«Habe ich ein Thema gefunden, male ich Mindmaps»
So schreibe ich: Nina Kunz über ihre Kolumne «Die Blue Whale Challenge» in der Rubrik «Lexikon der Gegenwart» im «Magazin» vom 9. September 2017. Die grösste Herausforderung sei es hier gewesen, «den Grat zwischen Voyeurismus und Aufklärung zu finden».
Nina Kunz schreibt eine Kolumne über die «Blue Whale Challenge», ein Internetspiel, das Teenager zum Selbstmord motiviert. Es handelt sich um ein Generationenthema in einer Generationenkolumne. Doch im Zentrum dieses Eintrags im «Lexikon der Gegenwart» geht es um Suizid. Voyeurismus gehören da ebenso zur Lesemotivation wie gesellschaftliche Ängste. Damit musste Kunz umgehen und trotz der verlockenden Abzweigungen zu billiger Aufmerksamkeit, auf beschränktem Platz auf inhaltliche Auseinandersetzung fokussieren. Kunz begegnete dem Thema ohne zu moralisieren oder zynisch zu werden. Ihr Text hält die Gratwanderung aus.
«Das Konzept des «Lexikons der Gegenwart» habe ich einer Gruppe Gymnasiastinnen erläutert und meine Themen durch sie gegengecheckt, denn natürlich bin ich nicht mehr 16. Ich bin 24 – genau in der Mitte zwischen 18 und 30. Deshalb kann ich meinen Themen reflektiert begegnen, aber trotzdem üben sie immense Wirkung auf mich aus. Ich verbringe sehr viel Zeit auf Instagram.»
Die anderen Kolumnen von Nina Kunz tragen Titel wie «Kim Kardashians Gesäss», «YOLO» oder «Digital Detox». Nomen ist bei ihr omen: Jede Kolumne verhandelt jeweils ein Gegenwartsphänomen. Die «Blue Whale Challenge» ist bisher das einzige, das – Kunz Kolumne bleibt da genauso ambivalent wie Wikipedia – potenziell hunderte Tote zur Folge hatte.
Die Texte von Nina Kunz erklären der «Magazin»-Leserschaft nicht nur, was gerade in den Lebenswelten, die Instagram zum Zentrum ihres Sonnensystems haben, geschieht, sondern enden in Grundsatzfragen.
«Ich bin zwischen Joan Didion- und Susan Sontag-Büchern aufgewachsen. Es war immer klar: Frauen schreiben. Und Frauen schreiben nicht nur über die leichten Themen, für die sich Carrie Bradshaw aus Sex & the City interessiert. Eine der Gymnasiastinnen hatte mir den Hinweis auf die «Blue Whale Challenge» per Whatsapp geschickt. Ich rief sofort in der Redaktion an, um einen neuen Text anstelle des bereits für diese Woche geplanten anzukündigen.»
Kunz‘ Texte erklären der «Magazin»-Leserschaft nicht nur, was gerade in den Lebenswelten, die Instagram zum Zentrum ihres Sonnensystems haben, geschieht, sondern enden in Grundsatzfragen. Ihre Texte sind meta, was das Vorhaben über die «Blue Whale Challenge» zu schreiben, noch heikler gestaltet.
«Selbst wenn die «Blue Whale Challenge» nur ein Märchen ist, finde ich sie extrem aufwühlend. Deshalb war es eine Herausforderung, den Grat zwischen Voyeurismus und Aufklärung zu finden. Mir ist es wichtig, das Thema zu verorten, aber es mit der Kolumne nicht noch aufzubauschen.»
«Das Kolumnenschreiben ist ein Spiel mit dem Erwartbaren.»
Das Layout gibt dem «Lexikon der Gegenwart» den Fokus auf der Doppelseite, denn der Reihentitel im pinken Balken ist das einzige farbige Element. Die Texte von Daniel Binswanger und dem Geschichtsprofessor Oliver Zimmer kämpfen ohne Farb-Doping um Aufmerksamkeit. Beim ersten Lesen der «Blue Whale Challenge» denkt man während den ersten zwei Absätzen, es handle sich um ein absurdes, aber im Kern harmloses Jugendphänomen. Formulierungen wie «das kränkste Spiel, das im Internet je gespielt wurde…» tragen neben dem farbigem Balken eher zur empfundenen Harmlosigkeit bei. Bis zum letzten Satz des zweiten Absatzes, ein Zitat aus den Anweisungen, die Teilnehmer*innen der «Blue Whale Challenge» erhalten: «Töte dich selbst!»
«Das Kolumnenschreiben ist ein Spiel mit dem Erwartbaren. Statt dass man wie im Tagesjournalismus gewisse Werkzeuge, zum Beispiel den szenischen Einstieg, wählt, darf man in einer Kolumne sperrig sein, Fragen offen lassen oder eine ambivalente Position einnehmen.»
