Journalismus in der Ukraine: «Unsere Medien sind sehr patriotisch geworden»
Die Bevölkerung in der Ukraine sucht seriöse Nachrichtenquellen, findet sie aber in den einheimischen Medien nur noch bedingt. Lina Kuschtsch ist erste Sekretärin des nationalen Journalistenverbands der Ukraine (NUJU) und Mitglied der Kommission für journalistische Ethik des Landes. Der MEDIENWOCHE gibt sie einen Einblick in die aktuelle Lage von Medien und Journalismus seit Kriegsausbruch.
MEDIENWOCHE:
Wie hat sich die Arbeit der ukrainischen Journalist:innen mit dem Krieg verändert?
Lina Kuschtsch:
Einerseits ist die physische sowie psychische Belastung sehr hoch. Rund 2000 Journalist:innen sind geflohen – 85 Prozent innerhalb des Landes, 15 Prozent ins Ausland. Andererseits stehen die Journalist:innen, die hier geblieben sind, auch finanziell unter Druck. Da Werbeeinnahmen weggebrochen sind, musste die Hälfte der Verlage die Löhne ihrer Angestellten kürzen, während gleichzeitig die Arbeitslast stieg. Die Werbeeinnahmen sind im Mai und Juni um bis zu 70 Prozent eingebrochen. Nicht nur für Zeitungen, für alle Medienarten. Ein Viertel der ukrainischen Journalist:innen hat während drei Monaten gänzlich ohne Lohn gearbeitet. Wer als Medium keinem Oligarchen gehört, hat grosse finanzielle Probleme – wir haben viele kleine Lokalmedien verloren, insbesondere in den Kampfzonen und besetzten Gebieten. Wenn man in Kampfzonen keine Zeitungen drucken oder ausliefern kann, weigern sich viele Leser:innen natürlich, die Zeitung weiterhin zu abonnieren.
MEDIENWOCHE:
Wie sieht die ukrainische Medienlandschaft aktuell aus?
Kuschtsch:
Die Ukraine hat mehrheitlich staatsunabhängige Medien. Fast alle Zeitungen, die früher dem Staat gehörten, wurden vor drei Jahren unabhängig. Jetzt gibt es nur noch zwei staatliche Zeitungen, von Parlament und Regierung. So auch bei den Fernsehsendern. Was speziell ist in der Ukraine: Viele Fernsehsender gehören Oligarchen. Im Grunde haben wir zu viele Fernsehsender; mehr, als es auf dem Markt Platz hat. Es gibt nicht genügend Werbung, damit diese Sender unabhängig sein könnten. Es liegt aber im Interesse vieler Oligarchen, einen eigenen Sender zu haben – weil er als politisches Instrument gebraucht wird, gut für die Wahlen ist und Vorteile für das eigene Geschäft schafft.
MEDIENWOCHE:
Wie haben diese Fernsehsender auf den Krieg reagiert?
Kuschtsch:
Einige, die vorher keine politischen Nachrichten machten, begannen mit der Berichterstattung über den Krieg. Andere haben ihre Aktivitäten temporär eingestellt. Gemäss der Umfrage unseres Verbands haben seit Kriegsbeginn 30 Prozent der Medien die Aktivität während ein bis drei Monaten unterbrochen. Rund 10 Prozent hat die Arbeit seither noch nicht wieder aufgenommen. Interessant ist auch: Mit dem Ausbruch des Kriegs haben mehrere grosse Fernsehsender ihre Ressourcen zusammengelegt und das Projekt «United News» lanciert – eine Art Fernsehmarathon, für den verschiedene Sender Newsbeiträge liefern. Gerade in den ersten zwei Monaten des Kriegs war das wichtig, denn so konnten die Menschen Berichte und Geschichten auch aus anderen Regionen des Landes sehen. Es war sehr dynamisch.
MEDIENWOCHE:
Und wie sieht es bei der Presse aus?
Kuschtsch:
Es gibt eine sehr grosse Nachfrage nach verifizierten, sicheren Informationen. Ein kleines Online-Medium hatte auf einmal eine 20 Mal grössere Leserschaft. Das war sehr ungewöhnlich. Die Leute suchen seriöse Nachrichtenquellen, sie wollen mehr als nur Infos über Messenger oder Telegram. Doch die Situation ist trotzdem sehr schwierig.
«Es besteht die Gefahr, dass die Medien weniger objektiv berichten, sondern das erzählen, was die Leserschaft hören will.»
MEDIENWOCHE:
Welchen Einfluss hat der Krieg auf die Berichterstattung? Berichten die Medien unabhängig oder fühlen sie sich verpflichtet, die Regierung zu unterstützen?
