Warum die Schweiz die direkte Demokratie gegen Facebook & Co. verteidigen muss
Digitale Plattformen richten erheblichen gesellschaftlichen Schaden an. Sie gefährden auch die direkte Demokratie. Deshalb braucht es eine rechtliche Regulierung, und zwar auf nationaler Ebene.
«Als wir bemerkten, dass die Tabakproduzenten die schädlichen Folgen des Tabakkonsums verheimlichten, griff die Regierung ein. Als wir herausfanden, dass Fahrzeuge mit Sitzgurten sicherer sind, griff die Regierung ein. Ich flehe Sie an, dies auch bei Facebook zu tun», erklärte Frances Haugen, die inzwischen weltberühmte Facebook-Whistleblowerin, vor einer Kommission des US-Repräsentantenhauses. Müsste dieser Apell nicht auch für die Schweiz gelten?
Die Parallelen liegen auf der Hand: Auch in der Schweiz gibt es Vorschriften über die Tabakwerbung und über die Pflicht zur Warnung vor gesundheitlichen Folgen des Rauchens. Auch in der Schweiz gibt es Vorschriften über das Tragen von Sicherheitsgurten im Auto. Und auch in der Schweiz gibt es keinerlei Vorschriften für den Betrieb von digitalen Plattformen, über die Daten ausgetauscht, die private wie die öffentliche Kommunikation strukturiert, Dienstleistungen angeboten und Produkte vertrieben werden.
Für alle technischen Infrastrukturen, die für unser gesellschaftliches Zusammenleben relevant sind, gelten Rahmenbedingungen, die staatlich vorgegeben sind.
Dabei sind die mit dem Betrieb solcher Plattformen verbundenen Risiken durchaus relevant. Tausende von Jugendlichen werden krank, weil sie vermeintlich oder tatsächlich den von Facebook und Instagram vermittelten Schönheitsidealen nicht genügen und deswegen gemobbt werden. Die Verbreitung gezielter Falschinformationen und von Hassreden stachelt soziale Gewalt an und trägt zu ethnischer und weltanschaulicher Diskriminierung bei. Die Bildung von Echogruppen, in denen Verschwörungstheorien verbreitet werden, ist ein ernsthaftes Hindernis bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Und so weiter. Der Betrieb von Plattformen wie Facebook ist unzweifelhaft mit Gefahren für Leib und Leben verbunden, ganz abgesehen von den enormen wirtschaftlichen Auswirkungen.
Für alle technischen Infrastrukturen, die für unser gesellschaftliches Zusammenleben relevant sind, gelten Rahmenbedingungen, die staatlich vorgegeben sind. Das Strassenverkehrsgesetz und eine Vielzahl damit verbundener Verordnungen regeln den motorisierten Verkehr und den Bau von Motorfahrzeugen. Das Energiegesetz stellt Rahmenbedingungen auf für die Versorgung der Bevölkerung mit elektrischer Energie, das Elektrizitätsgesetz regelt die Verbreitung dieser elektrischen Energie. Radio- und Fernsehgesetz regeln die Veranstaltung und den Empfang von Radio- und Fernsehprogrammen. Auf kantonaler Ebene sind es vor allem Gesetze im Bereich der Gesundheitsvorsorge und der schulischen Bildung, welche für verlässliche Rahmenbedingungen bei der Erbringung dieser Infrastruktur-Dienstleistungen sorgen.
Nur beim Betrieb digitaler Plattformen bleibt der schweizerische Gesetzgeber untätig. Noch im Jahre 2017 kam der Bundesrat in einem Bericht «Rechtliche Basis für Social Media: Erneute Standortbestimmung» zum Ergebnis, dass es nicht angezeigt sei, in diesem Bereich neue Regelungen zu schaffen. Einzelne problematische Aspekte seien bereits vom geltenden Recht abgedeckt, und die Plattformbetreiber hätten ja Initiativen zur Selbstregulierung ergriffen. Immerhin wollte der Bundesrat in Zukunft die «nationalen und internationalen Entwicklungen» beobachten.
Sorgen scheint der nationalen Politik einzig die Tatsache zu bereiten, dass der Schweiz über internationale digitale Plattformen in erheblichem Masse Steuersubstrat entzogen wird.
Im Klartext heisst das: Bis auf Weiteres ist alles erlaubt, was die US-amerikanischen Grosskonzerne Google, Amazon, Facebook und Apple erlauben. Und alles ist verboten, was diese grossen Techkonzerne zu verbieten belieben. Anonym festgelegte Algorithmen entscheiden darüber, was wir zu hören und zu sehen bekommen und was nicht. Natürlich gelten die allgemeinen Bestimmungen des Straf- und Zivilrechts, doch sind sie in der Praxis gegenüber ausländischen Konzernen, die keinen Sitz in der Schweiz haben, rechtlich gar nicht durchsetzbar. Praktische Realität ist daher, dass wir von Kopf bis Fuss von fremden Vögten und von fremden Richterinnen und Richtern in privaten Unternehmen abhängig sind. Dass die Kriterien, die diese verwenden, häufig völlig willkürlich und kaum nachvollziehbar sind, macht das Ganze noch viel absurder.
