Wir waren jung und furchtbar stolz
In Zürich steigt Bundeskanzler Helmut Kohl aus dem Flugzeug, wuchtet sich die Gangway runter und: Bumms! knallt sein Bauch in die Kameralinse eines TeleZüri-VJs. «Na, wie gefällt Ihnen Zürich?», fragt der Einmann-Reporter und reisst seine Hi8 hoch. «Keine Ahnung», keucht Kohl, «ich seh ja nur Sie.» klingt unglaublich, ist aber nicht erfunden. Die Szene hat sich so zugetragen damals vor 20 Jahren, beim Start von TeleZüri. Unser Kolumnist Nik Niethammer war dabei.
Nah. Näher. TeleZüri. Darauf hatte uns Michael Rosenblum aus New York, legendärer Erfinder des Videojournalismus, eingeschworen. Damals in einem muffigen Hinterzimmer im Hotel Limmat im August 1994. Roger Schawinski holte ihn und seine Freundin für viel Geld nach Zürich; ein Coup. Die beiden sollten uns, die wir alle vom Fernsehmachen keinen blassen Schimmer hatten, einen neuen Beruf beibringen. In zwei Monaten. In englischer Sprache.
Fortan war Ausnahmezustand. Der erste Auftritt von Rosenblum: ein Aufruf zur Revolution und Kindergeburtstag. Der Meister schrie, tanzte, zappelte drei Stunden um uns herum. Hämmerte uns ein, dass die Menschen nach TeleZüri lechzten. Weil das Schweizer Fernsehen so unfassbar langweilig sei. Abgefilmte Pressekonferenzen, keine Persönlichkeiten vor der Kamera, keine Geschichten, die berühren, einen ärgern oder Tränen in die Augen treiben. Wir, 15 unerschrockene, zum äussersten entschlossene Schawinski-Jünger, lauschten dem Guru und manch einer fragte sich: wo bin ich hier gelandet. Am Nachmittag bekam jeder einen grossen Karton auf den Tisch gestellt. Zeit, sein Handwerkszeug zusammen zu bauen: Kamera, Rucksack, Stativ, Kabel, Akku, Mikrophon, Kassetten, Stecker, Stöpsel und sehr viel Styropor, nach wenigen Minuten herrschte das totale Chaos. Bis in die Nacht hinein sah man erwachsene Männer, die auf allen Vieren nach Lithiumbatterien und Adaptern suchten.
Die ersten Monate on air waren Stochern im Nebel. Jeder Blechschaden, jede umgekippte Mülltonne, jede abgefackelte Hundehütte wurde ins Programm gehievt. Es gab an ungefähr keiner Stelle im Programm wirklich sendbares Material. Die Bilder waren wahlweise verwackelt. Überblendet. Unterbelichtet. Und gerne auch unscharf. Politiker weigerten sich, vor TeleZüri-Kameras zu treten, weil sie aussahen wie Ausserirdische mit Hautproblemen. Derweil gab sich Rosenblum unverdrossen optimistisch, lobte («You are even better than CNN») und tadelte («This is really a piece of shit. I would kill myself»). Seine, nun ja: eigenwillige Art der Motivation hielt uns auf Trab. Als Reto Brennwald einmal seine Anweisung, «no Schwänk, no Zoom» missachtete und bei der Neueröffnung eines Elektronikshops Duzende Fernsehapparate abschwenkte, flippte Rosenblum aus. In Richtung Roger Schawinski schrie er: «I would fire him.»
Überhaupt: Roger Schawinski. In den Anfängen von TeleZüri oft angespannt, nervös, auch launisch, harsch in der Kritik, später entspannter, gelassener doch immerzu fordernd, stolzer Übervater, Denker und Lenker, unermüdlicher Antreiber, Motivator und Ideenlieferant. Ein Ziel vor Augen: das Schweizer Fernsehen zu ärgern. Sein Motto: es gibt keine Probleme, nur Lösungen. Sein Standardspruch: Es ist schwierig. Aber Du liebst doch Herausforderungen.
Einmal portraitierte ihn Tagi-Karrikaturist Nico als TeleZüri-Krake, als Geschäftsführer, Programmchef, Chefredaktor, Personalchef, Talkmaster, Controller, Maskenbildner, VJ und Putzmeister in Personalunion, der nach Programmschluss noch den Studioboden feucht durchwischt. Ein Bild, das Schawinski schmeichelte, ihm aber auch etwas peinlich war, wie ein Anruf beim Schreibenden bezeugt. Der TeleZüri-Gründer gefiel sich in der Rolle des alleinigen Vorturners. Seine wichtigsten Mitarbeiter aus Redaktion, Technik und Vertrieb blieben stets im Hintergrund, auf öffentliches Lob warteten sie in all den Jahren vergebens. Intern aber erhielten wir von Roger die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die es uns leicht machte, immer wieder an unsere Grenzen zu gehen.
Und mit den Jahren wurde TeleZüri besser. Schneller. Professioneller. Die besten Ideen entstanden bei einem Teller Pasta in der Pizzeria Gallo am Escher-Wyss-Platz. Roger liess seine Gedanken fliegen, und ich notierte sie auf einer Papierserviette. Noch am gleichen Abend begann ich jeweils mit der Umsetzung. Die Mister Schweiz Wahlen auf TeleZüri? Klar doch. Die Street Parade? Live-Fernsehen ist hipp, also hopp. Englischer Fussball? Coole Idee, machen wir, mit Roger am Mikrophon. Als das Spiel einmal während Minuten unterbrochen war und der Fernsehzuschauer nur noch Rauchschwaden auf seinem Bildschirm sah, erzählte der Kommentator im Steinfels-Studio, der ja auch nur das Fernsehbild sah, halt ein wenig aus seiner Zeit als junger Fussballfan in Zürich-Wiedikon. Und nahm Zuschauerfragen entgegen.
Es war eine wunderbare Zeit. Wir waren jung und furchtbar stolz auf TeleZüri, wir waren wie eine grosse WG, eine verschworene Gemeinschaft, und alle waren wir ein wenig in Eva Wannenmacher verliebt. Abends schauten wir zusammen die Sendung, und morgens tranken wir Kaffee im «Back und Brau», wir wurden auf der Strasse erkannt, weil die Menschen unsere Gesichter von den Standups kannten («Für TeleZüri vom Kaserneareal, dä…»). Wir waren schnell, wahnsinnig schnell, einmal klappte ich das Stativ wieder zusammen, als das Team vom Schweizer Fernsehen gerade auf dem Brandplatz eintraf. Der Kameramann durfte einen kurzen Blick in meinen Sucher werfen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es aussah, als der Dachstuhl noch im Vollbrand stand…
Auf wenige Dinge kann man sich heutzutage noch verlassen: Am Morgen geht die Sonne auf, pünktlich zur Ferienzeit staut es vor dem Gotthard und TeleZüri sendet News, Info und Talk.
Dass das so bleibt, das wünsche ich mir. Und dann wünsche ich mir vom selbsternannten Mister TeleZüri Markus Gilli, dass er einmal, nur ein einziges Mal öffentlich zugibt, dass sein erbitterter Widerstand gegen TeleZüri vor 20 Jahren ein Fehler war.
Der Autor war von 1995 bis 1999 Chefredaktor von TeleZüri