von Ronnie Grob

Jetzt aber: Politisches Feuilleton

Martin Meyer prägte das NZZ-Feuilleton der letzten Jahrzehnte. Nun tritt er in den Ruhestand und macht ab 2016 Platz für seinen Nachfolger René Scheu. Vom studierten Philosophen und bekennenden Wirtschaftsliberalen wird eine neue Ausrichtung mit mehr Debatten, mehr Wirtschaft und mehr Politik zu erwarten sein.

«Er ist die richtige Person, um die Tradition des von Martin Meyer begründeten politischen Feuilletons fortzusetzen.»

Dieser Satz stammt von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer; er steht in der Meldung über die Neubesetzung des NZZ-Feuilletons durch René Scheu ab dem 1. Januar 2016. Es ist ein Satz, der daran zweifeln lässt, wie aufmerksam Gujer das von Martin Meyer gemachte Feuilleton überhaupt liest. Denn politisch war das noch nie. Noch nicht mal, wenn es um Politik ging. Und «begründet» hat Meyer das politische Feuilleton schon gar nicht.

Geliefert haben er und sein Team stattdessen Qualitätsbeiträge zur Kultur in der Welt. Während andere Feuilletonisten auf aktuelle Themen wie Google und Snowden-Leaks, TV-Serien und Gentechnik, auf Europa und die USA ausgerichtet waren, blieb das NZZ-Feuilleton zeitlos, geschichtsbewusst und kosmopolitisch. Mit Hingabe kümmerte es sich auch noch um den kleinsten Sprachraum in der entlegensten Region, und entdeckte dort ein zu wenig beachtetes Werk aus dem Nachlass eines eigentlich unterschätzten Künstlers. Beeindruckend an der Arbeit der Redaktion war das breite, internationale Kontaktnetz, das einen immer wieder mit Themen und Autoren überraschte, von denen man zuvor noch nie gehört hatte.

Nehmen wir das NZZ-Feuilleton von gestern, dem 25. Juni 2015: Nachrufe auf Ex-NZZ-Feuilletonredaktor Richard Häsli und auf Schriftstellerin Gabriele Wohmann. Neue Einsichten zu «Melencolia I» von Albrecht Dürer. Berichte über ein Archiv im Museum Bellpark und über das Kultur-Festival «Wiener Festwochen». Die Kino-Seite mit einem französischem und einem indischen Film. Ah ja, und jetzt das Politische: Anna Schor-Tschudnowskaja schreibt den Aufmacher, ein angenehm entspannter, aber auch mässig interessanter und informativer Beitrag über die Lage in Kiew.

«Es gibt einen, der konsequent keinen Boulevard macht», schrieb ich in der Einführung zum MEDIENWOCHE-Interview, das ich 2012 mit Martin Meyer führen durfte, und ich glaube, das stimmt noch immer. Meyer bietet kompromisslose, jegliche Trends und Moden ignorierende Qualität. Wie kein anderer steht er für den Service Public von privater Seite im Kulturbereich. Wenn man ihm etwas vorhalten kann, dann, dass er sich selbst und seinen Festangestellten wunderbare Löhne gönnt, die freien Journalisten aber beschämend lausig bezahlt. Über seinen Schreibstil gibt es verschiedene Urteile. Für mich war er etwas zu sehr im leserabweisenden NZZ-Stil der 1970er-Jahre stehengeblieben, nämlich der inhaltlichen Undurchschaubarkeit bei höchstem sprachlichem Anspruch mit maximalem Einsatz von Fremdwörtern. Aber eins ist klar: Dieser Meyer ist ein Charakterkopf und keiner, den man schnell vergisst. Der Journalismus wird einen wie ihn, ich sag’s Euch, noch vermissen.

Zum Nachfolger: René Scheu wurde im Jahr, als Meyer bei der NZZ seine Arbeit aufnahm, geboren, 1974. Seit 2007 hat er mit dem traditionsreichen (seit 1921 in Zürich herausgegebenen) Monatsmagazin «Schweizer Monat» ein sauber daherkommendes Produkt hingelegt, in dem die intellektuelle Debatte auf hohem Niveau geführt wird. Wie Meyer hat sich auch Scheu nie von den US-amerikanischen Hypes leiten lassen, sich vielmehr der soliden hiesigen Bürgerlichkeit verpflichtet. Gespräche mit und Beiträge von Menschen aus dem deutschsprachigen Geistes- und Unternehmerleben waren im «Monat» zuhauf zu lesen. Darüber Aufschluss gibt die beeindruckende Liste der bisherigen Autoren. Das Autoren- und Debattenmagazin blickt auf die Welt aus betont wirtschaftsliberaler Warte, was natürlich nicht überall gut ankommt. Kritik äusserte zum Beispiel die WOZ 2011: «Der ‹Schweizer Monat› – reaktionär seit 1921».

