von Irène Unholz

Wie sich der Tagi von der Kunst verabschiedet

Über eine «Krise der Kunstkritik» wird in Kulturkreisen regelmässig geschrieben und gestritten. Aussagekräftige empirische Befunde dazu sucht man bei allem Diskussionseifer vergebens. Am Fallbeispiel des Tages-Anzeigers untersuchte die Autorin inhaltsanalytisch, ob und wie die journalistische Berichterstattung über bildende Kunst unter dem Sparkurs der vergangenen Jahre leidet.

Lange galten sie als ein unzertrennliches Zweigespann, Kunst und Presse spielten einander in die Hand. Heute versammeln sich die verbleibenden Protagonisten zu Krisentreffen. Kunstkritikerinnen und -kritiker suchen momentan gemeinsam nach Lösungen in der zweiten Runde der Veranstaltungsreihe «Crritic!». In einer ersten Runde stellten die Fachleute vor allem zunehmend schwierige Arbeitsbedingungen fest, sowie allgemein einen desolaten Zustand der Kunstkritik in Schweizer Medien: Sie habe in Zeitungen keinen Platz mehr.

Eine quantitative Inhaltsanalyse der Kunstberichterstattung im Tages-Anzeiger (inklusive «Das Magazin» und Züritipp) zeigt den Abbau an einem konkreten Beispiel. Der Tages-Anzeiger bietet sich darum als Untersuchungsobjekt an, zum einen weil die Zeitung gemäss einer soziologischen Studie von Ulf Wuggenig (2012) im «Kunstfeld» rege rezipiert wird. Zum andern, da das gesamte Blatt und somit auch das Kulturressort während der Medienkrise starken Veränderungen unterworfen waren, angefangen im Jahr 2003 mit einer Kürzung um eine Seite und der Entlassung des Feuilletonchefs. Bis 2009 seien die Stellenprozente des Kulturressorts halbiert und zusätzlich die Aufträge für Freie sowie für Mitarbeitende mit Fixum reduziert worden. Im Jahr 2014 legte die Tamedia AG dann die Ressorts Wissen, Gesellschaft und Kultur des Tages-Anzeigers und der Sonntagszeitung zusammen, womit ein weiterer Stellenabbau einherging. Kooperiert bis zur Unüberschaubarkeit wird mit dem Austausch von Artikeln über verschiedene Zeitungen und Medienhäuser hinweg. Artikelübernahmen aus der Süddeutschen Zeitung etwa sowie gemeinsame Mantelteile mit den Berner Tamedia-Zeitungen schaden zwar der Medienvielfalt, nicht aber prinzipiell der Qualität einzelner Blätter.

Vor diesem Hintergrund dienten die Jahre 2007 und 2017 als Messzeitpunkte. Pro Jahr wurde eine Stichprobe von vier einander entsprechenden natürlichen Wochen gezogen. In diesen Wochen wurden sämtliche Beiträge über bildende Kunst sowohl im Tages-Anzeiger als auch in seinen Beilagen Züritipp und Das Magazin erfasst. Zu den insgesamt rund 200 untersuchten Artikeln zählen alle redaktionellen Beiträge, von Agenda-Einträgen über Reportagen und Interviews bis zu Kritiken, die Kunstwerke oder Personen, Institutionen, Ereignisse und Handlungen aus dem Bereich der bildenden Kunst zum Thema haben (im Folgenden «Kunstberichterstattung» in Abgrenzung zur weitere Kunstgattungen und Themen umfassenden «Kulturberichterstattung»).

Die Resultate geben zunächst einmal Entwarnung: In den rund 30 durchsuchten Zeitungsausgaben und -beilagen pro Jahr war Kunst nahezu tägliches Thema. Auch der flächenmässige Umfang der entsprechenden Beiträge ist in beiden Jahren fast identisch und beträgt zusammengezählt je rund 14.5 Seiten in vier Wochen. Im Zentrum stehen in über der Hälfte dieser Artikel jeweils Kunstwerke und Ausstellungen. Bildende Kunst hat in der Zeitung durchaus noch Platz. Ist also alles wie immer und die Kunstkritik einmal mehr nur angeblich in einer Krise?

