Wo man den Esel über den Äther bestellt
Das Radio als Kommunikationsapparat: Der Sender Aclo Potosí in Bolivien ist Nachrichtenkanal, Telefonersatz und Schule für die Landbevölkerung zugleich. Zu Besuch bei einem Medium mit einer Mission im ärmsten Land Südamerikas.
Das Gebäude von Radio Aclo Potosí ist unscheinbar. Nur ein einfaches Schild an der Fassade lässt erkennen, dass hier ein Sender zuhause ist. Durch die Tür betritt man einen kleinen Raum mit Schalter. Dahinter sitzt eine Frau mit farbigen Kleidern und Hut – den typischen Kleidern der Indigenas. Immer wieder kommen Leute, unterhalten sich kurz mit ihr, reichen ein paar Münzen unter der Glastrennscheibe hindurch und verschwinden wieder. Die Besucher stammen hauptsächlich aus der indigenen Landbevölkerung.
Radio als Telefonersatz
Wie sich herausstellen wird, nehmen diese eine der wichtigsten Dienstleistung des Radios in Anspruch: Die Möglichkeit, Botschaften, Hinweise und Grüsse an Familien und Bekannte auf dem Land zu schicken. Jeden Tag um 18 Uhr liest der Moderator die gesammelten Mitteilungen dann im Studio vor – eine soziale Funktion, die das Radio in unseren Breitengraden längst verloren hat.
Wie der für das Radio verantwortliche Grover Alejandro Pillco erklärt, sind diese Botschaften für die Landbevölkerung ein Ersatz fürs Telefon. Die Durchsagen kosten umgerechnet 35 Rappen, ungefähr so viel wie ein frischer Fruchtsaft. So gebe es beispielsweise Bauern, die in der Stadt eingekauft haben, dann schwer bepackt mit dem Bus wieder aufs Land zurück fahren und von der Strasse noch einen Fussmarsch von drei bis vier Stunden hinter sich bringen müssen, bis sie schliesslich zu Hause ankommen. Bevor sie sich auf den Weg machen, schauen sie deshalb nochmals kurz beim Radio vorbei und wenden sich über das Radio an ihre Söhne: «Bringt mir um die und die Zeit ein Maulesel zur Strasse. Ich habe Lasten zu transportieren», sind typische Nachrichten erzählt Pillco.
Das Radio hat aber gerade in diesem Bereich der Kommunikationsdienstleistung mit dem Strukturwandel zu kämpfen: «Früher kamen die Leute in Scharen und standen regelrecht Schlange vor unserem Schalter, um ihre Durchsagen aufzugeben. Aber dies hat stark angenommen, seit das Mobiltelefon auch in der Landbevölkerung immer verbreiteter ist.» Das Funksignal erreicht auch im ärmsten Land Südamerikas immer entlegenere Regionen. «Heute kommt es vor, dass ein Sohn seinem Vater die Nachricht sendet, er solle auf den Hügel vor dem Haus steigen, um dem Funkloch zu entkommen», erzählt Pillco. Im 21. Jahrhundert wird der Esel vermehrt per Mobiltelefon angefordert.
Alphabetisierung über den Äther
Bei Radio Aclo Potosí arbeiten acht Mitarbeiter – alle sind zweisprachig: Das Radio sendet rund die Hälfte der Sendungen auf Quechua – die Sprache der Inkas und seit 2000 auch eine der über 30 offiziellen Landessprachen Boliviens – und die andere auf Spanisch. Nachrichten gehören laut Pillco zu den meistgehörten Sendungen, danach folgen Musik, Ausbildungsprogramme und die Kommunikationsdienstleistungen für die Landbevölkerung.
Die Nichtregierungsorganisation Acción cultural Loyola (Aclo) wurde 1966 im Süden Boliviens von einer Gruppe Studenten gegründet, die von einem jesuitischen Pfarrer motiviert worden war. Die Studenten wollten etwas für die Entwicklung und die Integration der indigenen Landbevölkerung leisten. Sie begannen mit Alphabetisierungsprogrammen. Später mietete die NGO dafür Sendezeit bei Lokalradios. 1977 gründete die Organisation den ersten eigenen Sender in Sucre, der konstitutionellen Hauptstadt Boliviens.1981 folgte ein Radio in Tarija und 2004 schliesslich ein eigenständiges Radio in Potosí.
