Twitter nicht zuletzt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kritisiert. Darauf entschied die DFG, das Statement Nuhrs zurückzuziehen, was dieser öffentlichkeitswirksam als Skandal beklagte. Nach einigem hin und her schaltete die DFG das Statement Nuhrs wieder online.
Die Causa Nuhr passt eher ins Schema Cancel Culture, weil offenbar heftige Online-Kritik zu einer effektiven Löschung eines für sich genommen lapidaren Inhalts geführt hat. Die Situation mit Dieter Nuhr hat aber einen Hintergrund und Kontext, der die Kritik an ihm verständlich macht. Nuhr äussert sich immer wieder zu wissenschaftlichen Fragen wie Klimawandel und der Coronavirus-Pandemie. Dabei vertritt er bisweilen klar antiwissenschaftliche Positionen, wie die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in einem Video aufgearbeitet hat. Es ist daher alles andere als verwunderlich, dass viele Menschen es als stossend empfanden, wie Nuhr in der DFG-Kampagne als Fürsprecher der Wissenschaft dargestellt wird, obwohl er nicht zuletzt in der Coronavirus-Pandemie blanken und potenziell gefährlichen Humbug erzählt (etwa, dass Masken komplett unwirksam seien).
Was lässt sich anhand dieser zwei Fälle, welche die Cancel-Culture-Empörungswelle im deutschsprachigen Raum losgetreten haben, festhalten?
Erstens dreht sich die Diskussion exklusiv um Angehörige der Elite. Lisa Eckhart ist eine der aktuell erfolgreichsten Kabarettistinnen Österreichs. Dieter Nuhr gehört zu den bekanntesten Comedians in Deutschland und er hat sogar eine eigene Fernsehsendung im «Ersten». Die Macht und der Einfluss dieser zwei Kunstschaffenden bleibt mindestens so gross wie vor den «Skandalen». Wenn überhaupt, dürfte ihre Bekanntheit sogar gewachsen sein, weil die beiden als (selbststilisierte) Opfer der Cancel Culture neue Kreise ansprechen.
Zweitens ist auch hier, ähnlich wie in den USA, die Natur des angeblichen Cancelns eher nebulös. Eckhart wurde zwar ausgeladen, aber nicht, weil ein gewaltbereiter linker Mob das verlangt hätte. Und das Canceln Nuhrs bestand in der Löschung eines rund 36-sekündigen Statements, nicht in irgendwie materiell nennenswerten negativen Konsequenzen.
Drittens ergiesst sich die Cancel-Culture-Empörung auch im deutschsprachigen Raum offenbar ähnlich wie in den USA primär an Fällen, in denen Meinungen kritisiert werden, welche nicht in den angeblichen linken Mainstream passen. Eckhart, die zwar nicht gecancelt wurde, wird für ihre grobschlächtigen Witze gegenüber Minderheiten kritisiert und Nuhr wird kritisiert, weil er antiwissenschaftliche Thesen verbreitet, wie sie am ehesten aus rechtskonservativen bis verschwörungsaffinen Kreisen bekannt sind.
Viertens fällt auf, dass die Cancel-Culture-Warnerinnen und -Warner an einer inhaltlichen Diskussion scheinbar keinerlei Interesse haben. Sie finden es schlecht, dass Leute, die eine ähnliche Meinung wie sie selber haben, kritisiert werden – aber sie machen sich nicht die intellektuelle Mühe, darüber nachzudenken, ob an der Kritik vielleicht etwas dran ist. Eckhart wurde beispielsweise für einen Auftritt von 2018 im WDR kritisiert, in welchem die Pointe ist, dass auch Angehörige von Minderheiten kriminell sein können und durch ihre blosse Gruppenzugehörigkeit nicht automatisch moralisch gut handeln. Diese Feststellung ist an Banalität kaum zu überbieten, und sie wird durch «politisch unkorrekte» Witze, mit denen altbekannte Stereotype bedient werden, nicht gehaltvoller. Wenn Eckhart etwa meint, dass es «den Juden» angesichts von Leuten wie dem verurteilten Sexualstraftäter Harvey Weinstein offenbar wirklich nicht ums Geld an sich gehe, sondern um «die Weiber», für die sie Geld bräuchten, wird ein altes antisemitisches Vorurteil (Juden und Geld) für einen lauen Witz aufgewärmt. Auf solche Kritik geht Eckhart nicht ein, sondern meint, dass man ihrem Werk «grosse Gewalt» antue, wenn man «einzelne Sätze» rausnehme. (Als ob es sich um eine komplexe philosophische Abhandlung und nicht um einen knapp viereinhalbminütigen Auftritt mit ein paar Witzen handelt.)
Die alarmistische Diskussion leistet weiterer alarmistischer Diskussion Vorschub.
«Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.» So lautet das berühmte Thomas-Theorem, benannt nach Dorothy Swaine Thomas und William Isaac Thomas. Das Thomas-Theorem beschreibt, dass unsere soziale Realität von der tatsächlichen materiellen Realität abgekoppelt, aber trotzdem wirkmächtig sein kann.
Das Thomas-Theorem beschreibt die Cancel-Culture-Debatte recht treffend: Das, worüber in so alarmierenden Tönen diskutiert wird, hat mit der Realität nur bedingt etwas zu tun, aber die alarmistische Diskussion leistet weiterer alarmistischer Diskussion Vorschub. Eine rekursive Spirale der Empörung, bei der sich Empörung aus der Empörung speist.
