von Benjamin von Wyl

Alt sind nur die anderen

Sie haben in ihrem Berufsleben alles erreicht. Margrit Sprecher gilt als die Meisterin der Reportage. Willy Surbeck ist ein verdienter Lokaljournalist in Basel. An ein Aufhören denken beide nicht. Andere Altersgenossen haben keine andere Wahl als weiterzuarbeiten.

Wenn Margrit Sprecher über das älter werden spricht, spricht sie vor allem über das Altern der anderen. «Schon mit 50 dünnt der Journalistenkuchen aus. Wer mit 60 noch drin ist, muss sich an einen unkündbaren Posten gekämpft haben – 70jährige kenne ich kaum.» Natürlich sei es ein jugendlich geprägter Beruf, sagt die 81-Jährige. Reporter springen auf und rennen los, sobald sie einer Geschichte begegnen. Aber über ihr eigenes Alter denkt Sprecher kaum nach: «Ich hab mich nie besonders jung und nie besonders alt gefühlt.»

Beim Weihnachtsapéro einer Schweizer Zeitung nach dem vierten Bier. Zwei Kollegen, Mitte und Ende 50, erzählen, wie hart es ein Dritter habe. Als Redaktor in seinem Alter noch. Selbst sind sie bloss zwei, drei Jahre jünger – aber der Kollege, der spüre es mit voller Härte: den Jugendwahn im Arbeitsalltag, tausende erlebte und fast ebenso viele geschriebene Geschichten. Ab einem gewissen Alter sei es ein Kampf, sich immer wieder auf neue Geschichten einzulassen.

Es wird zwar viel über den schwierigen Berufseinstieg in die Medienbranche gesprochen und geschrieben, aber wie geht es Journalist*innen eigentlich beim Berufsausstieg? Ist der möglich?

Das Schaffen von Margrit Sprecher, der Reporterin, dreht sich immer um Menschen. Diesen Menschen hänge sie nach, sagt sie. Vor dem zu Bett gehen, wenn sie nachts aufwache und morgens im ersten bewussten Moment. «Sobald die Story geschrieben ist, fällt sie ab wie ein reifer Apfel.» Die Protagonist*innen ihrer vergangenen Geschichten stapeln sich nicht in ihrem Bewusstsein. Oft lese sie die eigenen Texte gedruckt nicht mehr – die nächste Begegnung und die nächste Geschichte drängt. So leben zu dürfen, empfindet sie als Luxus. Das Hamsterrad des Tagesjournalismus, das sich mit den Sparrunden verschärft, führe zur Erosion. Dann lande man früher oder später bei einer NGO oder in einem PR-Büro. Als Reporterin müsse sie sich den Annehmlichkeiten verweigern, die ihr durch ihr Renommee automatisch zukommen. Aus beruflicher Überzeugung: «Jede Zugehörigkeit zu einer Gruppe macht unfrei. Alle Annehmlichkeiten machen unfrei.» Auch ihr Ruf als kritische Beobachterin, die das Erlebte messerscharf in ihre Texte übertragen kann, störe bei der Arbeit eher. Insbesondere «Handelnde», wie sie die Akteure ihrer Geschichten nennt, seien im Kontakt mit ihr zurückhaltend und erwarten bereits, dass Sprecher sie filetieren wird.

Sprecher mag keine Gespräche über abstrakte Themen: Debatten seien in den heutigen Medien eine Möglichkeit, kostengünstige Artikel zu schreiben, findet sie. Die Schreibenden müssen dazu nicht mal raus und von den Debatten bleibe oft nur aufgeregtes Geschwätz. Aber auch Sprecher vertritt eine grosse Linie: In ihren Porträt-Reportagen erlebt sie manche Protagonist*innen als «Behandelte» und andere als «Handelnde». Manche Menschen als solche, über die entschieden wird und andere als solche, die Entscheidungen treffen. Natürlich stellt sie sich im Zweifel immer gegen die Mächtigen: Die «Handelnden» müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Vielleicht gehört diese alte Reporter*innenweisheit auch wirklich nicht auf die Meta-Ebene, sondern speist sich aus mehr als 50 Jahren Berufserfahrung.