Der Sender als Schule
Grundausbildung per Radio gehört auch heute noch zu einem der wichtigsten Dienstleistung der Aclo-Senderfamilie. Frauen und Männer über 15 Jahre, die ihre Grundschulausbildung fortsetzen wollen, können dies von ihrem Empfangsgerät aus tun. Der Stoff reicht von der 3. bis zur 8. Klasse. Gelehrt wird das ABC oder Rechnen. Um mehr Hörer zu erreichen, wechseln sich Ausbildungsmodule und Musik ab. Der Staat gibt die Schulbücher gratis ab. Jeden Monat geht ein Lehrer in die Dörfer und beantwortet Fragen, nimmt Prüfungen ab oder stellt Zeugnisse aus.
Pillco glaubt, dass das Radio schon einige seiner Ziele erreicht hat, vor allem was die Meinungsbildung und die Teilnahme am öffentlichen Leben angeht. «Wir konnten das Bewusstsein der Leute wecken, damit nicht einfach von oben über sie bestimmt wird. Früher konnte man mit ein paar geschenkten Heften und Stiften die Stimmen der Landbevölkerung kaufen. Das ist heute nicht mehr möglich. Die von uns ausgebildeten, indigenen Führungspersönlichkeiten sind heute Bürgermeister, Berater von Abgeordneten oder stehen Organisationen vor.“
Dank UKW in die Städte
Bei der Landbevölkerung Boliviens ist Radio als Medium äusserst beliebt. Bei den langen Fussmärschen und Arbeiten auf dem Feld ist ein tragbares Radiogerät oft die einzige Unterhaltungs- und Informationsmöglichkeit. Der Reichweite von Aclo Potosí, das in rund der Hälfte der Gemeinden der Provinz empfangen werden kann, ist beachtlich: Eine Hörererhebung von 2008 zeigt, dass das Radio von knapp 90 Prozent der Landbevölkerung gehört wird und damit das mit Abstand populärste Radio ist. In der Stadt sind es deutlich weniger Hörer: Mit rund 10 Prozent liegt das Radio an zweiter Stelle.
Zuerst wurde nur per Mittelwelle gesendet. Seit 2008 will man per UKW auch die städtische Hörerschaft stärker ansprechen, um «der indigenen Landbevölkerung auch in der Stadt eine Stimme zu geben, um eine Brücke zwischen Stadt und Land zu bauen sowie um Quechua und die ursprüngliche Kultur in einem immer globaleren Umfeld zu fördern.» Seit Juni 2012 ist die UKW-Frequenz aber ausser Betrieb. Grund für die Abschaltung sei ein neues Mediengesetz. Bald soll sie wieder auf Sendung gehen. «Die Konsolidierung der UKW-Frequenz ist für uns die grosse Herausforderung», so Pillco. «In Taxis und Mobiltelefonen funktioniert nur UKW. Es ist eine Voraussetzung, um in der Stadtbevölkerung mehr Hörer zu gewinnen.»
Schwierige Finanzierung
Die Finanzierung des Radios sei die schwierigste Aufgabe, erzählt Pillco. «Wir versuchen uns allein über Werbung und die Gebühren für Durchsagen zu finanzieren. Am Ende des Jahres wird es immer sehr knapp.» Neben dem Radio betreibt die Redaktion auch eine eigene Website. «Wie die grossen Zeitungen versuchen wir unsere Website zwei bis drei Mal am Tag zu aktualisieren. Geld kann man damit aber nicht verdienen», sagt Pillco.
Potosí – in lebensfeindlicher Höhe
Die bolivianische Stadt Potosí liegt auf rund 4000 Meter über Meer und wächst rasant. Auf den ersten Blick wirkt sie wie ein lebensfeindlicher, von Armut geprägter Moloch, der sich den Cerro Rico hochfrisst – den Berg, deren Minen schon den spanischen Konquistadoren einen grossen Teil ihres Silberreichtum bescherten. Im 17. Jahrhundert war Potosí grösser als Paris oder London. Noch heute zeugt die prunkvolle koloniale Architektur davon. Obwohl es kaum noch Silber gibt, graben die Minenarbeiter unter prekären Bedingungen weiter nach den letzten Resten Mineralien, die der Berg noch hergibt. Potosí ist eine arme Stadt mit einem hohen Anteil an indigener Bevölkerung. Immer mehr ziehen vom Land her. Oftmals suchen sie sich in der Stadt einen Zweitwohnsitz neben ihrer Hauptexistenz auf dem Land. «Sie wechseln ihre Lebensform, bleiben aber gleichzeitig Bauern», erklärt Radiochef Pillco.