Zahlensalat (VI): Was Datenjournalismus (nicht) leistet
Datenjournalisten sind Meister im Aufspüren und Aufbereiten von Daten. Sie hauchen langweiligen Zahlenreihen Leben ein und gewinnen ihnen neue Erkenntnisse ab. Schöne Infografiken können allerdings auch zu voreiligen Schlüssen verleiten.
Immer mehr private Unternehmen und öffentliche Stellen sammeln immer mehr Daten, staatliche Institutionen sind aus Transparenzgründen gesetzlich dazu angehalten, ihre Daten zu veröffentlichen. Kommt hinzu, dass heute schon handelsübliche Computer grosse Datenmengen verarbeiten können. Die neuen Rahmenbedingungen haben nicht nur die wissenschaftliche Forschung umgekrempelt, sondern längst auch den Medienbetrieb erreicht. Mit den Datenjournalisten hat sich ein neues Berufsbild in den Redaktionen etabliert. Der Tages-Anzeiger dokumentiert seine diesbezügliche Aktivitäten im sogenannten Datenblog, die NZZ betreibt digitales Storytelling, wo Daten eine zentrale Rolle spielen und bei SRF arbeitet ein junges Data Team.
Aber was genau ist dieser Datenjournalismus?«Wir betreiben Journalismus mit technischen Mitteln und unter Einbezug von Datensätzen», umreisst Julian Schmidli sein Arbeitsfeld. Schmidli arbeitet als Datenjournalist im SRF Data Team (MEDIENWOCHE-Porträt 2014). Nun sind bunte Grafiken in den Medien nichts Neues, doch Datenjournalisten beherrschen zusätzlich die Datenexploration, sprich die Suche nach Mustern in Datensätzen. Und sie gehen innovative, oft interaktive Wege in der Präsentation der Daten. Im besten Fall werden so Zusammenhänge und Sachverhalte sichtbar, die bei der Darstellung auf Papier keinen Platz finden würden. Aus der interaktiven Kriminalstatistik von SRF Data lässt sich etwa herauslesen, dass die Monegassen die kriminellste Ausländergruppe der Schweiz sind, wenn man denn mal sämtliche Ecken der Statistik ausleuchtet.
Datenjournalismus ist aber nicht nur Spielerei, sondern dient ernsthaftem Erkenntnisgewinn. Deshalb muss man sich auch der Probleme bewusst sein. Eine Gefahr sieht Julian Schmidli in der Qualität der Daten. Immer öfter würden Daten auch von PR-Agenturen oder Verbänden angeboten. Daraus liesse sich vielleicht eine schöne Geschichte herauslesen, erweise sich aber oft als problematisch. «Das SRF Data Team prüft die Zahlen daher genau und wir verlangen auch die Rohdaten heraus», versichert Schmidli.
Doch auch bei guter Datenqualität lauern immer noch Fallen, in die jeder tappen kann, der mit Statistiken arbeitet. «Oft werden Äpfel mit Birnen zu vergleichen», beobachtet Alexandra Stark, Journalistin und Studienleiterin an der Journalistenschule MAZ. So wurde jüngst Basel-Stadt von verschiedenen Redaktionen zum gefährlichsten Ort der Schweiz erkoren, der Zipfel in der Nordwestschweiz war blutrot gefärbt auf der Infografik. Ob Sozialhilfequote, Leerwohnungsziffer, Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner: Basel gehört immer zu den Spitzenreitern, respektive Schlusslichtern – schlicht und ergreifend weil der Kanton fast nur Stadt ist. Der Vergleich mit Appenzell-Innerrhoden ist für Basel-Stadt höchstens rufschädigend, aber wenig hilfreich.
Manchmal krankt eine Infografik daran, dass die präsentierten Zahlen nicht ins richtige Verhältnis gesetzt werden. So konnten wir kürzlich in einer Infografik des Tages-Anzeigers ablesen, dass VW bei Autodieben (Achtung wiederum in Basel!) die beliebteste Marke ist. Dabei ging vergessen zu erwähnen, dass VW auch bei normalen Schweizern gut ankommt, gefolgt von weiteren Spitzenkandidaten in der Diebstahlstatistik wie BWM, Mercedes oder Audi. Gestohlen wird vor allem, was herumsteht. Die Berechnung der relativen Diebstahlhäufigkeit hätte aber gezeigt: Passen Sie auf Ihren Land-Rover auf!
Derselbe Mangel haftet auch den beliebten Unfallkarten an, die zeigen, wo in der Schweiz wie viele Unfälle stattgefunden haben. Würden auf Grundlage solcher Karten Massnahmen zur Strassensicherheit ergriffen, würden stark befahrene Kreuzungen mit vielen Blechschäden priorisiert und lebensgefährliche Zebrastreifen ausserorts vernachlässigt. Sollen Unfallkarten einen Nutzen stiften, müssen mindestens Verkehrsaufkommen und Schwere der Unfälle mitberücksichtigt werden.
Auch wenn die Infografik makellos ist, so bleibt oft die Frage nach dem «warum». Das Problem kennt auch die datengetriebene Forschung: Man identifiziert zwar klare Muster im Datensatz, aber mangels Theorie fehlt einem die Erklärung dazu. So bleibt trotz schönen Grafiken im Halbdunkeln, weshalb in der Westschweiz mehr Autos gestohlen werden, der Bund so viele Informatikaufträge freihändig vergibt und wieso Genfer so wenige klimafreundliche Heizungen betreiben. «Die Analyse und Interpretation von Daten setzt eine vertiefte Kenntnis der Materie voraus», gibt Wissenschaftsjournalist Felix Straumann von «Tages-Anzeiger/Sonntagszeitung» zu bedenken. Dies können aber nur Wissenschaftler leisten, die nicht nur die Daten, sondern auch das Forschungsfeld gut kennen. «Wir haben keinen wissenschaftlichen Anspruch, wir sind Journalisten», stellt Julian Schmidli klar. «Aber wir halten uns an strenge Regeln und weisen auf Probleme hin.»
Alexandra Stark von der Journalistenschule MAZ warnt davor, ohne konkrete Fragestellung in Datensätzen herumzustochern. Das Risiko sei gross, dass dabei wenig relevante Ergebnisse herauskommen. Sie plädiert für den umgekehrten Weg: «Zuerst frage ich mich, was ich wissen will und dann schaue ich, ob ich dazu Daten finde. Beantworten die Daten meine Frage nicht, recherchiere ich das Thema anders.» Datenjournalismus ist für sie eine wichtige Ergänzung zu den herkömmlichen Recherchemethoden.