Tun wir das Richtige?
Unser Kolumnist Nik Niethammer tritt in diesen Tagen einen neuen Job an. Er übernimmt die Chefredaktion von Fritz+Fränzi, dem grössten Elternmagazin der Schweiz, in Zürich. Die neue Aufgabe bedeutet: viel Freude. Viel Ehre. Und viele Fragen, 99 Fragen.
Wie wird mein erster Arbeitstag? Freut man sich auf mich? Was weiss ich von meinen Kolleginnen, meinen Kollegen? Was wissen Sie über mich? Haben sie mich gegoogelt, auf Facebook und Twitter gescannt? Gab es da einen Eintrag, den ich besser nicht gepostet hätte?
Wie merke ich mir die Namen meines Teams? Habe ich von jedem Redaktor, jeder Redaktorin die letzten fünf Geschichten gelesen? Und wie fand ich sie? Was erwarten meine Kolleginnen, meine Kollegen von mir? Humor? Gelassenheit? Eine lange Leine? Angenommen, sie hätten sich ihren neuen Chef selbst aussuchen dürfen: Hätten sie mich gewählt?
Welche Reaktion auf meine Ernennung hat mich am meisten gefreut? Und von wem bin ich enttäuscht, dass er sich nicht gemeldet hat?
Was machen wir für ein Blatt? Eines, das uns, der Redaktion gefällt? Oder dem Leser, der Leserin? Wer überhaupt ist unser Leser? Was wissen wir über ihn, was wissen wir über seine Bedürfnisse? Seine Wünsche? Und wie erreichen wir ihn? Mit Qualitätsjournalismus, schon klar. Aber was ist Qualitätsjournalismus? Wer definiert das?
Welche Geschichte setze ich in der nächsten Ausgabe auf den Titel? Mit welcher Persönlichkeit führen wir das grosse Interview? Und zu welchem Thema? Und warum? Was mache ich anders als meine Vorgängerin? Was behalte ich bei? Wie schaffen wir es, für den Leser, die Leserin unverzichtbar zu bleiben? Wie schaffen wir es, dass uns jemand seine kostbare Zeit schenkt? Und nach der Lektüre sagt, danke; es hat sich gelohnt?
Warum glaube ich an die Zukunft von Print? Weil ich naiv bin, ein unverbesserlicher Optimist? Oder weil ich davon überzeugt bin, dass ein gut gemachtes Magazin immer Wegbegleiter und sinnliches Erlebnis bleiben wird? Wird das Elternmagazin in fünf Jahren noch auf Papier gedruckt? Und wenn ja: mit welchem Aufwand? Zu welchen Kosten? Und wird es noch eine eigene Redaktion beschäftigen?
Sind wir in der digitalen Welt gut aufgestellt? Wie bespielen wir als Monatstitel unser Online-Portal? In welche Richtung müssen wir unsere App weiterentwickeln? Tun wir genug und tun wir das Richtige, um den Leser auf allen Kanälen zu erreichen?
Wie trete ich als Chefredaktor auf? Wie überzeuge ich? Bin ich bereit, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen? Welche Autorin, welchen Autor hätte ich gerne an Bord? Was ist meine Kernkompetenz als Journalist? Was sind die Erwartungen an mich? Das Heft bekannter zu machen? Die Auflage zu steigern? Oder mindestens die rückläufigen Verkäufe zu stoppen? Kann ich die Erwartungen von Verlag und Redaktion erfüllen? Wieviel Zeit gibt man mir? Wieviel Zeit gebe ich mir selbst?
Wie pflege ich das WIR-Gefühl in der Redaktion? Welche Feedback-Kultur lebe ich in der Redaktion? Wie gestalte ich Sitzungen spannend? Wie kommuniziere ich? Bin ich immer erreichbar? Wann ist man ein journalistisches Vorbild? Bin ich ein Vorbild? Wieviel schreibe ich selbst? Werden mir je die Ideen ausgehen? Angenommen, ich habe eine Schreibblockade: Was mache ich? Wie sage ich einer Kollegin, dass mir ihr Text nicht gefällt? Wo habe ich in meinem bisherigen journalistischen Leben Spuren hinterlassen? Welche Spuren hätte ich gerne hinterlassen? Vorausgesetzt, ich könnte ein Magazin machen, dass sich nicht verkaufen muss: Wie würde es aussehen?
