Fallschirmjournalismus im freien Fall
Im Ukraine-Krieg begeben sich auch Journalist*innen ohne ausreichende Vorkenntnisse und Kontakte in das Krisengebiet. Das ist für die Betroffenen gefährlich und führt zu oberflächlicher Berichterstattung. Die Einordnung und Analyse von Social-Media-Quellen direkt aus dem Kriegsgebiet schaffen einen grösseren publizistischen Mehrwert als dies der sogenannte Fallschirmjournalismus je leisten könnte.
Treffen sich zwei Journalisten in Bosnien. «Seit wann bist du hier?» «Seit gestern.» «Und wann fährst du wieder?» «Morgen.» «Und woran arbeitest du?» «An einem Artikel: ‹Bosnien – gestern, heute und morgen.›» Dieser alte Witz macht sich über die Praxis des sogenannten «Fallschirmjournalismus» lustig: Journalist*innen, die ohne Vorkenntnisse und ohne Kontakte in eine Krisenregion reisen, um ad hoc über das Geschehen vor Ort zu berichten. Das Ergebnis ist in journalistischer Hinsicht oft dünn und kratzt maximal an der Oberfläche der Konfliktsituation, anstatt diese fundiert zu erklären und einzuordnen.
Fallschirmjournalismus gewann in den vergangenen rund 20 Jahren im Zuge des Strukturwandels der Medien weltweit an Bedeutung.
Auch im Ukraine-Krieg spielt Fallschirmjournalismus eine Rolle. Journalist*innen mit und ohne Redaktion im Rücken wagen den gefährlichen Weg ins ukrainische Kriegsgebiet, um Eindrücke zu sammeln und über ihre Erfahrungen zu berichten. Ein Phänomen, das auch Clara Marchaud, Ukraine-Korrespondentin unter anderem für «Le Figaro» und «Tribune de Genève», beobachtet. Auf Twitter schrieb sie kürzlich: «Viele junge Journalisten/Fotografen ohne Ausrüstung, ohne Ausbildung für feindliches Terrain, manchmal ohne Redaktion, aber auch ohne jegliche Kenntnis der Region kontaktieren mich, um in die Ukraine, nach Kiew oder Odessa zu kommen.» Sie antworte jeweils, das komme einem Selbstmord gleich, einfach so da hinzugehen, schreibt Marchaud weiter.
Fallschirmjournalismus gewann in den vergangenen rund 20 Jahren im Zuge des Strukturwandels der Medien weltweit an Bedeutung. Medienhäuser dünnen ihr Netzwerk an Korrespondent*innen immer stärker aus, und als Ersatz schicken sie Journalist*innen ad hoc und für vergleichsweise kurze Dauer in Kriegs- und Krisengebiete. Die betroffenen Journalist*innen sind dabei der sprichwörtliche Fisch auf dem Trockenen: Sie kennen die Region kaum, sie können sich oft nicht in der lokalen Sprache verständigen, sie haben keine oder nur wenige lokale Kontakte. Die Folgen sind wenig tiefgründige Berichterstattung, eine übermässige Abhängigkeit von lokalen «Fixern», die gegen Bezahlung Kontakte herstellen, sowie pseudo-journalistische Praktiken wie «eingebetteter Journalismus», bei dem Journalist*innen im Tausch gegen Zugang und Exklusivität Propaganda für eine der Konfliktparteien machen.
«Es ist für mich auch wirklich schwierig, die Lage zu beurteilen in der ganzen Stadt. […] Das ist immer ein Ausschnitt, den ich sehe.»