René Scheu kann den intellektuellen Diskurs, Ökonomie, Philosophie. Was von ihm im Kulturbereich zu erwarten ist und ob er auch die weibliche Leserschaft anzusprechen fähig ist, bleibt zunächst eine Unbekannte. Doch wer auch immer den Entscheid, der ruhebedürftigen und aufmerksamkeitsscheuen Feuilletonredaktion einen Externen mit Elan vorzusetzen, eingeleitet hat und ihn zu verantworten hat: Er ist wegweisend. Mit der Zuwendung an jüngere Liberale, notabene die aktuelle und künftige Kernleserschaft der Neuen Zürcher Zeitung, bricht die in der Schweiz führende Kulturredaktion auf in eine neue Zukunft. Es ist zu erwarten, dass die Kulturressorts der anderen Zeitungen vom Bruch beeinflusst und sich selbst verändern werden. Angesprochen vom Entscheid ist vor allem Tamedia, dessen Führungspersonal sich im Feuilletonbereich seit vielen Jahren nicht verändert und dessen Produkte in der Folge von einer bleiernen Unveränderlichkeit geschlagen sind. Neue Impulse wurden dort in letzter Zeit nur noch durch neue Wünsche seitens des Verlags und der Werbung ausgelöst (Ausnahme: Bettina Weber als Leiterin des Gesellschaftsressorts Tages-Anzeiger / Sonntagszeitung). Bemerkenswert ist übrigens auch, dass die Neue Zürcher Zeitung somit den entgegengesetzten Weg der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einschlägt. Das Debattenfeuilleton des verstorbenen Frank Schirrmacher wurde dort mit dem Rezensionsfeuilleton von Jürgen Kaube ersetzt.

Während die Aufregung riesig war, als einige Leute es wagten, über den Liberalen Markus Somm als NZZ-Chefredaktor nachzudenken, so sind die Reaktionen nun milder. Die Kritik über die Berufung von Scheu bezieht sich vor allem auf eine politische und publizistische Haltung, die von den Kritikern nicht geteilt wird:

 

 

Diese Kritik ist ein Stück weit zu vernachlässigen. Eine liberale Zeitung braucht liberale Mitarbeiter, und das auch im Feuilleton. Linke, die unzufrieden sind mit diesem Personalentscheid, sollten sich besser mal mit dem Zustand des Feuilletons in ihren eigenen Zeitungen auseinandersetzen. Ihr Anspruch, bei einer freiheitlich-liberal ausgerichteten Zeitung mitreden zu wollen, ohne selbst freiheitlich-liberal zu sein, wirkt mitunter befremdlich. Scheu macht zudem weder den Eindruck eines Propagandisten, noch eines von der Politik allzu beeinflussbaren Menschen.

Seinen neuen Job tritt er per 1. Januar 2016 an, teilt Scheu auf Anfrage mit. Als Gründungsaktionär werde er seinen Beitrag leisten, dass die Produkte «Schweizer Monat» und «Literarischer Monat» «auf jeden Fall weiterbestehen – und sich sogar erfolgreich weiterentwickeln». Was seine operative Nachfolge angehe, so werde sich der Verwaltungsrat der SMH Verlag AG in den nächsten Wochen und Monaten darum kümmern.

Offenlegung: Ronnie Grob schreibt als freier Autor auch für den «Schweizer Monat».

Leserbeiträge

Philippe Wampfler 26. Juni 2015, 11:58

Da ich direkt angesprochen bin, antworte ich auch gerne: »Ihr Anspruch, bei einer freiheitlich-liberal ausgerichteten Zeitung mitreden zu wollen, ohne selbst freiheitlich-liberal zu sein, wirkt mitunter befremdlich.« 

Erstens widerspricht diese starre Setzung von »Linke sind nicht freiheitlich-liberal« dem Programm der NZZ. Gujer schreib in seiner Auslegeordnung der liberalen Idee: »Das Pendant zum freien Spiel der Wirtschaftskräfte bildet das freie Spiel der Ideen.« (http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/liberale-sind-skeptisch-und-rebellisch-1.18523027)

Dieses freie Spiel der Ideen erwarte ich im Feuilleton der Zeitung, die ich lese. Das ist denn auch »meine« Zeitung: Die NZZ. Mir vorzuschreiben, ich dürfte mich nur über Zeitungen äußern, der Verantwortliche die gleichen Parteien wie ich wähle, ist nicht nur absurd, sondern widerspricht zentral auch dem liberalen Credo.

