Wie man sich doch irren kann
Mit ihrer aktuellen Ausgabe feiert die «NZZ am Sonntag» den 10. Geburtstag. Das Blatt ist aus der sonntäglichen Papiersammlung nicht mehr wegzudenken. Damit straft es jene Stimmen Lügen, die der Neugründung keinen Kredit gaben. Auch sonst hat sich nicht alles so entwickelt, wie 2002 prognostiziert.
Was sind schon zehn Jahre, gemessen an einer über 230-jährigen Unternehmensgeschichte? Nicht viel, eine vergleichsweise kurze Episode. Aber: Wie lange dauerte die Zeit von 2002 bis 2012? Wirklich nur zehn Jahre? Oder nicht doch eher 70, weil das Mediengeschäft im anbrechenden 21. Jahrhundert mit Internetjahren gezählt werden muss, die – wie Hundejahre – siebenfach zählen.
Ob subjektiv wahrgenommen, also «gefühlt», oder nach der modernen Medienzeitrechnung: Lange ist es her, seit erstmals eine NZZ am Sonntag im Briefkasten lag. So lange, dass allerlei Prognosen, Ankündigungen und Absichtsklärungen zum Start der neuen Zeitung längst vergessen sind und sich zum runden Geburtstag auch niemand daran erinnern mag; verständlich auch, denn viele lagen daneben oder sind längst widerlegt.
So auch der frühere Medienprofessor Roger Blum. Gemäss seiner Vorhersage müsste die «NZZ am Sonntag» bereits wieder Geschichte sein. Mit professoraler Autorität und an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit sah Prof. Dr. Blum in der angekündigten Neugründung ein mehr als gewagtes Unterfangen:
«Die ‚NZZ am Sonntag‘ wird es sehr schwer haben, überhaupt irgendwo Leser zu holen. Und es ist fraglich, ob es gelingen wird, mit diesem Produkt viel neue Leser zu erreichen. Die NZZ-Abonnenten hatten schon bisher am Samstag eine dicke Zeitung. Ich weiss noch nicht, ob die bereit sind, am Sonntag nochmals so viel zu lesen.» (Neue Luzerner Zeitung, 11.9.2001)
Doch es kam bekanntlich – und für die Zeitung erfreulicherweise – anders. Die «NZZ am Sonntag» hat ihr Publikum gefunden. Etwas zurückhaltender, aber nicht minder skeptisch drückte sich auch ein anderer Professor aus. Nur wenige Tage vor dem Start gab der St. Galler Ökonomen Franz Jäger der neuen Sonntagszeitung kaum Kredit:
«Angesichts der hohen Marktsättigung halte ich die ‚NZZ am Sonntag‘ für ein sehr mutiges Projekt.» (Facts, 14.3.2001)
Während die professoralen Prognosen als Beispiele für die geringe Halbwertszeit von Expertenaussagen dienen, darf man den damaligen Aussagen von Felix E. Müller durchaus grösseres Gewicht beimessen. Schliesslich hat er die Zeitung mitentwickelt und amtet seit ihrer Gründung als Redaktionsleiter, respektive Chefredaktor.
Vor zehn Jahren, in den Monaten vor dem Start, formulierte Müller mehrfach das Credo, wonach er die «Jagd auf Primeurs» kategorisch ablehne und sich so von der künftigen Konkurrenz, den beiden bestehenden Titeln Sonntagsblick und Sonntagszeitung unterscheiden wolle:
«Zur Jagd auf Primeurs wird bei uns aber gewiss nicht geblasen. Denn unser Ziel ist es nicht, die Konkurrenz in ihrem angestammten Revier zu übertrumpfen, sondern eine seriöse und zugleich unterhaltsame Alternative zum marktüblichen Sensations- und Häppchenjournalismus zu bieten.» (Werbewoche 18.10.2001)
«Es wird keine Enthüllungen um der Enthüllung willen geben. Wer sich auf dieses Rennen einlässt, der muss zuspitzen und sehr rasch Abstriche bei den Qualitätsansprüchen machen.» (Der Bund, 18.12.2001)
Der hehre Anspruch musste längst der banalen Realität des Nachrichtengeschäfts weichen: Auch die «NZZ am Sonntag» bläst zur sonntäglichen Primeurjagd, auch die «NZZ am Sonntag» spitzt zu und muss als Folge davon jene «Abstriche bei den Qualitätsansprüchen» hinnehmen, vor denen der designierte Redaktionsleiter einst gewarnt hatte. Mit den Fällen Matter und Turina hat die «NZZ am Sonntag» mehr als nur einen Schuh voll rausgezogen und eben gerade nicht nach jenen Qualitätsmaximen gehandelt, die der Chef einst dem Blatt ins Stammbuch geschrieben hatte.
Das offensichtliche Auseinanderklaffen zwischen (einstigem?) Anspruch und Wirklichkeit wird weder in der Geburtstagsbeilage der «NZZ am Sonntag» noch in den Medienberichten zum Zehnjährigen angemessen thematisiert. Man umschifft das Thema mehr oder weniger elegant oder weicht ihm ganz aus. Am augenfälligsten tut dies Chefredaktor Felix E. Müller im Interview mit dem Branchendienst persoenlich.com. Auf die Frage nach dem grössten Erfolg und dem grössten Flop beantwortet er den ersten Teil ausführlich und sagt zum grössten Flop nur soviel: «Natürlich kann man eine Zeitung immer noch besser machen.»
Klar, ein Geburtstag will gebührend gefeiert werden und die Festlaune lässt man sich nicht gern trüben. Aber wann, wenn nicht in solchen Momenten bietet sich die Möglichkeit, auch die eigenen Schattenseiten zu beleuchten? Der Glaubwürdigkeit wäre ein selbstkritischerer Blick auf die ersten zehn Jahre sicher nicht abträglich gewesen.
Fred David 20. März 2012, 15:27
Stimmt, aber Chefredaktoren müssen sich nicht selbst kritisieren. Von den zitierten Branchendiensten darf man jedoch erwarten, dass sie nicht auch noch ihre letzten Zähnchen dem Skorbut überlassen. Zahnpflege ist eine Frage der inneren Hygiene. Viele Medien in der Schweiz sind ein Fall fürs Dentallabor: mangelnde Bissfestigkeit. Kukident-Medien.