Die Erklärung für den gleichgebliebenen Umfang lässt erste Zweifel daran aufkommen. Denn dieser ergibt sich durch einen vergrösserten Bildumfang bei geringerem Textumfang im Jahr 2017 – eine naheliegende Lösung bei verstärktem Produktionsdruck in der Redaktion. Die Anzahl der Beiträge über bildende Kunst hingegen ist insgesamt um fast einen Drittel gesunken. Interessanterweise ist die Artikelanzahl in den Beilagen relativ konstant. Der Abbau fand also vor allem im Tages-Anzeiger selbst statt, konkret im Kulturressort, wo sich die Anzahl der Beiträge mehr als halbiert hat, während die anderen Ressorts ungefähr gleich häufig oder sogar etwas öfter Kunst thematisieren. Im Gegensatz zur restlichen Zeitung ist im Kulturteil auch der flächenmässige Umfang der Artikel über bildende Kunst kleiner geworden.

Im Kulturressort zeichnen sich noch weitere Veränderungen am stärksten ab. Anrisse zu Artikeln über Kunst sind auf der ersten Ressortseite 2017 mit im Schnitt einem pro Woche rar geworden. 2007 waren es wöchentlich immerhin rund vier. Zusammen mit einer Abnahme der Aufmacher auf der ersten Ressortseite zeichnet sich hier klar eine geringer gewordene Gewichtung der bildenden Kunst ab.

Ein Blick auf die journalistischen Darstellungsformen zeigt, dass in beiden Jahren neutral verfasste Nachrichten und Berichte den grössten Teil der Berichterstattung über Kunst ausmachen. Die Kritiken, in denen Kunstschaffen bewertet wird, folgten 2007 noch dicht darauf. 2017 haben sie sich mehr als halbiert und wurden von den Vorschauen überholt (siehe Abbildung). Die Agenda-Einträge erlebten ebenfalls einen massiven Rückgang. Sonstige Formate wie Kommentare, Features, Reportagen, Interviews und Portraits waren in beiden Jahren selten, wobei 2007 Kommentare, Features und Reportagen etwas häufiger waren als 2017. Minim vermehrt haben sich dafür mit Portraits und Interviews die personalisierenden Artikel.


Anzahl und Anteil der journalistischen Darstellungsform von Beiträgen über bildende Kunst im Tages-Anzeiger, Züritipp und Magazin (absolute Häufigkeiten auf den Balken)

Dass die Kritik als Darstellungsform abgenommen hat, kann als Anzeichen einer tatsächlichen Krise der Kunstkritik gedeutet werden. Allein das Vorkommen von Kritiken sagt indes wenig aus über ihre Qualität. Die Kritikbereitschaft, die häufig als zentraler Aspekt der Kunstberichterstattung genannt wird, wurde daher noch näher untersucht. Zum einen wurde die wertende Gesamttendenz der Beiträge ausgewertet (Agenda-Einträge ausgenommen). In beiden Jahren an erster Stelle und etwa gleich häufig stehen Artikel ohne Wertung. Beiträge, in denen ein Urteil gefällt wird, sind bei der geringeren Artikelanzahl somit zwangsläufig weniger geworden. Das gilt für alle drei erfassten Wertungstendenzen, ob positiv, ambivalent oder negativ. Am häufigsten waren in beiden Jahren die positiven Bewertungen. Ambivalente Urteile haben sich ungefähr halbiert. Verrisse kamen 2007 im Schnitt immerhin einmal wöchentlich vor, im Jahr 2017 erschien in den vier untersuchten Wochen noch ein Beitrag mit überwiegend negativer Kritik. Laut Gunter Reus und Lars Harden, Autoren einer 2015 veröffentlichten Studie zur Kulturberichterstattung in Deutschland, korrespondiert diese Entwicklung mit der abnehmenden Anzahl der Beiträge, wodurch die Redaktionen zu mehr Selektion gezwungen seien. Vor dem Hintergrund knapper Personal- und Zeitressourcen stelle sich die Frage: «Warum auf Ereignisse eingehen, die es nicht ‹wert› sind?»

