Gerigate, die Weltwoche und der Persönlichkeitsschutz
«Ohne Privatheit stirbt die Freiheit» – unter diesem Titel hielt Roger Köppel im Editorial seiner Weltwoche ein flammendes Plädoyer für den Schutz der Privatsphäre. Damit brachte Köppel zwar einen wichtigen Aspekt in die Diskussion in die Causa Geri Müller ein. Aber er wirkt unehrlich. War es doch ausgerechnet Köppels Stellvertreter Philipp Gut, der Müllers Chat-Affäre eine Woche zuvor namentlich geoutet hat.
Nunmehr zwei Wochen ist es her, als die «Schweiz am Sonntag» die Affäre um den grünen Nationalrat und Badener Stadtammann Geri Müller ins Rollen brachte. Inzwischen ist «Gerigate» weit mehr als die schlüpfrige Story von Nackt-Selfies aus dem Badener Stadthaus. Schnell zeigte sich an der Geschichte die hässliche Fratze journalistischer Empfehlungen und «Gerigate» entpuppt sich als «Mediengate».
Neben bekannten Medienkritikern wie Rainer Stadler, Roland Binz oder Dennis Bühler nahm sich zuletzt auch Roger Köppel den journalistischen Verfehlungen in der Causa Geri Müller an. Im Editorial der aktuellen Weltwoche prangert der Chefredaktor die Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Geri Müller an. Die intime virtuelle Beziehung zwischen dem Politiker und seiner Ex-Chatpartnerin seien Gegenstand der Privat- und Intimsphäre und demnach geschützt, schreibt Köppel. «Nicht die virtuellen Ausschweifungen Müllers sind hier der Skandal, sondern die rohe Gewalt, mit der die Privatsphäre Geri Müllers verletzt worden ist.»
Köppels flammendes Plädoyer für den Schutz der Privat- und Intimsphäre schlug in Medienkreisen ein wie eine Bombe. Von der Weltwoche hatten offenbar viele nicht erwartet, dass sie Geri Müller verteidigen würde. Unter Journalisten, die sonst selten der Weltwoche zustimmen, herrschte für einmal grosse Einigkeit mit Köppel. Zu Recht. Der Weltwoche-Chef hat mit seinem Editorial eine wichtige und richtige Diskussion angestossen. Mit der Publikation der Nackt-Selfie-Affäre haben die «Schweiz am Sonntag» und daraufhin auch weitere Medien den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz nach Art. 28 ZGB grosszügig übersehen.
Bei aller Zustimmung für Köppels treffende Worte ging ein entscheidendes Detail unter: Nimmt man die Ausgabe der Weltwoche zur Hand, die eine Woche zuvor erschienen war, wirkt Köppels flammende Rede für den Persönlichkeitsschutz nämlich geradezu zynisch. Während der Chefredaktor auch hier im Editorial gegen die Rücktrittsforderungen an Geri Müller anschreibt, macht sein Stellvertreter Philipp Gut im Innern des Hefts genau das, was sein Chef eine Woche später lautstark anprangern wird: den Persönlichkeitsschutz einer Person mit Füssen treten.
Unter dem Titel «Protokoll eines menschlichen Dramas» probiert Gut, die Psyche von Müllers Ex-Chatpartnerin zu dechiffrieren. Dabei gibt er nicht nur aus den Fingern gesaugte Diagnosen zu Protokoll, Gut nennt auch das Pseudonym, mit der die Frau auf Facebook registriert ist. Indem er dies tut, enthüllt die Weltwoche indirekt die Identität von Müllers Ex-Chatpartnerin vollends. Wurde bis dahin lediglich Alter, Wohnkanton und Beruf der Frau in den Medien breitgeschlagen, genügte nun die Eingabe des Pseudonyms auf Facebook, um sofort den bürgerlichen Namen der Frau angezeigt zu erhalten. Egal, wie es zu diesem Fauxpas kam: Der Schaden ist angerichtet.
Man kann von der Ex-Chatpartnerin von Geri Müller halten, was man möchte. Sie hat die kompromittierenden Nackt-Selfies – mehr oder weniger freiwillig – den Medien zugespielt und damit «Gerigate» indirekt ins Rollen gebracht. Doch selbst wenn sie dies im Nachhinein klugerweise nicht hätte tun sollen, so entfällt damit noch lange nicht ihr verbürgtes Recht auf den Schutz ihrer Persönlichkeit. Auch dass die Frau damit möglicherweise eine Straftat begangen hat, legitimiert nicht ihre Enttarnung durch die Medien. Im Gegenteil: Als Person, die – im Gegensatz zu Geri Müller – keine Person des öffentlichen Interesses ist, stünde ihr das Recht auf Persönlichkeitsschutz umso mehr zu. Mehr noch als Müllers Persönlichkeitsrechtsverletzung abzumahnen, hätte Köppel also die Verfehlungen im Hinblick auf die Ex-Chatpartnerin verhindern sollen.