Kuschtsch:
Ich habe festgestellt, dass unsere Medien sehr patriotisch geworden sind. Das hängt vielleicht auch mit der Nachfrage des Publikums zusammen. Man muss sich vorstellen: Die Leute konsultieren die Nachrichten Tag und Nacht. Sie suchen auch Hoffnung. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Medien weniger objektiv berichten, sondern das erzählen, was die Leserschaft hören will – über Gebietsgewinne, die vermeintliche Stärke der ukrainischen Armee und sonstige positive Nachrichten.
MEDIENWOCHE:
Worüber berichten die Medien aus Sicherheitsgründen nicht?
Kuschtsch:
Das Verteidigungsministerium hat Regeln für Journalist:innen erlassen darüber, welche Informationen geteilt werden dürfen und welche unter Kriegsgeheimnis stehen. Wer diese Regeln bricht, dem wird die Akkreditierung entzogen. Menschenrechte – inklusive der Meinungsfreiheit – werden während eines Kriegs manchmal limitiert. Aber diese Limitierung sollte zeitlich begrenzt sein und zudem sollten Informationen von den Behörden und der Armee für alle Journalist:innen und alle Medien verfügbar sein. Unsere Gewerkschaft hat jedoch Beanstandungen erhalten, dass lokale Behörden oder Armeeangestellte die einzelnen Medien unterschiedlich behandelt haben. Einige erhalten Zutritt zu Kampfzonen, andere nicht. Das geht so nicht!
«Leider verhalten sich auch Menschen aus der Bevölkerung den Medienschaffenden gegenüber teilweise sehr aggressiv.»
MEDIENWOCHE:
Gibt es politischen Druck auf die Medien?
Kuschtsch:
Es gab einige Politiker, die sich negativ gegenüber Journalist:innen geäussert haben. Ein Mitglied des Parlaments wollte sogar, dass man einen Journalisten überprüfe, ob er nicht ein Spion sei. Wer politische Macht hat, darf sich nicht zu solchen Aussagen hinreissen lassen und auf Social Media Journalist:innen einschüchtern oder diskreditieren. Auch, wenn Angst besteht, dass die Feinde Informationen erfahren könnten – etwa, wo sich Zivilisten verstecken und wo sich viele Menschen versammeln. Natürlich sind solche Informationen heikel. Aber sie sind auch wichtig für die Bevölkerung. Zudem können Journalist:innen über einen Krieg nicht einfach aufgrund von offiziellen Mitteilungen der Regierung berichten – sie müssen vor Ort sein und zeigen, was los ist. Und sie müssen die Stimme den gewöhnlichen Bürger:innen geben. Leider verhalten sich auch Menschen aus der Bevölkerung den Medienschaffenden gegenüber teilweise sehr aggressiv, insbesondere TV- und Fotojournalist:innen. Die Angst ist gross.
MEDIENWOCHE:
Führt dies zu Selbstzensur?
Kuschtsch:
Wenn ich vergleiche, wie ausländische und wie ukrainische Journalist:innen arbeiten, dann stelle ich fest, dass die Ukrainischen mehr Selbstzensur anwenden. Als Mitglied der Kommission für journalistische Ethik beurteile ich viele Anfragen. So wollten etwa Lokaljournalist:innen einen Bericht über ein Geburtsspital machen. Für das Publikum ist es wichtig zu wissen, dass das Spital über einen guten Bunker verfügt mit genügend Wasser, Elektrizität etc. – aber die Journalist:innen waren unsicher, ob sie diese Informationen teilen durften, nachdem ja tragischerweise die Geburtsklinik in Mariupol bombardiert worden war. Wir haben den Journalist:innen aber geraten, darüber zu berichten – es sind wichtige Informationen für die Bevölkerung. Ein anderes Beispiel sind Aufnahmen von Panzersperren in den Strassen von Kiew, die im März von einem Online-Medium publiziert und von zahlreichen internationalen Medien aufgegriffen wurden. Das Bild der grossen Betonklötze mitten im Stadtzentrum war sehr attraktiv. Doch das ukrainische Medium wurde danach bedroht, viele Leser:innen schrieben empört, man dürfe diese Informationen aus Sicherheitsgründen nicht publizieren. Gemäss den Regeln des Verteidigungsministers ist es aber in Ordnung – nur Aufnahmen versteckter Panzersperren dürften nicht verbreitet werden. Doch Journalist:innen spüren diesen Druck von der Bevölkerung, und er hat Einfluss auf ihre Arbeit.
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MEDIENWOCHE:
Wie sieht es mit Kritik an den Behörden oder an Präsident Selenskyj aus, ist das möglich?
Kuschtsch:
Am Anfang zeigten Medien keine Gesetzesverletzungen oder Fehlverhalten des ukrainischen Militärs. Jetzt sieht man immer mehr Kritik – vor allem aber von Medien der Opposition. Auch gegen Selenskyj kann man kritische Stimmen lesen. Es handelt sich aber in der Regel um Zitate von Oppositionspolitikern oder von Meinungsmachern, die gegen Selenskyj sind. Kritische journalistische Analysen habe ich in jüngster Zeit keine gesehen.