Wie mache ich Fritz+Fränzi noch mehr zu einer Marke? Wie präsentieren wir uns in Zukunft auf Facebook und Twitter? Verlange ich, dass jeder Redaktor, jede Redaktorin dort aktiv ist? Wie generieren wir mehr Likes, Shares, Tweets? Will ich überhaupt, dass unsere Texte in den sozialen Netzwerken herumgereicht werden? Werde ich zum Blogger? Wie persönlich halte ich mein Editorial? Schreibe ich von meinen Erfahrungen als Vater und Erzieher? Erzähle ich von meinen Kindern, den Ängsten meines Sohnes, der Trotzphase meiner Tochter?
Ist Native Advertising ein Thema für unser Magazin? Und Crowdfunding? Was halte ich von User-Generated-Content? Wie verbessere ich den Dialog mit dem Leser, der Leserin? Wie vermittle ich dem Leser, der Leserin, dass Magazinjournalismus etwas Kostbares ist, für das es sich lohnt, Geld auszugeben?
Sind wir mutig genug? Leben wir nach dem Motto: Gewinnen wollen, scheitern können? Ist es altmodisch, wenn ich sage: ich plädiere für die Wiederkehr des klassischen Journalismus? Für die guten alten Tugenden: Wir sind der Wahrheit verpflichtet, und wir erzählen gute Geschichten? Was macht herausragenden Ratgeberjournalismus aus? Sind es die Themen? Die Meinungsfreude der Experten? Die überraschenden Erkenntnisse?
Arbeiten wir nach dem Grundsatz, wer aufhört, besser werden zu wollen, hört auf, gut zu sein? Sind unsere Texte, Analysen und Meinungen so aufbereitet, dass sie den Anforderungen des digitalen Zeitalters entsprechen? Hat Augmented Reality Zukunft? Wie können wir komplexe Themen in bewegte Bilder umsetzen? Müssen wir mit unseren Inhalten ebenso auf mobilen Geräten präsent sein wie ein News-Anbieter?
Glaube ich, dass wir die besten Jahre noch vor uns haben?
Ja. Das glaube ich. Wirklich!
Tom 01. Dezember 2014, 12:01
Lieber Nik. Sehr sehr gute Fragen die du dir da stellst. Hoffentlich willst du nicht alle beantwortet haben. Lass dich einfach auch durch dein Bauchgefühl leiten, deinem guten Gespühr für Menschen. Mach’s wie meine neue Chefin, 22 Jahre jünger als ich an ihrem heutigen 1. Arbeitstag: 1 Säckli mit Weihnachtsguezli und einem Zettel „auf gute Zusammenarbeit“. Genügt für den Anfang. Der Rest kommt mit der Zeit – und die darf Mann/Frau sich lassen am Anfang. Ich wünsch dir gute Antworten auf deine Fragen – dort wo es sie gibt!
Beste Grüsse
Hildegard 03. Dezember 2014, 06:13
Lieber Nik! Allein die Fragen zeugen von einem hohen Anspruch, den Du an Dich als Mensch, Journalist und jetzt neu als Verantwortlicher für das Magazin hast! Lass Dich weiter davon leiten. Die Antworten werden sich finden.
Einen Hinweis möchte ich Dir in Bezug auf die Frage Social Media geben: ich wohne in Deutschland und könnte viele wertvolle Inhalte von Euch nicht lesen, wenn ihr nicht auch über diese Kanäle kommunizieren würdet. Der Hinweis auf Euch erfolgte übrigens durch ‚mit Kindern lernen‘-meinem persönlichen Mutter-Dream Team .
Ich wünsche Dir eine glückliche Hand beim Führen von Fritz+Fränzi und mit Deinem Team viel Freude bei Eurer sinnhaften und hilfreichen Arbeit. Alles Liebe. Hildegard
Nik Niethammer 03. Dezember 2014, 18:29
Liebe Hildegard, herzlichen Dank, sehr aufmerksam. Was Social Media angeht, sei versichert: Hier können und müssen wir noch mehr tun. Und das werden wir auch. Beste Grüsse aus Zürich, Nik Niethammer