von Ann-Kathrin Schäfer

«Der ‹Beobachter› ist eine Maschine, mit der man die Welt verändern kann»

Dominique Strebel

Seit Anfang Mai arbeitet Dominique Strebel als Chefredaktor des «Beobachter». Mit juristischem Fachwissen und hartnäckiger Recherche hat der Journalist in der Vergangenheit bereits zahlreiche Missstände aufgedeckt. Die letzten Jahre war er Studienleiter an der Journalistenschule MAZ. Im MEDIENWOCHE-Porträt spricht Strebel über seine Motivation und seinen Werdegang.

«Wieder beim ‹Beobachter› zu sein, fühlt sich an wie Heimkommen», sagt Dominique Strebel. Seit Anfang Mai verantwortet er als neuer Chefredaktor die Printausgabe und den Onlineauftritt des fast hundertjährigen Schweizer Publikumsmediums. Er sei gut aufgenommen worden von den neuen und den ehemaligen Kollegen, sagt der 54-Jährige, der bereits von 2005 bis 2012 als Redaktor beim «Beobachter» angestellt war, damals noch an der Förrlibuckstrasse im Zürcher Kreis 5. Mittlerweile befindet sich die Redaktion im «Medienpark» von Ringier Axel Springer Schweiz in Zürich Altstetten.

Strebel führt durch das Grossraumbüro und bleibt etwas unschlüssig vor zwei Sesseln, getrennt durch eine Plexiglasscheibe, stehen. «Zur Benutzung frei – bitte setzen», steht auf einem Schild. Wir setzen uns. Die Schreibtische, die sich hinter seinem Rücken erstrecken, sind aufgeräumt, die Bildschirme dunkel. Es ist still in der sonst so lebendigen Redaktion, die sich coronabedingt im Homeoffice befindet. Durch die FFP2-Maske sagt Strebel:

«Der Laden läuft und trotzdem komme ich mir vor wie im Rodeo. Ich muss aufpassen, dass ich – überspült von Video-Calls, neuen IT-Tools und neuen Aufgaben – im Sattel bleibe.»

Strebel trägt ein Jackett aus Cord über einem hellblauen Hemd, eine Hornbrille, an den Fingern zwei silberne Ringe, die graumelierten Haare sind kurz geschnitten.

Seinen ersten Text als neuer Chefredaktor hat er just einige Stunden vor dem Termin für dieses Gespräch in den sozialen Medien geteilt: ein Kommentar über eine geplante Gesetzesänderung, die die Medienfreiheit einzuschränken droht. Das Thema passt: Dominique Strebel ist nicht nur Journalist, sondern auch Jurist – wie der «Beobachter» vereint er seit jeher juristische mit journalistischer Expertise.

Zur Person

Dominique Strebel arbeitet seit Mai 2021 als Chefredaktor des «Beobachter». Der 54-Jährige Jurist ist unter anderem Co-Autor des Buches «Medienrecht für die Praxis» und Co-Herausgeber des Buches «Recherche in der Praxis». In seinem Blog «Recht brauchbar» schreibt er über Missstände in der Justiz und über Urteile, die für Medienschaffende relevant sind. Er initiierte das Whistleblowerportal sichermelden.ch und half als Gründungspräsident, das Schweizer Recherchenetzwerk investigativ.ch aus der Taufe zu heben.

Strebel hat in Bern Jus studiert, arbeitete anschliessend als Bundesgerichtskorrespondent für Radio DRS und «Basler Zeitung» und später als Redaktor für die juristische Fachzeitschrift «Plädoyer». Als «Beobachter»-Redaktor erreichte er mit zwei Musterprozessen (im Fall Roland Nef und Fifa), dass Strafbefehle öffentlich aufgelegt werden müssen und Einstellungsverfügungen auf Gesuch hin einsehbar sind. Ausserdem gab er sogenannten administrativ Versorgten in der Schweiz eine Stimme und ebnete den Weg zu ihrer Rehabilitierung. In den letzten achteinhalb Jahren leitete Strebel die Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ und den CAS Datenjournalismus. Nebenbei berichtete er über Gerichtsfälle für das Online-Magazin «Republik» und arbeitete zeitweise für «Tages-Anzeiger» und «SRF-Data». Strebel lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Zürich-Wiedikon.

