von Johannes Hapig

«Es ist wichtig, dass die Menschen verschiedene Seiten einer Frage kennen»

Als «Guardian»-Chefredaktor hat Alan Rusbridger digitale Pionierarbeit geleistet, den NSA-Skandal ans Licht gebracht und bei der Verbreitung der Wikileaks-Enthüllungen geholfen. Nun ist er in den Journalismus zurückgekehrt als Herausgeber des Monatsmagazins «Prospect». Ein Gespräch über Medienmanagement, Medienwandel und Musizieren als Weg zum Gleichgewicht.

Johannes Hapig:

Nachdem Sie zwei Jahrzehnte lang der Chefredaktor des «Guardian» waren, wurden Sie zunächst Rektor am Lady Margaret Hall College in Oxford. Was hat Sie nun zur Rückkehr in den Journalismus bewogen?

Alan Rusbridger:

Auch während ich in Oxford tätig war, habe ich den einen oder anderen Artikel geschrieben. Ich habe ausserdem regelmässig Kolumnen veröffentlicht und zwei Bücher fertig gestellt; mit dem Schreiben habe ich also nie aufgehört. Wissen Sie, dafür bleibt ja kaum Zeit, wenn man eine Zeitung wie den «Guardian» leitet. Da kann man parallel nicht Reporter sein. Und das wollte ich eigentlich – wieder vermehrt als Reporter arbeiten. Dann hat mir «Prospect» die Chefredaktoren-Stelle angeboten und ich habe zugesagt. So spielt es manchmal, das Leben.

«In den ersten neun oder zehn Jahren meiner journalistischen Laufbahn habe ich nie über eine Stelle als Redaktor nachgedacht.»

Hapig:

Man kann da durchaus einige Parallelen zu Ihren frühen Jahren beim «Guardian» erkennen: In einem Ihrer Bücher notieren Sie, dass Sie dort anfangs weder Redaktor, geschweige denn Chefredaktor werden wollten. Sie wollten «nur» Journalist sein.

Rusbridger:

Ja, ich bin dort direkt nach der Universität als einfacher Autor eingestiegen. Und das habe ich sechs Jahre lang mit Freude gemacht. Dann habe ich fast drei Jahre lang Kolumnen geschrieben. In den ersten neun oder zehn Jahren meiner journalistischen Laufbahn habe ich also nie über eine Stelle als Redaktor nachgedacht. Ich war überzeugt, da hätte man ein ziemlich langweiliges Leben (lacht). Redaktoren waren für mich Leute, die nie ihr Büro verlassen und nie das empfinden dürfen, was für mich die «Freude an aktueller Berichterstattung» ist. Aber dann wurde ich von meinem Vorgesetzten darum gebeten, selbst ein wenig zu redigieren und stellte fest, dass mir das ganz gut gefiel.


Hapig:

Welche Rolle spielten persönliche Ambitionen für Ihren Aufstieg innerhalb der «Guardian»-Hierarchie?

Rusbridger:

Das ist eine interessante Frage. Warum werden Menschen befördert? Meiner Meinung nach hat das seltener mit Ehrgeiz zu tun, als man landläufig vermutet. Ich glaube, die ehrgeizigsten Menschen sind manchmal dann jene, die am Ende doch keinen Erfolg haben, weil sie beinahe zu «hungrig» sind; weil sie zu energisch versuchen, andere aus dem Weg zu drängen. Ich glaube, es gibt wichtigere, aber immer noch weithin unterschätzte Aspekte – dass man nett zu den Leuten ist, mit denen man arbeitet; dass man nicht launisch oder überbordend pessimistisch agiert. Dass man bereit ist, sich einzubringen; dass man ein gutes Urteilsvermögen und einen ausgeprägten Sinn für Humor hat.

«Nach einer Reise durch die USA Anfang der 1990er-Jahre hatte ich das Gefühl, dass ich meine Kolleginnen und Kollegen wachrütteln muss.»

Hapig:

Wenn in Hollywood-Filmen grosse Medienunternehmen gezeigt werden, haben diese sehr oft einen exzentrischen, strengen Chefredaktor, der nur schreiend mit seinem Team kommuniziert. «Wir müssen das bis morgen früh gedruckt haben, sonst rollen hier Köpfe!»… Aber die Attribute, die Sie schildern, sind das genaue Gegenteil dieses Klischees.