Kurt Pelda, Reporter Weltwoche
Der Fallschirmjournalismus trägt auch im Ukraine-Krieg seltsame Blüten. Der Journalist und erfahrene Kriegsreporter Kurt Pelda ist für die «Weltwoche» in die Ukraine gereist. In seiner langen Berufskarriere hatte Pelda noch nie substanziell über die Ukraine berichtet. Seine bisherige Berichterstattung aus der Ukraine hat etwa die Form eines Reiseberichts oder eines Video-Erlebnisberichts in Youtuber-Manier. Peldas übergeordnete Analysen zum Geschehen schaffen zwar ein vollständigeres Bild, aber es sind Überlegungen, wie man sie von der Schweiz aus anstellen kann. In der Diskussionssendung «TalkTäglich» erklärte der aus Kiew zugeschaltete Pelda gleich selbst die Grenzen seiner Arbeit vor Ort: «Es ist für mich auch wirklich schwierig, die Lage zu beurteilen in der ganzen Stadt. […] Das ist immer ein Ausschnitt, den ich sehe.»
Für die Online-Newsseite «Watson» reisten die Journalist*innen Lea Bloch und Dennis Frasch in die Ukraine. Auch ihre Bemühungen mündeten in einem Reisebericht und in einem Video, in dem sie mit einer Handvoll ukrainischer Geflüchteter sprechen. (Das Video ist mit eigentümlich kitschiger Musik untermalt; als ob das Leid der ukrainischen Kriegsopfer nicht offensichtlich und gross genug wäre.)
Der freischaffende Journalist und Fotograf Guillaume Briquet entging in der Ukraine knapp dem Tod, nachdem er von russischen Soldaten beschossen wurde. Briquet begab sich offenbar alleine aus der Schweiz mit einem olivgrünen Offroader in die Ukraine; ein Auto, das nachts und aus der Ferne mit einem Militärfahrzeug verwechselt werden kann. Seine einzige «Sicherheitsmassnahme» waren «Presse»-Hinweise in seinem Auto.
Wir brauchen keine ortsunkundigen Journalist*innen, die ihre subjektiven Erfahrungen und Eindrücke kundtun.
Im Ukraine-Krieg zeigt sich, dass Fallschirmjournalismus in mindestens zweifacher Hinsicht obsolet geworden ist. Zum einen gibt es das, was Fallschirmjournalismus leistet – ad hoc-Beobachtungen und -Berichte vor Ort – in Zeiten von Social Media zur Genüge. Wir brauchen keine ortsunkundigen Journalist*innen, die ihre subjektiven Erfahrungen und Eindrücke kundtun, denn dies tun die direkt Betroffenen heute selbst, und zwar schneller und direkter.
Zum anderen ist der journalistische Mehrwert des Fallschirmjournalismus gering. Der Ukraine-Krieg ist durch eine besondere Form des «Nebels des Krieges» geprägt. Es herrscht grosse Ungewissheit, aber nicht, weil wir zu wenig Informationen haben. Wir befinden uns stattdessen in einem regelrechten Informationchaos. Auf Social Media hagelt es Informationen, Bilder und Videos im Sekundentakt, und es ist angesichts all dieser Bäume sehr schwierig, den Wald als Ganzes zu sehen. Fallschirmjournalismus lichtet diesen Nebel nicht, sondern verdichtet ihn mit noch mehr subjektiven Erfahrungsberichten und Anekdoten. Und tut damit im Grunde das Gegenteil dessen, was Journalismus eigentlich will.
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Das bedeutet nicht, dass wir in Krisenzeiten und -situationen auf Journalismus verzichten sollen. Im Gegenteil: In chaotischen Situationen ist Journalismus genau die Informations-Rückversicherung, die uns als Gesellschaft ermöglicht, den Überblick zu behalten und im Sog von Gerüchten, Halbwahrheiten und Desinformation nicht unterzugehen. Wir brauchen mehr handwerklich sorgfältigen und medienethisch bedachte journalistischen Arbeit, und stattdessen weniger journalistische Hauruckübungen à la Fallschirmjournalismus. Sorgfältiger und hochwertiger Journalismus kann auch aus der Distanz stattfinden. Bei «SRF» analysieren die langjährigen Russland-Korrespondent*innen Luzia Tschirky und David Nauer regelmässig das Kriegsgeschehen. Die britische BBC veröffentlicht regelmässig zusammenfassende Analysen, die etwa über Visualisierungen die aktuellen Entwicklungen zusammenfassen und erklären. Der deutsch-französische Sender «Arte» produziert Sendungen, die mit historischen Kontextualisierungen helfen, den Krieg besser zu verstehen (und die Desinformationn des Kreml zu entkräften).