Denn ich bin zweitens ja auch Kunde. Als solcher rede ich mit: Nicht, indem ich der NZZ irgendwelche Vorgaben machen könnte. Aber: Indem ich eine Präferenz äußere, für die ich mit meinem Abo einstehe.

Drittens ist Twitter meine Zeitung. Das NZZ-Abo zahle ich aus Solidarität mit den dort arbeitenden Menschen. In meinem Twitter Netzwerk herrscht gerade das »freie Spiel der Ideen«, das sich aus Meinungen, Rezensionen, Reportagen in allen kulturellen Dimensionen zusammensetzt. »Meine« Zeitung ist nicht der Tages-Anzeiger. Sie besteht aus allen Artikeln, die mir verfügbar gemacht werden und gut gedacht, sauber argumentiert sind. Wenn Scheu ein solches Feuilleton machen kann, gehört es dazu. Sonst nicht.

Ronnie Grob 26. Juni 2015, 14:52

Ich schreibe niemandem vor, was er denken oder schreiben soll. Ich halte es nur für befremdlich, sich für die Personalpolitik einer Zeitung zuständig zu sehen, deren wahre Grundausrichtung (mehr Freiheit, weniger Staat) ja man eigentlich gar nicht teilt. Und falls eben doch, dann bin ich hocherfreut, mich von liberalen Geistern umzingelt zu sehen. Wir lesen uns bei der nächsten Debatte!

Philippe Wampfler 26. Juni 2015, 15:07

Weil eben die »wahre Grundausrichtung« der NZZ nicht unbestritten ist. Ich gehe davon aus, dass es qualitativ hochwertige Information ist, die durch ideologischen Überlegungen nicht getrübt wird.

Markus Schär 26. Juni 2015, 15:45

Da müssen Sie sich halt schon mal die Mühe machen, nicht eine „wahre Grundausrichtung“ nach Ihrem Gusto zu erfinden, sondern die wahre Grundausrichtung in den Statuten nachzulesen:

§1 Abs.2 Zweck der Gesellschaft ist, die im Jahre 1780 gegründete und 1868 in ihren Besitz übergegangene «Neue Zürcher Zeitung» als ein von Sonderinteressen unabhängiges politisches, wirtschaftliches und kulturelles Organ von hoher Qualität und freisinnig-demokratischer Grundhaltung herauszugeben.

§3 Abs.2 c) Der Verwaltungsrat kann einen Erwerber von Aktien als Aktionär
ablehnen, wenn er keine der folgenden Eigenschaften nachweist:
– Mitgliedschaft bei der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz (FDP) oder der Liberalen Partei der Schweiz (LPS).
– Bekenntnis zur freisinnig-demokratischen Grundhaltung, ohne Mitglied einer anderen Partei zu sein.

Zur Textexegese – gute, aber aufwendige Idee – komme ich später; ich sollte eigentlich arbeiten…

Philippe Wampfler 26. Juni 2015, 16:34

»hoher Qualität und freisinnig-demokratischer Grundhaltung« – da kann die Auslegung schon nachvollziehen, dass der zuerst genannte Punkt der primäre sein könnte, oder?

Markus Schär 26. Juni 2015, 17:11

Man kann schon, es wird einfach endgültig absurd, vor allem wenn man noch die Vinkulierungsvorschriften sieht.

Markus Schär 26. Juni 2015, 12:23

Als ich jung war, also vor vierzig Jahren, waren die intelligentesten, interessantesten Denker und Schreiber links. Jetzt sind sie rechts (wenn wir liberal=nicht-links so verstehen wollen).* Es muss gewisse Leute – die Zeitungen nur lesen, wenn diese schreiben, was sie selber denken – furchtbar schmerzen, dies einzugestehen.

* Ich erspare den gewissen Leuten weitere Namen. René Scheu, der bei italienischen Kommunisten studiert hat und mit einer brasilianischen Architektin verheiratet ist, mit Peter Sloterdijk, dem Götti eines seiner Kinder, in Zürich herumzieht und sich im Schweizer Monat auch mit Cédric Wermuth auseinandersetzt, gehört definitiv dazu.