Rusbridger:

Ich glaube, es gibt tatsächlich ein paar Zeitungen, die so funktionieren; es gibt solche Chefredaktoren durchaus auch heute noch. Das ist wohl auch eine Frage der Unternehmenskultur: Der «Guardian» wird, wie Sie vielleicht wissen, von einer Stiftung getragen; es gab also keine Eigentümerschaft, die Druck auf mich ausübte oder meine Freiheiten einschränkte. Das machte es mir wiederum einfacher, horizontale Strukturen zu etablieren…

Hapig:

…und, soweit ich das von aussen beurteilen kann, kontinuierlich auf Innovationen zu setzen: Unter Ihrer Führung wurde der «Guardian» eine der ersten Zeitungen in Europa, die eine konsequente Digitalisierungs-strategie verfolgte. Wie kam es dazu?

Rusbridger:

Ich habe in den früher 1990er Jahren eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten gemacht. Amerika war da bereits wesentlich «vernetzter» als Grossbritannien. Obwohl die Technologie noch in den Kinderschuhen steckte, konnte man bei Zeitungen wie der «Chicago Tribune» oder der «San Jose Mercury News» und in gewissem Masse auch bei der «New York Times» regelrecht in eine Glaskugel schauen. Beim «Guardian» hatten wir damals … einen Computer. Man musste kein Genie sein, um zu denken: «In zehn Jahren werde ich die ganze Zeitung mit Lichtgeschwindigkeit auf meinem Computerbildschirm empfangen, ohne jegliche Vertriebskosten. Und das wird nicht gut für das Medium Print sein.» Als ich wieder in England war, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Kolleginnen und Kollegen «wachrütteln» muss. Und das war der Beginn eines Prozesses, der sowohl aufregend als auch, ja, manchmal ein wenig beängstigend war.

Hapig:

Da Sie diese Dualität ansprechen: Fiel es Ihnen leicht, grundlegende Veränderungen in Ihrer Branche anzunehmen, oder wünschten Sie sich manchmal zurück in weniger aufreibende Zeiten?

Rusbridger:

Was ich sagen kann ist, dass ich wahrscheinlich zu jedem anderen Moment innerhalb der vergangenen dreihundert Jahren eine andere Art von Redaktor gewesen wäre als jener, zu dem diese Zeiten des Umbruchs mich machten. Niemand wusste ja, wie genau die Geschichte ausgeht – wie die Digitalisierung sich entwickeln; was bleiben und was vergehen würde. Hätte man da postuliert: «Ich bin der Messias. Folgt mir, ich werde euch in das gelobte Land führen», dann wäre man apriori zum Scheitern verurteilt gewesen. Vielmehr musste man verschiedene Gruppen von Menschen ins Boot holen – die, die voll und ganz hinter dem Projekt standen und die Notwendigkeit der Digitalisierung erkannten; jene, die bereit waren, sich von guten Argumenten überzeugen zu lassen … und dann noch die, die das alles für verrückt hielten (lacht).

«Meine Methode ist es immer gewesen, so viel wie möglich mit den Leuten zu sprechen, gerade in herausfordernden Situationen.»

Hapig:

Wie blieben Sie Skepsis und Widerspruch gegenüber offen? Mit zunehmender Verantwortung in einem Unternehmen oder einer Redaktion nimmt ja oft die Anzahl derer, die einen kritisieren, ab … ?

Rusbridger:

Ja, das macht ein so grosses Projekt wie die Implementierung einer Digitalstrategie noch komplexer. Man muss Menschen um sich herum haben, die weitestgehend mit einem d’accord sind, sonst bekommt man nichts zu Stande. Gleichzeitig muss man aber auch bereit sein, Gegenargumente zu hören. Es ist also eine Gratwanderung. Meine Methode ist es immer gewesen, so viel wie möglich mit den Leuten zu sprechen, gerade in herausfordernden Situationen. Man muss kontinuierlich erklären, was man tun will, warum man es tun will und bereit sein, von den Kolleginnen und Kollegen zu lernen.

Hapig:

«Lernen» ist ein gutes Stichwort: Journalisten auf der ganzen Welt haben von Ihnen und Ihren Kollegen gelernt; insbesondere, wenn es um investigativen Journalismus geht. Sie haben einen Pulitzer-Preis für die Veröffentlichung der NSA-Enthüllungen erhalten, Sie haben über WikiLeaks berichtet. Der «Guardian» geriet in den Fokus von Regierungen und Geheimdiensten, es gab Einschüchterungsversuche. Wie brachten Sie die Courage auf, immer weiterzumachen?

Rusbridger:

Nun, ich denke, darauf gibt es zwei Antworten. Die eine ist: Das ist unser Job.

Hapig:

Das ist eine charmante Betrachtungsweise, weil sie so nüchtern klingt.

