Print stinkt
Wenn gedruckte Medien eine Zukunft haben sollen und die Rede von der Emotionalität des Papiers nicht nur hohle Phrase bleiben soll, dann muss sich das Print-Gewerbe schleunigst mehr Mühe geben, damit ihnen das Netz nicht endgültig den Rang abläuft.
Drucksachen seien emotional, wird wie ein Mantra wiederholt. Print spreche alle Sinne an, man könne es fühlen, hören und riechen. Als gelernter und gegautschter Schriftsetzer müsste ich jetzt zustimmend nicken und mich einreihen in die Schar all jener, die das Internet als flüchtig, oberflächlich und chaotisch bezeichnen. Aber Print stinkt, und zwar im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Viele Drucksachen, vor allem auf ungestrichene Papiere gedruckt, verströmen einen üblen, an Petrolium erinnernden Gestank. Zugegeben, auch das weckt Emotionen, aber nicht im Sinne des Absenders. Liebe Auftraggeber und Drucker: Eure Drucksachen müssen nicht wie Mineralöl-Stinkbomben daherkommen, es gibt genügend positive Beispiele, auch ohne den Einsatz von Duftlack.
Ein weiterer Grund, weshalb Drucksachen nur noch ausnahmsweise mit positiver Emotionalität punkten können ist das mangelnde handwerkliche Verständnis. Professionelle Bildbearbeitung findet kaum mehr statt oder die Druckindustrie hat nach gefühlten 2000 Jahren Color-Management noch immer nicht begriffen, wie man nach Standards und Normen berechenbar produziert, ganz im Gegensatz zu praktisch allen anderen Industriezweigen. Gerade gedruckte Bilder hätten das Potenzial, Emotionen zu wecken und die Sinne anzusprechen. Umso mehr schmerzt die vergebene Chance.
Und dann noch der Umgang mit der Typografie, sofern überhaupt noch verstanden und angewandt. Diese Kunstform hat neben der Ästhetik auch eine ganz praktische Aufgabe: Orientierung und Lesbarkeit. Manche Gestalter meinen wohl, Mikrotypografie bedeute, die Grösse der Buchstaben möglichst klein zu halten, um möglichst viele davon auf einer Seite unterzubringen. Mit meiner Kurzsichtigkeit von 7 Dioptrien ist mir das Lesen von vielen Zeitschriften fast nicht mehr möglich weil extrem anstrengend. Viele, vor allem ältere Menschen, können ein Lied davon singen. 1:0 für skalierbare Inhalte auf Bildschirmen.
Die Vorteile der digitalen Kommunikation zu leugnen und dabei die scheinbaren Vorzüge von Drucksachen in gesundbeterischer Manier zu preisen,wird dem bedruckten Papier keine Renaissance bescheren. Ein erster Schritt wäre es, das über Jahrhunderte gelernte Verständnis des Druckhandwerks wieder zu entdecken und konsequent anzuwenden. Das Medium Papier hätte etwas mehr Achtsamkeit und Wertschätzung verdient.
Lahor jakrlin 24. August 2017, 16:53
Toll.
Aber bitte nicht vergessen: In Zukunft muss „real-time“ und wo vorteilhaft gar personalisiert gedruckt werden, auch kleinere Auflagen. Die Digitalisierung macht das möglich.
Abgesehen davon: Uhren- oder Kunst- oder Auto-Kataloge sind gedruckt einfach ein anderes Erlebnis als PDFs …
Louis Debrunner 24. August 2017, 17:10
Lieber Thomas
Das ist Balsam auf mein ex-Typografen- und Korrektor-Herz!
Was da von Werbeagenturen und studierten Uni-Abgängern des Geldes wegen verbrochen wird, ist unbeschreiblich.
Weisst du noch, dass uns in der Lehre Sorgfalt und Genauigkeit und Selbstverantwortung gepredigt wurde?
Herzliche Grüsse mit einem Gott grüss‘ die Kunst! (und noch mehr!)
Heinz Urben 25. August 2017, 09:34
Geschätzter Kollege Paszti
Als Schreibkollege wie auch als Buchdrucker und Offsetdrucker kann ich Ihnen in Vielem beipflichten. Da ich mittlerweile auch im Bereich 60+ lebe, treffen mich die 7 Punkt Schriften ebenso hart wie Sie.
Den Fehler, nicht auf die Zielgruppe einzugehen, findet man nichtt nur in den Printmedien, auch die digitalen Ansichten sind zum Teil sehr schwer lesbar. Aber, wenn Man(n) das Können hat, dann kann man auf digitalen Kanälen immer irgendwie die Ansicht vergrössern, und so die Lesbarkeit auch für gefühlte Grufties verbessern.
Aber das sind alles Nebenschauplätze. Print hat dramatisch an Bedeutung verloren und wird mengenmässig auch weiter verlieren. Daran ändert auch das Herunterbeten aller Vorteile von Print nichts. Ob Print denn riecht, stinkt oder einen Wohlgeruch verströmt ist unerheblich, denn das Medium hat seinen dominierenden Platz im digitalen Umfeld verloren.
Die Branche muss begreifen, dass man mit protektionistischen Vorschlägen und dem Herumwüten auf den ausländischen Online-Druckereien nichts erreicht. Der Markt sagt, wo es lang geht.
Darum wird es Zeit, dass die Drucker zu Mediendienstleistern werden, mit allem Know-how das sie haben, und zu selten gegen Bezahlung einsetzen. Ob Mikrotypo oder professionelle Bildbearbeitung, wer anders als die Profis in der Grafischen Industrie hat das Zeug dazu, tolle Medienbeiträge zu erstellen? Ob der Output dann digital oder analog oder beides wird, ist völlig unerheblich.
Es wäre schön, wenn sich die Branche auf ihre Stärken besinnt, diese ausspielt und auch fakturiert. Dann besteht die Möglichkeit, dass es auch wieder aufwärts geht – wenn es der Markt zulässt.
Gott grüss die Kunst
Heinz Urben, Buchdrucker, Offsetdrucker, Fachjournalist SFJ
P.S. Ich hoffe, ich habe keine Rechtschreibefehler in meinem Kommentar. Denn auch die korrekte Schreibweise ist ein Gut, das leider immer mehr verloren geht. Darum tragen wir Sorge zu Sprache, Typografie und Gestaltung.
Rainer Stadler 25. August 2017, 12:06
Angesichts der vielen leserfeindlichen Designs im Internet könnte die digitale Branche noch viel lernen vom Handwerk der gedruckten Presse.
Beatrice Stauffer 30. August 2017, 14:01
Dieser Artikel spricht mir (als Typografin) aus dem Herzen …