Fachkundige Analysen und Einordnungen sind aber auch aus der Distanz möglich.
Damit Journalismus dieser Rolle des gesellschaftlichen Leuchtturms in Krisenzeiten gerecht werden kann, braucht er ausreichend Ressourcen, über die er mancherorts heute nicht mehr verfügt. Der Königsweg, um tiefgründige Informationen aus anderen Teilen der Welt zu vermitteln, ist ein breites Netz an Korrespondent*innen. Fachkundige Analysen und Einordnungen sind aber auch aus der Distanz möglich – unter der Bedingung, dass es fachkundige Journalist*innen gibt, die mit den jeweiligen Regionen vertraut sind. Medienschaffende, die ohne Vorkenntnisse spontan in Krisenregionen reisen und dabei vielleicht den persönlichen Kick suchen, braucht es in Zeiten der Social-Media-Reizüberflutung nicht mehr.
Bild: Adobe Stock
Peter Sennhauser 11. März 2022, 10:08
Danke für den Beitrag. » Das Video ist mit eigentümlich kitschiger Musik untermalt; als ob das Leid der ukrainischen Kriegsopfer nicht offensichtlich und gross genug wäre.«
Das wäre auch mal Anlass für Euch, SRF-News unter die Lupe zu nehmen. Mir fällt da immer häufiger Musikalische Untermalung von Berichten auf, was ich vollständig deplaziert finde. Und ich rede nicht von der Rundschau oder Kassensturz mit dramatisierten Recherchen, sondern von der Tagesschau.
Andreas Müller 11. März 2022, 10:16
Es muss beides geben: Analyse aus der Ferne und Vor-Ort-Berichterstattung. Die erwähnte BBC hat selbstverständlich Leute vor Ort, CNN oder die NYT ebenfalls. Das ist nicht zuletzt fürs Fact Checking essenziell. Hätten diese Medien keine eigenen Journalisten vor Ort, müssten wir uns auf Social Media verlassen. Das reicht nicht aus, zumal das Framing dort offensichtlich ist. Es ist dem zweifellos gut gemachten Programm von SRF deutlich anzusehen, dass das Vor-Ort-Element fehlt. Natürlich kennen auch die CNN-Journalisten vor Ort die Ukraine nicht in- und auswendig. Das halte ich nicht für problematisch. Wichtiger ist in diesem Moment, dass sie wissen, wie man sich in einem Kriegsgebiet bewegt. Diese Journalisten berichten über den Krieg in der Ukraine, nicht über die Geschichte des Landes. Das braucht ein ganz anderes Skill-Set, und es ist sinnvoller, wenn diese Aufgabe Journalisten übernehmen, die primär Erfahrung in Kriegsgebieten haben.
Oliver Brunner 11. März 2022, 12:54
Eigentümlicher Artikel der viele Gemeinsamkeiten hat mit gewissen Putin-Troll-Accounts. Tenor: Das Leiden gibt es so nicht, es ist aufgebauscht. Ich bin um Beispiel froh, über die Berichte von Kurt Pelda aus der Ukraine. Der Mann weiss wovon er schreibt. War schon an genug Kriegschauplätzen und übernimmt keine offiziellen Meldungen… Klar können Journalisten nicht schon zehn Jahre vor dem Konflikt im Land sein und sich mit Folklore und Brauchtum vertraut machen. Sehr schräger Autor.
Lorenz K. 11. März 2022, 14:53
Selten einen solch überheblichen Quatsch aus der Schweizer Stube gelesen.