Rusbridger:

Es gibt einen sehr vulgären britischen Ausdruck, der lautet: «Piss or get off the pot». Gibt es dafür eine Entsprechung in der Schweiz? Wenn Du nicht pinkeln willst, dann geh runter von der Toilette und lass jemand anderen drauf … (lacht). Wenn ich an die Menschen denke, die wirklich Risiken eingegangen sind – Reporter, die Monate, manchmal Jahre ihres Lebens an einer Geschichte arbeiteten, die sich in gefährliche Situationen begaben –, dann war meine Aufgabe, diese Stories auf zuverlässige Art und Weise in die Zeitung zu bringen, ein Klacks dagegen. Aber wenn einem das trotzdem Angst macht, dann sollten man nicht Chefredaktor werden. Die zweite Antwort ist, und das nimmt Bezug auf das, was ich vorhin gesagt habe: Wenn man ein wunderbares Team und eine Organisation hat, die ein bestimmtes Idealbild von Journalismus verteidigt, dann schöpft man daraus seine Kraft. Manchmal brauchten wir ausgezeichnete Technologen, die Dinge verschlüsselten und uns sagen konnten, wie wir uns im digitalen Raum verhalten sollen. Wir hatten fantastische Anwälte, die selbst sehr mutig und clever agiert haben. Manchmal ging es auch um PR: Als wir etwa die Snowden-Stories brachten und ich deshalb sogar vor dem Parlament aussagen musste, hatten wir Unterstützung in der Öffentlichkeitsarbeit. Alle Beteiligten halfen und stützten sich gegenseitig.

«Journalismus bedeutete drei Jahrhunderte lang, dass wir praktisch «senden» konnten, was wir wollten.»

Hapig:

Wir haben darüber gesprochen, wie sich der Journalismus, wie sich die redaktionelle Seite der Dinge verändert hat. Wie hat sich denn die Leserschaft in den vergangenen Jahren entwickelt?

Rusbridger:

Es scheint fast etwas platt, das heute zu sagen, aber vor zwanzig Jahren war das nicht unbedingt offensichtlich: Journalismus bedeutete drei Jahrhunderte lang, dass wir praktisch «senden» konnten, was wir wollten. Man publizierte ein- und dieselbe Nachricht für hunderte, tausende, Millionen von Menschen, und es gab keinen Möglichkeit für diese, darauf zu reagieren. Ausser vielleicht, der Redaktion einen Brief zu schreiben. Journalisten hatten also die totale Kontrolle. So sah die Welt noch aus, als ich 1995 die Leitung des «Guardian» übernahm. Heute gibt es vier Milliarden Menschen auf der Erde, die die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äussern, zu berichten oder das Gelesene in Frage zu stellen. Es war und ist, denke ich, das Schwierigste für Journalisten, diese Tatsache anzunehmen. Wir hatten das Spielfeld lange für uns allein. Und jetzt fordern die Leute uns heraus, beleidigen uns und sind unhöflich zu uns. Oder betätigen sich selbst als Reporter. Ich kann mir nichts vorstellen, das das Gefühl der Exklusivität, das Journalisten so lange Zeit hatten, stärker untergraben würde.

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Hapig:

Was ist Ihrer Meinung nach eine angemessene Reaktion?

Rusbridger:

Man kann auf verschiedene Arten reagieren. Einige Nachrichtenorganisationen haben sozusagen die Zugbrücke hochgezogen: «Wir wissen, dass die Leserschaft da draussen ist, aber wir wollen nichts von ihnen hören. Wir wissen nicht, wie wir eine Beziehung aufbauen sollen, also wollen wir diese Beziehung lieber gar nicht haben. Und wenn dieses oder jenes auf Twitter über uns gesagt wird, sind wir sind nicht interessiert.» Andere hingegen haben kein Problem damit, mit der Leserschaft zu interagieren und fördern sogar, dass man sie korrigiert. Die sagen dann beispielsweise: «Oh, Sie sind ein Gehirnchirurg. Sie wissen wahrscheinlich mehr über das Thema als unser Medizin-Korrespondent. Vielleicht möchten Sie ja einige unserer Artikel kritisch analysieren, ehe wir sie publizieren?»

«Ich habe den Eindruck, dass viele Themen nur noch vor dem Hintergrund einer extremen Polarisierung thematisiert werden.»

Hapig:

Glauben Sie denn, dass die Leserinnen und Leser Zeit für so etwas haben; dass ihnen überhaupt noch Zeit und die nötige Aufmerksamkeit für anspruchsvollen, tiefgründigen Journalismus bleiben?