Stattdessen schreibt der Weltwoche-Chefredaktor in seinem jüngsten Editorial, dass sich die Frage aufdränge, «ob die Zeitungen, die Müller unter fadenscheinigem Vorwand outeten, nicht eher die Identität der Frau entschleiern sollten». Spätestens hier wird man stutzig, ob Köppel in seinem viel gelobten Editorial tatsächlich das Recht auf Privatheit verteidigt. Oder sich nicht vielmehr selber zum Richter darüber macht, wem dieses Menschenrecht zukommt und wem nicht.
Annabelle Huber 01. September 2014, 13:47
Frau Epp, ich finde es toll, dass Sie dem Sexobjekt von Gerri Müller Rechte einräumen und es humanisieren, Es ist heute leider immer noch so, dass Frauen reduziert werden zu Sexobjekten und/oder Hexen. Was man an diesem Beispiel spätestens nach Ihren Ausführungen deutlich erkennen könnte.
Ihre kühnen Gedanken wagen sich jedoch nicht in die Bereiche der Dead-zone… Ich will Sie ein kleines Stück dorthin begleiten.
Skurillerweise hat die Sonntagszeitung wild und unreflektiert mit der Thomas-Borer-Keule um sich geschlagen… Das hat die geneigten Leserin stutzig gemacht, zum Nachdenken angeregt. Allein, normalerweise erinnern sich Journalisten nicht soweit zurück und dann der Vergleich mit Gerigate. Die Ähnlichkeit der Fälle ist marginal… Und dann der Big Brother, welcher uns aus dem Titel der neuesten Ausgabe der Weltwoche wütend entgegen starrt, ist seine Ähnlichkeit mit GMs Anwalt wirklich nur Zufall?
Ferdi Bärlocher 01. September 2014, 16:11
Dass Epp die „indirekte Enttarnung“ mit einer direkten (mutmasslich ohne Einverständnis der Frau) anprangern will, ist im besten Fall schizophren. Im WeWo-Artikel war der Verweis zum Facebook-Profil zumindest nicht explizit, diese Lesehilfe des Profils angesichts der Vorwürfe nur noch bizarr. Für die Argumentation wäre eine vage Umschreibung mehr als ausreichend. Die Verantwortung dafür trägt die Autorin und nur diese, andere Quellen sind nicht zitiert. Oder eben: Mehr noch als Köppels Persönlichkeitsverletzung abzumahnen, hätte Epp also die Verfehlungen im Hinblick auf die Ex-Chatpartnerin verhindern sollen. Schäme mich.
Carmen Epp 01. September 2014, 18:29
Geschätzter Herr Bärlocher
Im besagten Artikel von Philipp Gut ist folgendes zu lesen:
«Politiker Müller erprobte damals für sich das Facebook und nahm die Freundschaftsanfrage der Frau an, die sich *** nennt (ein nom de guerre ihr richtiger Name ist der Weltwoche bekannt)»
Die Verbindung zwischen dem Pseudonym und Facebook könnte expliziter kaum sein und stammt keineswegs – wie Sie mir das indirekt vorwerfen – von mir. Den Schaden hat die Weltwoche angerichtet, nicht ich. Sollte man über die Verfehlung schweigen, in der Hoffnung, niemand habe sie bemerkt? Ich finde: Nein. Sie schreiben «für die Argumentation wäre eine vage Umschreibung mehr als ausreichend» und treffen damit genau den Punkt, den ich der Weltwoche vorwerfe: dass die Nennung des Pseudonyms nicht nötig gewesen wäre. Weshalb auch ich es notabene nicht nenne, weder hier noch in Diskussionen. Mich nun verantwortlich zu machen für ein Übel, das ich kritisiere, geht meines Erachtens zu weit.
Frank Hofmann 02. September 2014, 11:01
Die Frau legte etwa so viel Wert auf ihre Privatsphäre wie die Porno-Sekretärin aus dem Bundeshaus. Es mutet etwas sonderbar an, Schutz für eine Person zu reklamieren, die aus niedrigen Beweggründen unbedingt mit Privatem an die Öffentlichkeit will. Bref, ein weiterer Nebenschauplatz.
Thomas Binder 04. September 2014, 14:21
Nun, bei Lichte betrachtet ist in diesem „Fall“ „sie“ der Schlüssel zum ganzen unglaublich Erscheinenden und ist die Tatsache, dass sich die Haupttäterin hinter dem Opfer- und Quellenschutz verstecken kann, während sich ihr Hauptopfer für ihre nicht nur bei ihm erfolgreiche Manipulation als bisher einziger in dieser Ungeschichte öffentlich entschuldigen musste und unter dem Applaus des Mobs, selbst angeschossen schwer verletzt am Boden liegend, immer noch weitere Tritte einstecken muss, die vielleicht grösste menschlichen Tragik an dieser unmenschlichen Geschichte.