Willy Surbeck ist Berufskollege von Sprecher und war als solcher selbst lange in einer Machtposition. Als Telebasel-Chefredaktor prägte er die Meinungen in der Region. Seine lokale Prominenz brachte ihm auch Annehmlichkeiten.

«Früher hat mich das 6er-Drämmli zwischen zwei Stationen aufgeladen. Ich hab mich auf Entzugserscheinungen eingestellt – auch darauf, mich auf dem Markt anpreisen zu müssen.»

So beschreibt der heute 62-Jährige seinen Abgang nach 15 Jahren als Chefredaktor bei Telebasel. Erst kürzlich hat ihn ein Tramchauffeur erkannt und ihn ausserplanmässig zusteigen lassen. Wirken tut Surbeck mittlerweile als Kommunikationsberater, Musiker und freier Journalist, unter anderem für das Nachrichtenmagazin «10 vor 10» von SRF. Zwar sei seine Ausdauer geringer, aber er arbeite schneller als vor 25 Jahren: Erfahrungswissen, eingeimpftes Handwerk, Kontakte. Das wichtigste Gut im Journalismus ist für Surbeck das persönliche Beziehungsnetz. Leute, die man anrufen kann, um ihre Einschätzung zu erfahren, um Informationsbausteine zu haben, bevor sie öffentlich relevant werden.

Nach seinem Abgang bei Telebasel vermeldete die «Basler Zeitung» Surbeck verabschiede sich in den «vorzeitigen Ruhestand». Dazu ist es nie gekommen. Surbeck habe am ersten Tag in der freien Wildbahn eine neue Visitenkarte entworfen. Bevor sie gedruckt war, kam bereits der erste Anruf. «Mein Name ist meine Marke», sagt der 62-Jährige. Darauf ist er angewiesen, denn eine Frühpensionierung könne er sich nicht leisten. Sein Gehalt als Chefredaktor sei bescheiden gewesen. Ab 65 könnte er sich den Abschied aus den Medien finanzieren, solange der Tour-Kalender seiner Band gefüllt ist.

Anfragen beim Berufsverband impressum und der Gewerkschaft Syndicom: Gibt es Zahlen oder Statistiken über die Berufssituation von Journalist*innen jenseits der 60? Beide verneinen. Nadja Thalmann von impressum kennt aber Mitglieder, die weit über das Pensionsalter hinaus noch regelmässig journalistisch tätig sind. Marco Geissbühler, bei Syndicom zuständig für die Deutschschweizer Medien westlich von Zürich, erzählt, dass viele, die lange als Freelancer tätig waren, nach Erreichen der Pensionierung weiterarbeiten – weiterarbeiten müssen. «Oft bemühen sich Freelancer nicht um ihre Pensionskasse. Einerseits natürlich weil es für sie zusätzlichen Administrationsaufwand bedeutet. Vor allem aber weil sie ohnehin knapp kalkulieren müssen», so Geissbühler. Die AHV und die Ergänzungsleistungen decken nur das Existenzminimum – zum Leben reicht das nicht.

Margrit Sprecher arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Ressortleiterin bei der Weltwoche. Für sie war das Rentenalter eine Befreiung.

«Bei der Weltwoche war ich immer für alle anderen da und am wenigsten für meine Geschichten und mich selbst. Das Schreiben musste ich damals auf die Abende und Wochenenden schieben.» Margrit Sprecher

Auch mit 81 sieht sie kein Ende. Wie auch? «In diesem Jahr war ich schon an so unterschiedlichen Orten wie dem WEF-Hauptquartier in Genf und der Strafanstalt Pöschwies. Ich war bei einem Tetraplegiker, der Weltklasse-Athlet ist, und der teuersten Korsettschneiderin Europas», begeistert sie sich. Arbeit heisst Erleben, Erleben ist spannend.