Sorgen scheint der nationalen Politik einzig die Tatsache zu bereiten, dass der Schweiz über internationale digitale Plattformen in erheblichem Masse Steuersubstrat entzogen wird. In der Tat bezahlen die Betreiberfirmen in der Schweiz praktisch keine Steuern, und auch viele der über diese Plattformen vermittelten Dienstleistungen werden steuerlich nicht erfasst. Da die Schweiz bekanntlich in fiskalischen Belangen nicht mit sich spassen lässt, ist sogar der Bundesrat plötzlich damit einverstanden, dass im internationalen Verhältnis ein Mindeststeuersatz festgelegt werden soll. Dieser darf sich in Abkehr von allen bisher geltenden Grundsätzen auch auf die im jeweiligen Staat erwirtschafteten Umsätze und nicht nur auf den örtlich ausgewiesenen Gewinn beziehen. Zudem soll jetzt auch der Onlinehandel aus dem Ausland vom ersten Franken an besteuert werden. Aber sonst? Vorschriften über Grundversorgung, Gefahrenabwehr, Haftung? Fehlanzeige.
Die Plattformisierung stellt nicht weniger als das Funktionieren der direkten Demokratie in Frage, insbesondere auf der lokalen und kantonalen Ebene.
So ganz langsam scheint der interessierten Öffentlichkeit aber bewusst zu werden, dass diese Plattformen auch etwas mit unserer direkten Demokratie zu tun haben. Dass dort völlig unkontrolliert und unbekümmert um geltende Fairnessregeln politische Werbung verbreitet werden kann, ist das eine. Dass diese Plattformen einen Grossteil der in der Vergangenheit in Printmedien und im Fernsehen geschalteten Werbung abziehen und damit die Geschäftsmodelle der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage und der privaten elektronischen Medien ruinieren, ist das andere. Und dass in den dortigen Foren ein Konversationston herrscht, der jegliche Zivilität vermissen lässt und sich immer wieder in Beleidigung und Hass äussert, ist das dritte.
Die Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich der öffentliche politische Diskurs in eine Vielzahl von Filterblasen Gleichgesinnter verflüchtigt. Es existieren einerseits immer weniger örtliche Printmedien und lokale oder regionale Radiostationen, in welchen ein moderierter Diskurs stattfinden könnte, und es bestehen andererseits bei den Plattformen keinerlei Rahmenbedingungen, die einen demokratischen Diskurs und die damit verbundene Herausbildung einer demokratischen öffentlichen Meinung erlauben würden. Die Plattformisierung stellt daher nicht weniger als das Funktionieren der direkten Demokratie in Frage, insbesondere auf der lokalen und kantonalen Ebene.
Die Algorithmen von Facebook sorgen gezielt dafür, dass ein konstruktiver Diskurs nicht stattfinden kann, weil dies den ökonomischen Interessen der Plattformbetreiber schaden würde.
Natürlich müsste das nicht sein. Auch Plattformen könnten durch entsprechende Festlegungen so ausgestaltet werden, dass sie einen freien und vielfältigen demokratischen öffentlichen Diskurs auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene sicherstellen. Sie könnten die Bereitstellung von Wissen und Information von allgemeinem Interesse und den Zugang dazu erleichtern, wie etwa Wikipedia das tut, und sie könnten den kulturellen und sozialen Austausch begünstigen. Allerdings darf man nicht erwarten, dass ein US-amerikanischer Grosskonzern sich um solche Anliegen kümmert, denn dafür fehlt es sowohl am Interesse als auch an der Kenntnis lokaler Gegebenheiten. Wie die Whistleblowerin Frances Haugen anlässlich ihrer Befragung im Repräsentantenhaus detailliert darlegte, sorgen die Algorithmen von Facebook sogar gezielt dafür, dass ein konstruktiver Diskurs nicht stattfinden kann, weil dies den ökonomischen Interessen der Plattformbetreiber schaden würde.
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Wer sich wünscht, dass in der Schweiz abrufbare Plattformen auf Anforderungen der schweizerischen direkten Demokratie ausgerichtet sind, der muss daher schon den Mut haben, sie bewusst entsprechend zu regulieren. Natürlich könnte man auch versuchen, lokale, regionale oder nationale Alternativen zu schaffen, welche die Benutzung der dominierenden ausländischen Plattformen obsolet machen. Nur erscheint das als wenig zielführend und auch als wenig realistisch, weil es der ökonomischen Logik von Plattformen widerspricht, welche auf die Akkumulierung der grösstmöglichen Anzahl Nutzerinnen und Nutzer an einem einzigen Ort gerichtet ist.