Ein Wandel lässt sich auch feststellen bei der Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Kunst. So wird heute seltener diskutiert, ob ein Kunstwerk sozial oder gesellschaftlich relevant ist. Ermittelt wurde das mithilfe von Bewertungskriterien, anhand derer Urteile gefällt werden. Hiervon waren mehrere pro Artikel möglich. Rein quantitativ hat die Anzahl der unterschiedlichen Begründungen enorm abgenommen. Inhaltlich zeigen sich mit Ausnahme des zu Beginn dieses Abschnitts genannten Kriteriums prozentual gesehen kaum Unterschiede. In beiden Jahren treten mehrheitlich werkzentrierte Wertungen hervor, worunter der Häufigkeit nach formale Aspekte, Originalität, Expressivität, Kohärenz und technisches Können fallen.

Als weiteres Qualitätsmerkmal dient die Beurteilung der journalistischen Einordnungsleistung. Auch hierzu lässt sich in beiden Untersuchungsjahren ein stärkerer Kunst- als Gesellschaftsbezug feststellen, 2017 kommt die gesellschaftskritische Sicht aufgrund der geringeren Anzahl Beiträge insgesamt etwas seltener vor. Erneut zeigen sich hier Veränderungen vor allem im Kulturressort: Enthielten dort 20 Beiträge im Jahr 2007 Einordnungen in einen Kunstkontext, waren es 2017 noch knapp die Hälfte. Für den gesellschaftlichen Kontext verringert sich die Anzahl entsprechender Beiträge noch radikaler von zehn auf zwei.

Weniger Artikel und darin weniger Einordnungsleistung und Kritik, stattdessen mehr und grössere Bilder – es scheint verlockend, an dieser Stelle laut «Boulevardisierung!» zu rufen. Dagegen spricht, dass im Tages-Anzeiger mit seltener vorkommenden Servicehinweisen dazu, wo und wann eine Ausstellung besucht werden kann, ein – im positiven Sinne – populäres, für die Leserschaft hilfreiches Element abgenommen hat. Andere Anzeichen wie die personalisierenden Darstellungsformen, Künstlerinnen und Künstler als Beitragsthema und insbesondere Informationen aus dem Privatleben treten allesamt etwas öfter auf, sind aber immer noch selten.

Im Diskurs über eine Krise der Kunstkritik wird nicht immer klar, ob er sich überhaupt auf die jüngsten Entwicklungen des Mediensystems bezieht oder auf längerfristige kunstgeschichtliche Prozesse wie das Aufkommen der Konzeptkunst und anderer entgrenzender und kritischer Kunstströmungen, die gemäss einiger Autoren das Kritisieren erschweren oder sogar obsolet machen. In der Vergangenheit geltende Massstäbe wie der Fortschrittsgedanke der Moderne (und damit auch das Brechen gewisser Regeln) ist in der Postmoderne hinfällig geworden, wird argumentiert. Um das Risiko, widerlegt zu werden, zu vermeiden, bewege sich die Kritik nur noch im Ungefähren und Vorläufigen, so der Kunstkritiker Hanno Rauterberg. Weiter schreibt er, seien die «grossen Ästhetikschlachten» geschlagen, die Moderne durchgesetzt und «der Kritiker als Kampfgenosse» nicht mehr gefragt.

Die in der Untersuchung festgestellten Unterschiede in der Kunstberichterstattung des Tages-Anzeigers zwischen 2007 und 2017 sind überwiegend formaler und weniger inhaltlicher Art. Daraus lässt sich schliessen, dass der Wandel mehrheitlich auf strukturelle Veränderungen in der Redaktion zurückzuführen ist und nicht auf kunstfeldspezifische Ursachen (etwa einen für die Bedeutungszuschreibung relevanter gewordenen Kunstmarkt).