«Social Media ist eine wichtige Quelle für Informationen geworden.»
MEDIENWOCHE:
Werden Medien für ukrainische Propaganda eingespannt?
Kuschtsch:
Viele Medien verwenden tatsächlich offizielle Quellen und Mitteilungen – und nur diese. Viele Journalist:innen hinterfragen diese nicht, verifizieren sie auch nicht und suchen nicht nach einer anderen Sichtweise. Ich will damit nicht sagen, dass man für die Gegenseite die russischen Vertreter interviewen muss. Aber wir müssen als Journalist:innen den gewöhnlichen Leuten eine Stimme geben. Wenn zum Beispiel intern Vertriebene Hilfe von humanitären Organisationen erhalten, sollten Medien nicht nur die Vertreter der NGO und der lokalen Regierung interviewen, sondern auch die Geflüchteten selber. Vielleicht hat das weniger mit Propaganda als mit fehlenden Skills der Journalist:innen zu tun.
MEDIENWOCHE:
Was ist die Rolle von Social Media?
Kuschtsch:
Social Media ist eine wichtige Quelle für Informationen geworden. In der Ukraine ist Social Media – insbesondere Facebook – allerdings sehr polarisiert und sehr Pro-Westen. Tiktok hat seine Reichweite ebenfalls vergrössert – es wird nicht nur von Teenagern benutzt. Telegram wurde zu einer der Hauptinformationsquellen des Krieges, dort finden lokale Gemeinschaften als erstes praktische Informationen. Auch wurden neue Channels kreiert mit Infos über den Krieg, das ist sehr nützlich.
MEDIENWOCHE:
Gelten auf solchen Plattformen die gleichen Regeln wie für die Medien?
Kuschtsch:
Nein. Viele Informationen sind nicht verifiziert, werden sogar nach einer halben Stunde wieder gelöscht, damit niemand sieht, wer sie gepostet hat. Wir sehen, wie russische Propaganda über Telegram und Tiktok verbreitet wird. Sie kann den Krieg nicht direkt beeinflussen, aber sie teilt Informationen oder Narrative, die die ukrainische Bevölkerung stark spalten. Russische Propaganda publiziert möglichst viele Versionen einer Tatsache, um Zweifel zu streuen.
«Bei diesem Krieg haben die Ukrainer:innen aber von Anfang an darauf geachtet, Informationen auch in anderen Sprachen zu publizieren.»
MEDIENWOCHE:
Was denken Sie über die europäische Berichterstattung über den Ukraine-Krieg?
Kuschtsch:
Dies ist der erste Krieg Europas, über den online berichtet wird. Ich stelle ein erhöhtes Interesse an der Ukraine fest. Das Verteidigungsministerium hat seit Kriegsbeginn bereits 4000 ausländische Medienschaffende für die Arbeit im Land akkreditiert. Auch stelle ich fest, dass diese Medienschaffenden ukrainische Quellen für ihre Arbeit brauchen. Bis 2014 verwendeten viele ausländische Medien, die über die Ukraine berichteten, russische Quellen wie «Russia Today» oder «Sputnik», da diese Informationen in 30 oder 40 Sprachen publizierten. Die Ukraine hatte keine Nachrichtenplattform in anderen Sprachen. Bei diesem Krieg haben die Ukrainer:innen aber von Anfang an darauf geachtet, Informationen auch in anderen Sprachen zu publizieren. Das hilft ausländischen Journalist:innen sehr. Jetzt haben sie zum ersten Mal einen unabhängigen Blick auf die Ukraine, da sie auch ukrainische Quellen und nicht nur russische verwenden können. Es besteht aber noch Verbesserungspotential.
MEDIENWOCHE:
Wo denn?
Kuschtsch:
Ukrainer:innen sind sehr sensibel, wenn es um das Wording geht, das ausländische Medien anwenden. Natürlich ist es wichtig, dass ausländische Nachrichtenagenturen Informationen aus den besetzten Gebieten veröffentlichen. Nur können ukrainische Journalist:innen nicht von dort berichten, weshalb wir verstehen, dass man auf die Informationen russischer Journalist:innen vor Ort zurückgreift. Aber man muss darauf achten, nicht ihre Sprache zu übernehmen. Also nicht von pro-russischen Regionen zu sprechen, sondern von russisch besetzten Regionen. Es ist jedoch durchaus wichtig, das Filmmaterial von dort zu verwenden – so konnten Menschen zum Beispiel vermisst geltende Familienmitglieder entdecken und auch Kriegsverbrechen wurden festhalten.
Bild: Eva Hirschi