Die Schritte der EU zur Schaffung nationaler Plattformgesetze zeigen auch, dass gesetzgeberische Tätigkeit auf einzelstaatlicher Ebene durchaus möglich und realistisch ist.
Sehr viel mehr Sinn macht es daher, verbindliche Regulierungen für alle in der Schweiz abrufbaren Plattformen zu schaffen. Dabei müsste zuallererst sichergestellt werden, dass diese in der Schweiz eine Zweigniederlassung oder wenigstens eine verbindliche Zustelladresse haben, damit zukünftiges Recht auch durchgesetzt werden kann. Die Regulierungen müssten zudem garantieren, dass sämtliche für die direkte Demokratie relevanten Plattformen nach den Prinzipien eines Service public ausgestaltet sind, also Kontinuität, allgemeine Zugänglichkeit sowie Gleichbehandlung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen. Denn genau das ist es, was wir von allen sonstigen gesellschaftsrelevanten Infrastrukturen auch verlangen.
Was das im Einzelnen bedeutet, bleibt zu diskutieren. Erste Vorschläge hat die Europäische Union mit ihren Entwürfen für eine Richtlinie über digitale Dienste und einer Richtlinie für digitale Märkte geliefert. Diese europäischen Schritte zur Schaffung nationaler Plattformgesetze zeigen auch, dass gesetzgeberische Tätigkeit auf einzelstaatlicher Ebene durchaus möglich und realistisch ist. Dabei kann eine Koordination auf europäischer Ebene natürlich Sinn machen. Die Schweiz hat aber, nicht zuletzt mit Blick auf ihre direktdemokratischen Strukturen, ein grosses Interesse, in dieser Frage voranzugehen und diejenigen Regulierungen zu schaffen, die ihren Besonderheiten Rechnung tragen.
Teil dieser Regelung müsste sicherlich die Verhinderung von Veröffentlichungen sein, welche die geltenden Rechtsvorschriften verletzen, welche diskriminierenden oder ehrverletzenden Charakter haben, die Gewalt verherrlichen oder elementarsten Anforderungen an Zivilität widersprechen. Weiter könnte auf dieser Grundlage auch ein System zur Förderung journalistischer Inhalte auf diesen Plattformen geschaffen werden. Zu diesem Zweck könnte beispielsweise auf digitalen Plattformen, welche journalistische Medieninhalte von Dritten unentgeltlich nachweisen oder zugänglich machen, eine Medienförderabgabe erhoben werden. Der Ertrag dieser Abgabe könnte dann – zum Beispiel auf der Grundlage von Leistungsvereinbarungen – zur Förderung des demokratischen Diskurses auf kommunaler und kantonaler Ebene verwendet werden.
Frances Haugen hat mit ihren Enthüllungen veranschaulicht, in welch unerträglichem Masse wir uns von den US-amerikanischen Techkonzernen abhängig gemacht haben. Anders als dies die grossen Schweizer Presseverlage offenbar tun wollen, sollte sich die Schweiz nicht darauf beschränken, sich in der Art eines Blutegels an diese Ungetüme anzusaugen und zu versuchen, ein paar wenige Tropfen der dort fliessenden Geldströme für sich abzuzapfen. Vielmehr sollte sie diese Plattformen als das behandeln, was sie sind, nämlich als eine gesellschaftlich und wirtschaftlich höchst relevante technische Infrastruktur, und sie entsprechend regulieren. Der Zeitpunkt dafür war noch nie so günstig wie jetzt.
Fredy Obrecht 08. Oktober 2021, 12:04
Die Meinungsfreiheit ist ein wichtiges demokratisches Gut, das unabhänig vom Medium erhalten bleiben muss. Eigentlich ist es grossartig, dass alle Menschen jederzeit und überall ihre Meinung äussern können. Nun zeigt sich aber, dass durch Meinungsblasen und Fake News für die Gesellschaft Probleme entstehen können. Eigentlich wäre es eine journalistische Aufgabe, solche Meldungen zu hinterfragen und zu kommentieren.
Die klassischen Medien haben sich aber längst von ihren ethischen Grundsätzen verabschiedet. Gegen Geld kann man wohlwollende Berichte kaufen. Die Hand, die mich füttert, beisse ich nicht. Sie erfüllen ihre einstige Aufgabe – unabhäniges, kritisches verifizieren und kommentieren – nicht mehr.
Facebook und Co. sind kommerzielle Unternehmen. Sie definieren Regeln, die ihrem Geschäft dienen. Stossend finde ich, dass diese Unternehmen bestimmen, welche Nachrichten verbreitet werden dürfen und welche nicht. Es ist also eine Zensur nach marktwirschaftlichen Grundsätzen.