Als die Anfrage für die Stelle als Chefredaktor kam, war Dominique Strebel seit achteinhalb Jahren als Co-Studienleiter an der Journalistenschule MAZ in Luzern tätig. Er strukturierte die Diplomausbildung neu, initiierte Reformen und dozierte über Medienrecht, investigative Recherche und Medienethik. Alexandra Stark, die am MAZ eng mit ihm zusammenarbeitete, sagt: «Ich habe wahnsinnig bewundert, wie viel Power er hat. Er hat einen grossen Gestaltungswillen und dabei sowohl Weitblick wie auch Liebe zum Detail.» Er tue seine Meinung auch dann kund, wenn sie nicht gern gehört werde, und überzeuge mit seiner faktenbasierten Argumentationsweise. Zum Abschied erhält er ein Video mit 60 Grussbotschaften von Studierenden. Viele danken Strebel dafür, dass er immer für sie ansprechbar gewesen sei. «Er hat die Studierenden nicht nur mit seiner Begeisterung für den Beruf angesteckt, sondern hat auch viele Jobs vermittelt und sie motiviert etwas zu wagen», sagt Alexandra Stark.

Dominique Strebel spricht mit leuchtenden Augen über seine Zeit am MAZ, etwa über die von ihm initiierte Lancierung eines Lehrgangs für Datenjournalismus. «Ich verspürte ein Kribbeln, als ich merkte, wie eine vorwärts gerichtete, neugierige, kreative Gruppendynamik entstand», sagt er. «Die Lust am Lernen, die Überforderung beim Programmieren, wie sich dann die Teilnehmerinnen und Teilnehmer halfen und lachten und blieben, bis sie es verstanden hatten. Dieser Pioniergeist!» Diese Stimmung will Strebel nun auch in der «Beobachter»-Redaktion entstehen lassen. «Das Gefühl von: Hey, wir reissen das zusammen und gehen vorwärts!»

Unterstützen Sie unabhängigen und kritischen Medienjournalismus. Werden Sie jetzt Gönner/in.

Journalismus braucht Herzblut, Zeit – und Geld. Mit einem Gönner-Abo helfen Sie, unseren unabhängigen Medienjournalismus nachhaltig zu finanzieren. Ihr Beitrag fliesst ausschliesslich in die redaktionelle und journalistische Arbeit der MEDIENWOCHE.

[rml_read_more]

Die Begeisterung für den Beruf habe wohl von seinem Vater, der Chefarzt war, auf ihn abgefärbt, vermutet Strebel. Er wächst mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester im aargauischen Muri auf, besucht die Kanti in Wohlen, geht als Jugendlicher in Aarau und in Zürich in den Ausgang. Die Mutter ist Hausfrau, später Erwachsenenbildnerin. Der Onkel, Anwalt und Ständerat, übt ebenfalls einen entscheidenden Einfluss auf Strebels Werdegang aus:

«Ich wollte nicht Politiker werden wie mein Onkel, sondern der Politik und Machtträgern auf die Finger schauen!»

Mit 20 zieht Dominique Strebel für das Jus-Studium nach Bern. Zeitgleich beginnt er für die von der Landeskirche finanzierte Sendung «Chrüz und quer» des damaligen Berner Lokalradios «Förderband» Beiträge über Sinnfragen zu produzieren. Etwa ein Porträt über eine aidskranke Mutter oder eine Reportage über einen Obdachlosen. Die journalistische Arbeit habe ihn im Studium gehalten, sagt er rückblickend. «Mit dem Mikrofon eine Nacht lang durch die Stadt laufen, Menschen befragen, die Atmosphäre aufnehmen – das brauchte ich, um die blutleere analytische Ebene des Studiums und auch die Kommilitonen, die Karrieren als Wirtschaftsanwälte anstrebten, ertragen zu können.»

Gleichzeitig half ihm das Studium zu erkennen, wie man etwa dem befragten Obdachlosen nachhaltig helfen könnte. «So fing mein Zweitakter an zu laufen: Über den Journalismus erlebte ich hinter dem Mikrofon direkt die Welt. Und über die Juristerei lernte ich, wie sich in unserer Gesellschaft Veränderungen zum Guten, zum Gerechten, zum Befreienden bewirken lassen.» Dominique Strebel lacht, seine blaugrauen Augen leuchten:

«Man muss nur die Punkte finden, mit denen man die Welt aus den Angeln heben kann.»