Für jede Kolumne erstelle ich einen kleinen, physischen Ordner. Darin sind die Artikel, mit denen ich mich eingelesen habe, meine Ideen und handschriftlichen Skizzen.
Danach folgt ein Faktenstakkato: Über 100 Tote werden mit der «Blue Whale Challenge» bereits in Verbindung gebracht, Regierungen seien alarmiert und die BBC habe den Urheber des Selbstmord-Spiels ausgemacht. Wer beim Lesen bis dahin geglaubt hat, hier schreibe jemand locker und assoziativ vor sich her, wird eines Besseren belehrt. Satz für Satz ist getaktet. Das «Jö» und das «Yeah» genauso wie die Bezugnahme auf den Philosophen Byung-Chul Han.
«Habe ich ein Thema, male ich Mindmaps. Für jede Kolumne erstelle ich einen kleinen, physischen Ordner. Darin sind die Artikel, mit denen ich mich eingelesen habe, meine Ideen und handschriftlichen Skizzen. Lege ich dann alles sauber aus, ist mein Tisch voll. Bei dieser Sichtung sortiere ich aus und finde für mich raus, welchen Argumentationsweg ich gehe. Dann schreibe ich vielleicht einen Einstieg und geh nochmals zurück zu meiner Materialauslage. Die Arbeit ist ein Dialog mit mir selbst.»
Kunz steigt mit realen Blauwalen ein: «Manche Blauwale sind suizidal.» Eine verwirrende Botschaft und Kunz erster Satz. Bebildert und erklärt, wird er im zweiten, kaum längeren Satz. Der dritte gibt dem Text schon wieder eine andere Wendung. Kunz setzt oft neu an – beim ersten Lesen fällt das kaum auf.
«Der Mut zum Bruch zwischen zwei Absätzen fehlte mir lange. Im Tagesjournalismus hat der selten Platz. Manchmal habe ich während dem Tippen das Gefühl, da klaffe ein Abgrund zwischen zwei Absätzen, aber lese ich den Text dann nochmals mit Abstand, wirkt es stimmig.»
«Erst durch die Arbeit am ‹Lexikon der Gegenwart› realisiere ich, dass ich nirgends – auch nicht an der Uni – gelernt habe, wirklich gute Argumente zu bilden.»
Kunz Kolumne über die «Blue Whale Challenge» funktioniert dank der Furchtlosigkeit gegenüber Brüchen, aber die Brüche sind sauber, es sind Sollbruchstellen. Für unnötige Brüche fehlt auch der Platz. In nur 2287 Zeichen setzt der Text vier Mal neu an, atmet an für eine weitere verdichtete Argumentationskette.
«Erst durch die Arbeit am ‹Lexikon der Gegenwart› realisiere ich, dass ich nirgends – auch nicht an der Uni – gelernt habe, wirklich gute Argumente zu bilden. Ich investiere viel Zeit ins Bilden von Argumenten. Es sind so wenig Zeichen! Ich hab ein Phänomen wie die «Blue Whale Challenge» und es ploppen so viele Argumente und Erzählwege auf, aber ich muss mich für genau einen Weg entscheiden. Wir haben eine Woche Zeit, um eine Ausgabe des ‹Magazins› zu produzieren. Darum muss ich jeden einzelnen Satz gegenüber meinem Redaktor Mikael Krogerus verteidigen können. Jeder Satz, der ins Magazin kommt, wird umgedreht. Die Dimension Zeit macht journalistische Texte besser.»
In der Autorenzeile von Kunz steht, sie sei Historikerin und Journalistin. In dieser Reihenfolge.
«Der Philosoph Byung-Chul Han, der in der Kolumne zur «Blue Whale Challenge» vorkommt, unterscheidet zwischen Information und Wissen. Wissen entzieht sich dem Konsum, Information könne man konsumieren. Ich fühle mich als Hybridmensch zwischen Wissenschaft und Journalismus. Im «Lexikon der Gegenwart» versuche ich Themen, die auf den ersten Blick konsumierbar oder prollig erscheinen, so zu verhandeln, dass sie relevant werden. Mich interessiert es, alle Denkebenen in den prolligsten Themen freizulegen. Ich versuche von einem einzelnen Phänomen zu «What does it all mean?» wegzuzoomen.»
Die «Blue Whale Challenge» ist eine harte Kolumne. Sie hebt sich thematisch von anderen Texten im «Lexikon der Gegenwart» ab. Sie entfaltet beim Lesen, auch deshalb, Wirkung. Aber sie gefällt sich nicht in ihrer Härte! Das ist entscheidend. Denn wenn die harten Themen Konzept in einer Generationenkolumne wären, wäre das Konzept zynisch. Wenn sich die harten Themen ins Konzept einfügen, wäre es aber genauso zynisch, sie zu umschiffen. Der nächste Beitrag im «Lexikon der Gegenwart» war mindestens so relevant. Er handelte von der Sensibilität und Empathie von Kunz‘ Generation.
Bild: zVg/Nina Kunz