Es geht ganz gut ohne Krisenmanagement
Neulich habe ich ein Kreuz an die Decke gemalt. Es war der Tag, an dem der Fake-Skandal um die Reality-Show «Newtopia» ins Netz schwappte. Und wissen Sie warum? Weil ich mich entspannt zurücklehnen und mitverfolgen konnte, wie sich die Verantwortlichen des deutschen Privatsenders Sat.1 und der Produktionsfirma Talpa um Kopf und Kragen redeten.
Vor wenigen Jahren hätte ich als Chefredaktor des Senders noch selber Krisenmanagment betreiben müssen. Und klar, ich hätte das TV-Experiment mit den 15 Pionieren, die angeblich ohne Hilfe von aussen eine neue Gesellschaft erschaffen wollen, durch alle Böden verteidigt. Dabei ist der Fall so klar wie Klossbrühe: das Publikum wurde vom Sender und der Produktion belogen und betrogen. Wer glaubt, dass Reality-Fernsehen ohne Absprachen auskommt, glaubt auch an den Weihnachtsmann.
Haben Sie sich das neue Klatschformat «Boser & Böser» auf TeleZüri angetan? Für sie gehe ein Traum in Erfüllung, schwärmte Moderatorin Patricia Boser vor der Premiere: «Ich habe ein ganzes Jahr am Konzept der Sendung gearbeitet.» Man möchte Patty zurufen: Du hättest besser noch ein Jahr drangehängt. Der Talk war ungefähr an keiner Stelle frech oder gar hemmungslos; er war sterbenslangweilig. Vor 20 Jahren hätte ich das vermutlich anders gesehen: als damaliger Programmchef von TeleZüri hätte ich die Fahne hochgehalten für das Format und gegen die «ewigen Stänkerer und Besserwisser» verteidigt.
Wie 2004, als der damalige Geschäftsführer von Sat.1, Roger Schawinski, «Klatsch TV» erfand. Die Sendung lief Montag bis Freitag um 11.30 Uhr, wurde von Jenny Elvers-Elberzhagen moderiert, von der Presse gnadenlos runtergeschrieben und nach sechs Monaten abgesetzt. Obwohl die Teilnehmer täglich den Tabubruch inszenierten: Einmal lästerte die deutsche Entertainerin Désirée Nick über Harald Juhnkes Ehefrau, wurde aus der Show geschmissen und wenig später wieder engagiert. Worauf sie – in der Live-Sendung wohlverstanden – über die Moderatorin herfiel und wieder gefeuert wurde. Als verantwortlicher Magazinchef war ich empört, dass man das Format flach und banal finden konnte und habe mich bis zur letzten Klappe schützend vor dieses «grosse Stück Fernsehgeschichte» gestellt.
Ich könne die Liste beliebig fortsetzen. Bevor Sie fragen: ja, ich habe jeden meiner Jobs geliebt, bin stolz, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen gearbeitet zu haben, die mit Herzblut und Leidenschaft ans Werk gingen. Und umgekehrt schätzen sie es, dass ich mich stets auf ihre Seite geschlagen, sie vor übellaunigen Kritikern und undankbaren Zuschauern in Schutz genommen habe. Wie das ein Chef so macht, wenn er ein guter Chef sein will. Ich bin dankbar für jede dieser Erfahrungen, auch wenn der persönliche Geschmack manchmal hinten anstehen musste. Das war Teil des Jobs.
Und heute? Heute mache ich ein Kreuz an die Decke, weil ich für ein Magazin arbeite, das meinen Qualitätsansprüchen, meinen Interessen, meinem journalistischen Selbstverständnis noch mehr entspricht. Es ist unglaublich entspannend, nicht daran gemessen zu werden, ob man es schafft, eine News 30 Sekunden vor der Konkurrenz in die Welt hinaus zu blasen. Was für eine Genugtuung, sich mit Themen zu beschäftigen, die im wahrsten Sinn des Wortes nach-halten. Was für eine Wohltat, Leuten nicht mehr auf die Füsse treten zu müssen, ihnen Verfehlungen nachzuweisen. Übrigens: ja, ich hätte den Namen des Co-Piloten des Germanwings-Todesflugs auch genannt; nein, ich fand die Berichterstattung in einigen Medien nicht anständig, einfach deshalb, weil anständige Journalisten Menschen in Ruhe trauern lassen und sie nicht bedrängen. Aber: die meisten Kolleginnen und Kollegen haben in diesen dramatischen Tagen ganz wunderbare, herausragende Arbeit geleistet. Meinen grossen Respekt dafür.
Auch wenn die Arbeit beim «Schweizer Eltern Magazin Fritz+Fränzi» nicht nur eitel Sonnenschein ist; ich schätze das entschleunigte Arbeiten bei einem Monatsmagazin ungemein. Oder wann haben Sie sich zum letzten Mal auf ein Gespräch vorbereitet, indem sie in Ruhe ein Buch gelesen haben – und gleich noch eins? Wann haben Sie sich zuletzt zwei Stunden Zeit für ein Interview nehmen können? Und wann haben Sie zuletzt ihre eigene Zeitung, Ihr Magazin durchgeblättert und gedacht: Soviele Geschichten, die begeistern, soviele Texte, die Mehrwert bieten.
GINI Minonzio 22. April 2015, 11:48
„Jede, jede Woche, mein lieber Herr Niethammer“, möchte ich Ihnen am liebsten zurufen. Und das nicht erst, seit die Grossen sich verrannt haben und nun neue Wege „erfinden“ und laut vermarkten. Sondern seit Jahrzehnten.
Grüsse von der bestgelesenen Zeitung östlich von Aarau
GINI Minonzio
Wochenblatt für das Schwarzbubenland und das Laufental