Thomas Läubli 26. Juni 2015, 22:32

Ich brauche im Feuilleton kein Links-Rechts-Schema. Politik ist ein kleiner Aspekt des Kulturschaffens. Es gibt Kulturschaffende, die sich dezidiert politisch äussern. Aber das ist nicht der Kern des Kulturschaffens. Wer eine vierstimmige Fuge, ein Bild von Lichtenstein oder ein Theaterstück von Goethe in ein politisches Raster bringt, dem ist nicht mehr zu helfen, und man darf ruhig sagen, dass dieser Mensch nicht verstanden hat, wozu wir Kultur überhaupt brauchen. Bei einem Journalisten der Weltwoche überrascht mich dieses Unvermögen nicht.

Philippe Wampfler 26. Juni 2015, 13:53

@Markus Schär: Warum machen wir das nicht einfach konkret, statt absolute Wertungen vorzunehmen: Welcher Text von René Scheu zeigt denn (und auf welche Weise), warum er ein interessanter Denker ist?

Kurz meine Meinung, warum ich die Texte, die ich von ihm kenne, wenig interessant finde: Weil jedes Phänomen als ein Beleg dafür zurechtgebogen wird, dass nur eine wirtschaftsliberale Ordnung ein gutes Leben ermögliche. Dadurch verlieren seine Analysen ihre Präzision.

Thomas Läubli 26. Juni 2015, 22:28

Es wirkt im Gegenteil befremdlich, wie hier Ronnie Grob aus einem Antiliberalen einen „Freiheitlich-Liberalen“ zu machen sucht. Denn was ist es anderes als antiliberal, den Liberalismus vom Primat des Ökonomischen aufzugleisen? Was ist es anderes als antiliberal, ein Feuilleton mit politischen „Debatten“ zuzumüllen (das haben wir doch auf jedem mittelmässigen Privatsender, der gekauft ist) statt solide über Wahrnehmungsweisen (Kunst) und Gedankengespinste (Theater, Philosophie) zu berichten? Was ist es anderes als antiliberal, Kultur nur noch für „jüngere Liberale“ zu machen (die im übrigen gar nicht das Kernpublikum der NZZ ausmachen), was auch immer das heisst? Es heisst vermutlich, dass die Gedankenfreiheit auf eine intellektuelle Bewegung vom Neoliberalismus bis zum Libertarismus verkürzt wird, um das Publikum subtil zu beeinflussen, wie das schon einige Mainstream-Medien heute handhaben. Wer Freiheit auf Wirtschaftsfreiheit verkürzt, kann nicht liberal sein.

Wenn Ronnie König meint, René Scheu mache nicht den Eindruck eines Propagandisten, dann verrät er hiermit, dass sein eigener Standpunkt nicht der Neutralität verpflichtet ist. Denn Scheus Kolumnen in der NZZ am Sonntag wie auch sein Buch zum RTVG sind durch eine klare Richtung gekennzeichnet. Wer einen derart eingeengtes Weltbild hat, dem traut man zu Recht nicht zu, dass er Kultur als Forum des Diskurses versteht. Im Gegenteil: Der Anspruch, ein politisiertes Feuilleton zu machen, entlarvt geradezu, dass Kultur in die gewünschte Richtung tendieren muss, um als gute Kultur gelten zu können. Dies bedeutet für Kulturschaffende vor allem, dass sie Sozialistischen Realismus abzuliefern haben, der allen gefällt und niemandem wehtut. Ein solches Verständnis von Kultur hat in einer liberalen Gesellschaft nichts zu suchen.

Thomas Läubli 12. Juli 2015, 16:17

Um die Absurdität des Gedankengangs von Ronnie Grob nochmals herauszustreichen, stelle ich eine einfache rhetorische Frage: Wer kann besser beurteilen, was eine gute Kulturberichterstattung ist, der kulturinteressierte Leser oder jemand, der sich auf eine liberale Ideologie eingeschworen hat?

Ferner: Warum soll ein Kulturjournalist Mitglied der FDP sein? Was hat diese Mitgliedschaft mit seinem fachlichen Können zu tun?

Fazit: Beim Feuilleton auf einer „liberalen Ausrichtung“ zu bestehen, kann nichts anderes heissen, als dass die Kulturjournalisten auch noch Politik machen sollen, statt sich dem zu widmen, was sie am besten können.

Solange dieser Vorwurf im Raum steht, gibt es für Kulturinteressierte keinen Grund, ihr Abonnement der NZZ aufrechtzuerhalten.