Surbeck muss schmunzeln, als er erzählt, wie 1998 ein Interview für Telebasel im Zuge der «Basler Justizaffäre» ein frühes Fazit ermöglichte, bevor der «Blick» die erste Zeile zum Thema veröffentlichte. Die angebliche oder tatsächliche Affäre drehte sich um Halbweltkontakte und Korruption bei Polizei und Justiz in Basel-Stadt. Sie blieb ohne strafrechtliche Folgen, beendete aber einige juristische und journalistische Karrieren. Surbecks Werdegang hat sie befeuert; kurz darauf wurde er Chefredakteur.

Willy Surbeck wirkt geübt in der Nacherzählung seines Arbeitslebens. Während seiner Jahre als Reporter – lange freischaffend, dann fest bei der Basler Ausgabe des «Blick», der Wochenzeitung «Doppelstab» und schliesslich bei Telebasel – hatte er heisse Geschichten gesucht. Interessant war alles, was von der Norm abweicht.

«Das Drämmli, das innerhalb der Schiene fährt, ist keine Geschichte. Fährt das Drämmli ausserhalb, ist es eine.» Willy Surbeck

Als Telebasel-Chef ging es dann um die Grundfrage «Was ist der Sinn des Ganzen?» Die musste er für sich, aber auch gegenüber der Trägerschaft und den eigenen Leuten beantworten. Das verhärtete seinen Ethos, der bis heute gelte: «Alles, was ich tue, soll die Kompetenz und Innovationskraft der Zuschauer fördern.» Egal, ob in beratenden Tätigkeiten oder journalistischen Aufträgen.

Neben Auftragsarbeiten gönnt sich Surbeck auch die Arbeit an eigenen Projekten. Ein langfristigstes Vorhaben ist die Realisierung eines Dokumentarfilms über den Ursprung von Blues- und Rockmusik in Louisiana. Begeistert erzählt Surbeck – selbst Bassist – von den zehn Ortschaften, in denen die Musik wurzle und von der Community, die sich an Jam-Sessions bilde. Seine Thesen hat Surbeck bereits gefunden; der Film ist aber noch Work in Progress.

«Handelnde» und «Behandelte» gibt es auch in der Medienbranche. Sprecher und Surbeck konnten und können entscheiden, mit wem und mit was sie sich auseinandersetzen. Beide sind in den meisten Situationen «Handelnde». Ihr grosser Handlungsrahmen beruht auf ihrem Ruf innerhalb und ausserhalb der Medienbranche. Sprecher geniesst nationale Bekanntheit; Surbeck ist in der Region Basel ebenfalls eine bekannte Figur. So gut geht es aber längst nicht allen Journalist*innen im Alter, weiss Gewerkschafter Geissbühler: «Die acht SDA-Mitarbeitenden, denen eine unfreiwillige Frühpensionierung bevorsteht, erwarten teilweise Pensionskassenleistungen von unter 2000 Franken im Monat. Wir kämpfen um einen Sozialplan, der das ausgleicht.» Momentan würde sie nach langen Berufsjahren eine prekäre Pensionierung erwarten.

Zum Abschluss lässt Surbeck eine Version des Funk-Songs «Tipitina» über seine Anlage laufen und geht mit dem Beat mit. «Was halten Sie davon?» ist die letzte der zahlreichen Gegenfragen im knapp dreistündigen Gespräch. Margrit Sprecher setzte immer wieder an, die Gesprächskonstellation umzudrehen. Irgendwann fragt sie mit Nachdruck: «Haben Sie denn Ziele?» Es widerstrebte beiden, dass sie einmal – einmal mehr – die Interviewten waren. Die Neugier auf die Anderen, das Andere und die Perspektive der Anderen – sie ist alterslos. Und bei beiden so lebendig wie eh und je.

Leserbeiträge

Rita Imwinkelried 08. April 2018, 12:49

Gutes Thema. Vor allem als Freischaffende kann man nicht einfach aufhören. Ich als Freelance-Auslandkorrespondentin habe begonnen, mit Uebersetzen zu integrieren und damit eigentlich eine Bereicherung erfahren.