Das bedeutet nicht, dass am Phänomen Cancel Culture gar nichts dran ist. Es gibt tatsächlich Fälle von Online-Lynchjustiz, bei denen Einzelpersonen ohne Macht und ohne Einfluss für ein einmaliges Fehlverhalten fertiggemacht, oder eben sozial «gelöscht» werden – dieses Phänomen gilt es zu bekämpfen. Doch der Grossteil der Cancel-Culture-Debatte interessiert sich nicht für Nobodies im Internet, sondern nur für prominente Mitglieder der Elite, welche angeblich Opfer der Cancel Culture werden. Dabei zeigt sich, dass die betroffenen Figuren kaum gecancelt werden, denn sie büssen weder Macht noch Status ein. Das, was die besorgten Cancel-Culture-Kritiker schlimm finden, ist etwas anderes: Kritik.
Die Mächtigen reden und die grosse Menge nimmt das Gesagte diskussionslos entgegen.
Das verwundert zunächst, weil die Cancel-Culture-Warner ja angeblich für Meinungsfreiheit und offenen Austausch einstehen, also mehr Kritik begrüssen müssten. Aber vielleicht meinen sie Meinungsfreiheit und offenen Austausch wie in den guten alten Zeiten, als Mitglieder der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite unter sich blieben. Als ihre privilegierte Stellung in der Öffentlichkeit eine bequeme Einweg-Kommunikation bedeutete: Die Mächtigen reden und die grosse Menge nimmt das Gesagte diskussionslos entgegen.
Der öffentliche Diskurs funktioniert heute anders. In Zeiten von Social Media, Blogs und Podcasts ist das diskursive Machtgefälle zwischen Elite und Otto-Normal-Bürgerinnen und -Bürgern nicht mehr ganz so steil. Die privilegierte Stellung der Eliten bröckelt, denn heute können wir alle nicht nur passiv rezipieren, sondern auch aktiv reagieren. Die Dinge bleiben heute nicht mehr unwidersprochen. Plötzlich gibt es Kritik.
Sind die eigenen moralischen Überzeugungen Gegenstand dieser Kritik, empfinden das einige vielleicht als Cancel Culture. Doch es liegt eben, wie die Soziologin Franziska Schutzbach in der «Republik» argumentiert, genau in der Natur der Sache, dass der gesellschaftliche Diskurs an Harmonie einbüsst, wenn der Kreis an Leuten, die über das Wahre und über das Gute diskutieren, grösser wird. Das ist grundsätzlich gut so. Ein zentrales Versprechen der Demokratie war nämlich immer schon, dass alle Diskursteilnehmenden grundsätzlich gleichberechtigt sind. Die Cancel-Culture-Empörung könnte ein Anzeichen sein, dass wir diesem Ideal ein Stück weit näher kommen.
Walter Felix Schweiter 21. August 2020, 17:47
Grossartig, Herr Kovic, luzide, genau und nicht ohne Humor. Es sind die „alten, weissen Männer“ und ihre Kokotten, die sich gecancelt fühlen. Na ja, es gibt Schlimmeres.
Ian Kognito 10. September 2020, 15:39
Ah, Ok der Artikel ist ja auch sehr schlecht. Auf Watson schrieben sie irgendwie besser Herr Kovic.
Die Cancel Culture wäre in Amerika sehr wohl belegt, wenn man nicht Cherry-Picking von Fällen bei Prominenten betreiben würde. So haben ja mehrere Unterzeichner des Harper-Letter eben gerade gesagt, dass es hierbei NICHT um sie selbst gehe, sondern um Leute, die nicht durch ihren Status geschützt werden.
Darauf gehen Sie ja am Schluss kurz ein, aber sagen, dass die ja niemand meine… Äääähm, doch! Der grosse Teil der Unterzeichnenden und alle Diskussionen dazu, die nicht in dummen Käseblätter stattfinden
Auch hier sehr enttäuschend!
Andreas Hagenbach 10. September 2020, 19:38
Hier wird wortreich Anpassung an die nun hier angekommene ‚Cancel Culture‘ gefordert, sie sei ja nicht so schlimm und weiter sei es bloss Jammern auf hohem Niveau, wenn ihr schädliches Wesen beklagt werde. Mit dem nur scheinbar plausiblen Argument „Es ist doch nicht so schlimm, dass die bisherigen Eliten ihre Privilegien verlieren würden.“ wird hier Stimmung gemacht einer Vielfalt (diversity) zuliebe. Leider ist es ja genau umgekehrt, der Meinungskorridor wird eingeengt, es wird sagbares und unsagbares getrennt. Eric Kaufmann vom Birkbeck College sagt darum: „As in academia, political discrimination leads to widespread self-censorship, a form of John Stuart Mill’s “despotism of custom” that curtails expressive freedom and hampers performance.“ Dem mag man noch Alexandre de Tocqueville hinzufügen: „In den demokratischen Republiken geht die Tyrannei ganz anders zu Werk; sie kümmert sich nicht um den Körper, sondern geht unmittelbar auf den Geist los (…).
Cancel Culture ist der vorerstige Höhepunkt einer von den USA kommenden Korrektheitshysterie, die uns keinen Zentimeter näher der Lösung dieser real existierendern Probleme gebraucht haben. Und darum ist Cancel Culture ein Unding und absolut vorhanden. „While the full spectrum of media, from the Spectator to the Guardian, acknowledged the importance of our findings, academic Left activists entered denial mode. In fact, no sooner had the ink dried on our report than they moved in to discredit it by changing the conversation from discussing results to zeroing in on methodological minutiae.“
https://www.idwnews.org/organizations/quillette/the-denial-of-cancel-culture/