Rusbridger:

Es mag wie eine weitere Plattitüde klingen, aber in der Tat hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mit der Erfindung von Smartphones und Tablets alles beschleunigt: Die Leute schalten morgens ihr Mobiltelefon ein und wollen den ganzen Tag über pointiert auf dem Laufenden gehalten werden. Der geistige Raum zum Nachdenken; die Zeit, in der man mit Menschen spricht, ein Buch liest oder recherchiert, ist viel weniger geworden. Das bedeutet aber auch, dass der Journalismus – zum Beispiel mit einem Monatsmagazin wie «Prospect» – die Chance hat, diesen Raum wieder zu öffnen. Darüber hinaus halte ich es für essentiell, dass wir dem Motto «escape the echo chamber» folgen. Ich habe den Eindruck, dass viele Themen nur noch vor dem Hintergrund einer extremen Polarisierung thematisiert werden. Aber Dinge sind nicht immer nur links oder rechts, nicht immer nur schwarz oder weiss. Es ist so wichtig, dass die Menschen zwei Seiten einer Frage kennen, drei Seiten einer Frage. In Grossbritannien gibt es zum Beispiel die wichtige Diskussion über die Rechte von Trans-Personen, die sich zunehmend als unmöglich erweist, weil die Argumente von beiden Seiten derart mit Wut und Frustration aufgeladen sind. In meiner ersten Ausgabe von «Prospect» sprechen daher Vertreter zweier unterschiedlicher Positionen über das Thema; wir stellen gegenläufige Thesen nebeneinander. In der Hoffnung, dass sich so ein ruhiger, reflektierter Dialog ergibt.

Hapig:

Eine grosse Aufgabe.

Rusbridger:

Nun, in dem Essay, den ich für die erste Ausgabe des Magazins geschrieben habe, sage ich der Leserschaft: «Wir werden Ihnen nie diktieren, was Sie wählen oder denken sollen.» Aber wir werden den Menschen Optionen geben. Ich empfinde es als grosse Befreiung, dass ich mich nicht für eine Seite entscheiden muss. Und der Sinn des Magazins ist nicht, die eine oder andere Seite des politischen Spektrums zu unterstützen. Ich kann mir gut vorstellen, viele Dinge zu veröffentlichen, bei denen ich persönlich mich unwohl fühle oder mit denen ich nicht einverstanden bin – denn das spielt keine Rolle! Und das ist ungeheuer spannend, weil es bedeutet, dass wir Ideen folgen können, mit denen wir uns selbst ebenso wie unsere Leserschaft herausfordern.

Hapig:

Zum Abschluss möchte ich Sie noch etwas fragen, das Ihr Buch «Play It Again» betrifft. Dort schreiben Sie darüber, wie Sie ein hoch komplexes Chopin-Stück lernten, um sich vom Stress des Berufsalltags zu erholen. Welche Rolle spielt die Musik in Ihrem Leben?

Rusbridger:

Viele Berufe können zu einer Art der Besessenheit führen; das ganze Leben beherrschen. Und ich denke, das gilt ganz besonders für den Journalismus, denn – naja, Nachrichten gibt es immer. Die Tatsache, dass man Feierabend macht und ins Bett geht hält die Nachrichten nicht davon ab, zu «erscheinen». Man muss also etwas finden, das einem hilft, von Zeit zu Zeit zu «entkommen». Ich lese den ganzen Tag im Büro, deswegen fällt es mir schwer, damit zu entspannen. Meine zwanzig Minuten Musik am Tag helfen mir viel besser, bei klarem Verstand zu bleiben (lacht). Als ich «Play It Again» schrieb, sprach ich mit einer Reihe von Neurowissenschaftlern und bat sie um eine wissenschaftliche Einschätzung: Sie sagten mir, simpel gesprochen, dass man beim Musizieren einfach einen anderen Teil des Gehirns benutzt, und dass das gut ist. In diesen zwanzig Minuten ruht sich der Teil des Gehirns aus, der sonst zwanghaft über Nachrichten nachdenken würde. Ich kann es nicht vollständig beweisen, aber es scheint sehr hilfreich zu sein, um ein Gleichgewicht zu finden.

Hapig:

Da bekomme ich direkt Lust, das auch zu versuchen. Ich habe früher einmal Gitarre gespielt, das aber irgendwann sein gelassen.

Rusbridger:

Ja. Versuchen Sie es noch einmal. Oder, wie es im Buch heisst: «Play It Again».

Das Gespräch führte der Autor am 10. Dezember 2021 via Zoom. Es ist zuerst in der Ausgabe 1-2/2022 von «m&k – Das Magazin für Marketing und Kommunikation» erschienen. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, das Interview auch in der MEDIENWOCHE veröffentlichen zu dürfen.

Bild: Keystone