von Nina Fargahi

Ein Fall, den es so nicht geben sollte

Wann handelt es sich um eine journalistische Recherche, die Machtmissbrauch aufdeckt? Und ab wann ist es Pranger-Journalismus, bei der eine öffentliche Person medial hingerichtet wird? Nina Fargahi zu #MeToo und zum Fall Werner de Schepper.

Die Journalistin Michèle Binswanger und ihr Kollege Mario Stäuble haben im «Tages-Anzeiger» schwere Vorwürfe erhoben gegen Werner de Schepper, Ex-Chef des «Blick» und Co-Chefredakteur der Zeitschrift «Schweizer Illustrierte». Dieser habe systematisch und über eine lange Zeit hinweg Frauen bedrängt, belästigt und ungefragt berührt. Das bezeugen mehrere Frauen, die nur der Autorin bekannt sind, im Artikel aber nicht namentlich genannt werden.

Für Werner de Schepper dürfte das Leben nach diesem Artikel nicht mehr dasselbe sein. Eine Erfahrung, die zuletzt zahlreiche mehr oder weniger prominente Männer weltweit im Zuge der #MeToo-Enthüllungen machten.

Im Fall De Schepper geht es um eine Kaderperson, die mutmasslich ihre Macht missbraucht hat, um untergebene Frauen sexuell zu belästigen.

Der Fall ist auch aus medienethischer Sicht interessant. So fragt sich, ob solch schwere Vorwürfe in den Medien von anonymer Seite erhoben werden dürfen, selbst wenn den Geschädigten negative Konsequenzen drohten, für den Fall, dass ihre Identität offengelegt würden. Was macht man, wenn die «angeschuldigte» Person eine Stellungnahme verweigert, die zwingend notwendig wäre? Im Kern stellen sich zwei Fragen: Wann handelt es sich um eine journalistische Recherche, die Machtmissbrauch aufdeckt? Und ab wann ist es Pranger-Journalismus, bei der eine öffentliche Person medial hingerichtet wird?

Sexuelle Belästigung darf unter keinen Umständen toleriert werden. Im Fall De Schepper geht es um eine Kaderperson, die mutmasslich ihre Macht missbraucht hat, um untergebene Frauen sexuell zu belästigen. Sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz sind leider keine Seltenheit: Gemäss einer Studie des Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann werden 28,3 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer mindestens einmal sexuell belästigt in ihrem Erwerbsleben.

Wenn also solche Möglichkeiten fehlen, um sexuelle Belästigung zu melden, müssen dann Journalisten in die Bresche springen?

Trotzdem fehlen weiterhin unabhängige Ombudsstellen, wo solche Fälle niederschwellig und ohne Angst vor negativen Konsequenzen gemeldet werden können, die den Missbrauchsfällen seriös und diskret nachgehen sowie griffige Massnahmen ergreifen können. Die Personalverantwortlichen oder allfällige Personalkommissionen in den Betrieben sind meistens zu eng mit der Unternehmensführung verbandelt, so dass sie nicht die notwendige Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit für die Aufarbeitung solcher Fälle haben.

Wenn also solche Möglichkeiten fehlen, um sexuelle Belästigung zu melden, müssen dann Journalisten in die Bresche springen? Die mediale Hinrichtung von Werner De Schepper ist als Ausdruck mangelhafter Strukturen zu verstehen. Dass de Schepper fortan als «Sexgrüsel» und «Tööpeler» bekannt ist – in welchem Mass das nun zutrifft oder nicht – hat auch damit zu tun, dass in den Medienunternehmen, in denen De Schepper tätig war und ist, keine unabhängigen Ombudsstellen vorhanden sind. So scheint im Fall de Schepper für die Betroffenen der Gang an die Öffentlichkeit der einzige Weg gewesen zu sein, um sich angemessen Gehör zu verschaffen.

Die vorhandenen Strukturen lassen es zu, dass Männer in Kaderpositionen ihre Stellung ungestraft ausnützen können, um Untergebene sexuell zu belästigen.

Das ist die eigentliche Quintessenz der Tagi-Recherche: Die vorhandenen Strukturen lassen es zu, dass Männer in Kaderpositionen ihre Stellung ungestraft ausnützen können, um Untergebene sexuell zu belästigen. Und bis zur #MeToo-Debatte blieb auch der Gang an die Öffentlichkeit aus. Die #MeToo-Debatte hat dies nun und zum Glück geändert. Aber gelöst ist das Problem damit bei Weitem nicht. Nach wie vor braucht es für die Betroffenen enorm viel Mut, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Und für die Angeprangerten besteht die Gefahr, fälschlicherweise der sexuellen Belästigung bezichtigt zu werden, wenn die Vorwürfe nicht überprüft werden können (was niemanden zu interessieren scheint).

Die Forderung, dieses strukturelle Problem anzugehen, muss endlich Gehör finden. Es braucht unabhängige, kompetente und mit Handlungsmacht ausgestattete Stellen, wo sexuelle Übergriffe gemeldet und wo diese Übergriffe umsichtig und griffig untersucht werden können. Denn einen mutmasslichen «Sexgrüsel» medial geteert und gefedert durch das Land zu schleifen, darf nicht das einzige, sondern muss das letzte Mittel sein, um sexuelle Übergriffe anzuprangern.