Das töne jetzt gross, aber genau so sei es. «Es ist wie mit vierblättrigen Kleeblättern: Gezielt finden kann man sie nicht. Aber es braucht die latente Aufmerksamkeit.»

Besonders in Erinnerung geblieben ist Strebel der Mordfall an Christine Zwahlen in Kehrsatz. Als er nach dem Studium als Bundesgerichtskorrespondent für Radio und Zeitung arbeitet, verschlingt er die Berichterstattung über den Prozess. Ist fasziniert, als Medienberichte von Hanspeter Born in der Weltwoche dazu beitragen, dass der Fall neu aufgerollt wird. Und stolz, zusammen mit anderen «spannenden Leuten» Teil des fünfwöchigen Revisionsprozesses zu sein, in dem der zuerst verurteilte Ehemann der Ermordeten schliesslich freigesprochen wird. Strebel wird auf Partys umringt, weil alle die neueste Wendung im «Fall Zwahlen» interessiert. «Dieser Kriminalfall war spannend wie eine Serie, es liefen unglaublich viele Geschichten auf verschiedensten Ebenen ab», erinnert sich Strebel, der täglich für Radio und Zeitung berichtet und am Ende mit Kollegen ein Buch über den Fall herausgibt.

1997 beschliesst er trotzdem, seinen Beruf als Journalist vorerst an den Nagel zu hängen. «Ich hatte das Gefühl, dass das doch nicht alles gewesen sein konnte. Ich wollte meinen alten Traum am Wickel packen und etwas richtig Kreatives machen.» Der damals 30-Jährige reist nach San Francisco. Dort überlegt er einen Roman zu schreiben, besucht einen Improvisationstheaterkurs und lebt einen Monat lang in einem buddhistischen Kloster mit Blick auf den Pazifik, wo er das Meditieren erlernt. Dominique Strebel besucht bis heute einmal jährlich das Meditationszentrum Beatenberg und meditiert jeden Morgen 30 Minuten lang. «Ein Ritual wie Zähneputzen. Meditation schützt vor seelischem, psychischen, geistigem Leid so wie Fluor vor Karies schützt.» Sein Ziel sei, dass die Meditation sein Alltagsleben durchdringe, so dass die Ruhe und Weite auch in Stresssituationen bestehen bleibe:

«Ich möchte in jedem Lärm noch die Stille hören.»

Nach seinem USA-Aufenthalt zieht Dominique Strebel nicht zurück nach Bern, sondern nach Zürich, wo er noch heute lebt. «Ich wollte an einen Ort, der offener und grösser ist», erinnert er sich. Er meditiert, spielt am Theater und arbeitet Teilzeit für die juristische Fachzeitschrift «Plädoyer». Er lernt seine Frau kennen, mit der er noch heute, 22 Jahre später, im Konkubinat zusammenlebt. «Ich habe mich immer gegen das Heiraten gewehrt. Im Konkubinat muss man alles so regeln, als ginge man jeden Moment auseinander. Das befreit.»

Und er schwankt. Sollte er doch noch die Anwaltsprüfung ablegen? Oder die Schauspielerei zum Beruf machen?

Die Antwort findet er mit dem ersten Kind. Dominique Strebel, 35 Jahre alt, hält seine kleine Tochter auf dem Arm, spürt ihre Wärme und erlebt, wie er es ausdrückt, eine unmittelbare, existenzielle Klarheit. «Mit meinem Kind wurde mir Sinn geschenkt», sagt er, «und das Empfinden von einem geglückten Leben. Ich erinnere mich noch gut an diesen befreienden Moment, nachdem ich mich im Leben oft vergeblich nach Sinn gesehnt hatte.» Das Elternpaar teilt sich die Kinderbetreuung zu fast gleichen Teilen auf. «Ich will mich auch erleben als Mensch, der über den Regenwurm staunt, der Geschichten erfindet und der nicht nur Berufsmensch ist.» Beruflich setzt Strebel – «mit einem Kind weiss man endlich, wozu man Geld verdient» – nun klar auf den Journalismus, im Teilzeitmodell. Arbeitet zunächst verstärkt als freier Journalist und erhält 2005 eine Festanstellung in der «Beobachter»-Redaktion, wo er sich seinen Namen als investigativer Journalist macht.