Im Rahmen der jüngsten Umstrukturierungsmassnahmen mit der Schaffung eines Tamedia-Redaktionspools in Zürich, der alle Zeitungen des Verlags beliefert, dürften die redaktionsübergreifenden Inhalte auch im Kulturteil zunehmen. Wird hierbei insbesondere die Kunstkritik längerfristig noch einen Platz haben – oder können/müssen bald neue Projekte wie Unterstützungsfonds oder Preisgelder Abhilfe schaffen, um sie am Leben zu erhalten?

Die zahlreichen Meldungen zu Sparmassnahmen in der Kulturberichterstattung verschiedener Blätter lassen die Zukunft eher düster erscheinen. So gut wie alle Deutschschweizer Zeitungen scheinen an ihrem Kulturteil zu sparen. Auszubauen scheint einzig die WOZ. Die Wochenzeitung hat 2015 das Kulturressort sowohl umfangmässig als auch personell aufgestockt. Davon profitieren soll nach eigenen Angaben auch die Kunstkritik.

Der Artikel basiert auf der Bachelor-Arbeit der Autorin mit dem Titel «Krise der Kunstkritik? Eine quantitative Inhaltsanalyse der Berichterstattung über bildende Kunst im Tages-Anzeiger vor dem Hintergrund der Medienkrise» am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Fribourg bei Prof. Dr. Philomen Schönhagen.

Leserbeiträge

Lukas Vogelsang 15. März 2018, 16:51

Irgendwie immer irritierend, wenn in der Schweiz über Kulturkritik/ Kunstkritik debattiert wird, aber niemand bei uns anklopft. Die meisten Diskussionen werden rein theoretisch geführt – und dann immer über Tageszeitungen. Niemand fragt, WARUM die Medienhäuser die Kunst- oder Kulturkritik zurückfahren.
Und die Kunst-, Kulturschaffenden fordern viel, aber es geht gar nicht um Medien, sondern um die Präsentation deren Arbeiten. Das Renommee soll gratis sein heute. Was wollen oder brauchen denn die LeserInnen? Diese Studien werden nicht analysiert. Es ist, als ob man „KÄSE“ in der Metzgerei ruft.
Und wie sieht es finanziell aus? Auch das interessiert niemanden. Dabei sind nur über diese Erkenntnisse Lösungen möglich. Aber Lösungen interessiert schlussendich niemanden. Man bleibt bei der Forderung hängen. Denn die Arbeit will man ja nicht.

Irène Unholz 17. März 2018, 19:24

 
Lieber Herr Vogelsang, Sie haben recht, in Bezug auf die Schweizer Kultur- und Kunstberichterstattung ist der bisherige Forschungsstand ziemlich dürftig und Sie stellen einige wichtige Fragen. Ziel dieser Untersuchung war, erst einmal festzustellen, ob und wie sich die Medienkrise (im Sinne einer Finanzierungskrise) überhaupt auf die Kunstberichterstattung auswirkt. Das ist nämlich nicht selbstverständlich, so hat eine ältere Studie von Saxer (1995) bereits Klagen über verschlechterte Arbeitsbedingungen der Kulturberichterstattenden festgestellt, während der kulturjournalistische Output angestiegen war.
 
Dass nicht nach Lösungen gesucht würde, stimmt so nicht, siehe das im Text verlinkte Beispiel von „Crritic!“ oder auch kulturkritik.ch.
 
Dem zweiten Abschnitt kann ich nicht ganz folgen. Was für Studien meinen Sie da genau?
 

Alex Schneider 20. März 2018, 08:26

Kultur- und Sportveranstaltungen vermehrt durch Nutzniessende und Sponsoren finanzieren!

Weil elitäre Kultur heute in hohem Masse von der öffentlichen Hand subventioniert wird, obwohl sie nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nutzt, ist die Frage berechtigt, ob nicht ein grösserer Teil der Aufwendungen von den Nutzniessenden oder Sponsoren bezahlt werden sollte. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Aufwendungen für den Passivsport.