Bekannt sind seine mitunter preisgekrönten Artikel über sogenannte fürsorgliche Zwangsmassnahmen. Strebel schreibt über mehrere Jahre Portraits und Reportagen über betroffene administrativ Versorgte und Zwangssterilisierte, erstellt aber auch Musterbriefe zur Archiveinsicht für die Betroffenen, schreibt ein Buch über seine Recherchen und veröffentlicht einen Forderungskatalog an die Politik. Er arbeitet sorgfältig, prüft die Fakten und bleibt dran. Bereits in der Vergangenheit wurde dieses dunkle Schweizer Kapitel journalistisch aufgenommen, allerdings ohne Folgen. Das ändert sich nun. Der Bundesrat entschuldigt sich 2010 erstmals öffentlich bei den Betroffenen, spricht einige Jahre später 300 Millionen Franken Wiedergutmachung. Für seinen damaligen und nun erneuten «Beobachter»-Kollegen Otto Hostettler keine Überraschung. Er beschreibt Strebel als «extrem hartnäckigen Journalisten, der sich nicht schnell zufriedengibt und auch die Konfrontation auf juristischer Ebene nicht scheut».

Dominique Strebel, der 2010 das Recherchenetzwerk investigativ.ch und 2011 die Whistleblower-Plattform sichermelden.ch ins Leben ruft, erinnert sich noch gut an die Zeit als «Beobachter»-Redaktor:

«Wenn man tief innen spürt, dass etwas im Sinne des öffentlichen Interesses nicht richtig ist, und zwar nicht im Einzelfall, sondern strukturell und überparteilich Leid erzeugt, gibt einem das die Kraft, um den Beruf über längere Zeit im Einklang mit dem eigenen Gewissen auch bei hoher Belastung durchzustehen.»

Strebel drückt sich überlegt aus. Er spricht mit von tief innen kommender Überzeugung. Man merkt, dass er sich den Themen, denen er sich widmet, voll hingibt und sich intensiv damit beschäftigt. Seine Jobwechsel erklärt er damit, dass sich die Zellen des Körpers alle sieben Jahre austauschen, man dann ein neuer Mensch werde und er wohl deshalb immer wieder die Sehnsucht nach einer Veränderung verspüre. Er philosophiert über das Meditieren; wie sich im Körper alles senke wie das Kaffeepulver in einem türkischen Kaffee und eine grosse Klarheit entstehe. Er schmunzelt über seine eigenen Formulierungen, die teilweise fast wie mathematische Herleitungen klingen, ohne dabei seine Ernsthaftigkeit zu verlieren.

Sein anwaltliches Engagement gegen Ungerechtigkeiten will er nun als Chefredaktor des «Beobachters» fördern. «Wir müssen Geschichten schreiben bis zu dem Punkt, an dem sie wehtun, an dem man sie wahrnehmen muss», sagt er und lehnt sich auf seinem Sessel vor. «Für das Aufdecken von überparteilichen Missständen und für das Einordnen komplexer Informationen gibt es ein gesellschaftliches Bedürfnis wie nach Luft und Wasser.» Dieser Kern habe Zukunft, daran glaube er fest. «Das tönt jetzt ein bisschen gross», sagt er. «Aber am Ende ist der ‹Beobachter› eine Maschine, mit der man die Welt verändern kann.»

Die Leidenschaft, die Dominique Strebel für seinen Beruf empfindet, will er nun seinen Töchtern, die heute 16 und 19 Jahre alt sind, mitgeben. So wie damals sein Vater ihm. Mit der älteren Tochter bespricht er aktuell ihre Berufswünsche. «Wofür man tief innen brennt, gibt einem die Richtung», rät er ihr. «Man muss seinen eigenen Weg finden. Das kann, wie ich selbst weiss, extrem schwierig sein.» Sein Handy klingelt. Er zieht es aus der Hosentasche und schaut aufs Display. «Ah, das ist sie.» Er lächelt, nimmt ab und hält das Handy ans Ohr. «Ja hallo», sagt er. «Ja genau, zum Abendessen bin ich zuhause.»

Bilder: Marco Leisi