von Adrian Lobe

Digitales Versteckspiel in der smarten Stadt

Jeder Schritt, jede Bewegung hinterlässt heute eine Datenspur – egal, ob im virtuellen oder physischen Raum. In Städten, und insbesondere in smarten Städten, werden Bild und Ton rund um die Uhr aufgezeichnet und ausgewertet. Die elektronische Überwachung erfolgt weitgehend unsichtbar. Widerstand dagegen ist heute noch möglich, aber auf lange Sicht zwecklos, denn die Systeme lernen schneller als der Mensch handeln kann.

Der Soziologe Georg Simmel beschrieb in seinem Aufsatz «Die Grossstädte und das Geistesleben» aus dem Jahr 1903 das Leben in der Grossstadt als hektisch, anonym und sozial distanziert. Doch mit der Anonymität in Städten ist es im digitalen Zeitalter nicht mehr allzu weit her. Der urbane Raum wird mit immer Kameras und Sensoren ausgestattet. An jeder Ecke werden Kameras und Gesichtserkennungssysteme installiert, die Bürger auf Schritt und Tritt überwachen. Früher konnte man die Videokameras noch sehen, doch mittlerweile werden sie in Strassenlaternen versteckt und als harmloses Stadtmöbel in den öffentlichen Raum geschleust. In einigen Städten Chinas werden Fussgänger, die bei Rot über die Strasse gehen, per Gesichtserkennung identifiziert und als Verkehrssünder auf Bildschirmen an den Pranger gestellt; der Bussgeldbescheid wird automatisch aufs Smartphone zugestellt. In den USA sind in über 100 Städten akustische Sensoren (sogenannte «ShotSpotter») auf Häuserdächern installiert, die Schüsse lokalisieren und automatisch die Polizei alarmieren.

Ob auf dem Parkplatz oder unter Strassenlaterne hinterlassen wir einen riesigen Datenschweif, aus dem man detaillierte Bewegungsprofile und Gewohnheitsmuster ableiten kann. Die Frage ist, ob man sich überhaupt noch anonym im öffentlichen Raum bewegen kann, ohne ständig sein Gesicht als Nummernschild mit sich herumzutragen. Kann man der omnipräsenten Überwachung entkommen? Gibt es ein Opting-Out? Während Datenschützer und Bürgerrechtler die Präzision und Sehschärfe von Kamerasystemen begrenzen wollen, will die Obsfucation-Bewegung die Technik mit ihren eigenen Waffen schlagen.

Der Künstler Adam Harvey hat eine Gesichtsmaske namens Hyperface entwickelt, das durch multiple Bildrepräsentationen Gesichtserkennungssoftware austricksen soll. Das System funktioniert vereinfacht so: Per Computer werden algorithmische Repräsentationen eines Gesichts generiert, die sich zu einem Muster zusammenfügen. Diese Hyperface-Struktur, die ein wenig aussieht, als würde man eine Menschenmasse mit zusammengekniffenen Augen in Schwarz-Weiss ansehen, irritiert die Algorithmen dergestalt, dass sie in der Vielzahl von Gesichtern keine biometrischen Merkmale einer bestimmten Person zuordnen können. Es ist, als würde man tausende Datenpakete in einen Trichter stopfen, bis die Maschine ins Stottern kommt. Andere Camouflage-Techniken operieren mit Kopfbedeckung oder asymmetrischer Gesichtsbemalung, welche die maschinellen Systeme in die Irre führen sollen. Das ist subtiler und subversiver als eine Sonnenbrille oder eine Maske, die einen Verdacht erzeugt. So kann man sein Gesicht wahren, ohne sich gleich vor der Überwachungstechnologie nackt bzw. ehrlich machen zu müssen. Es ist bekannt, dass Gesichtserkennungssysteme noch immer Probleme bei biologischen Alterungsprozessen oder Veränderungen der Frisur haben.

Die Idee der Obfuskation (vom Englischen «obfuscate» für «vernebeln», «unklar machen», «verwirren») ist es, dass man sich zwar nicht unsichtbar machen, aber zumindest in Datenwolken umhüllt verbergen kann. Die Webseite «Internet Noise» generiert etwa durch das Aufrufen randomisierter Seiten eine Fake-Browsing-History, welche das Suchinteresse des Nutzers vernebelt und so die Informationen für Webseitentracker entwertet.

Ein anderer Ansatz ist es, Informationen für eine logische Sekunde unkenntlich zu machen. In den USA werden seit geraumer Zeit sogenannte Kamera-Jammer für Autos verkauft, spezielle Geräte, die unter dem Nummernschild befestigt werden und beim Rotlicht der automatischen Kennzeichenerfassung einen Blitz auslösen, sodass das Kennzeichen für den Bruchteil einer Sekunde unlesbar wird. Man muss sein Kennzeichen nicht abschrauben, um unerkannt auf öffentlichen Strassen unterwegs zu sein, was ohnehin nicht zulässig wäre. Gleichwohl: Die technischen Vorrichtungen sind illegal – die Polizei geht mittlerweile scharf dagegen vor.

Das israelische Start-up D-ID etwa derweil eine Software entwickelt, die Gesichter auf Fotos von unautorisierten, automatisierten Gesichtserkennungssystemen schützen soll. Das Programm modifiziert die biometrischen Punkte im Gesicht dergestalt, dass sie zwar für das menschliche Auge noch erkennbar sind, für Gesichtserkennungsalgorithmen jedoch nicht mehr. «Eine Firewall für Ihre Identität», wirbt D-ID auf seiner Webseite.

Das Problem ist, dass die Computerisierung von Städten der Privatsphäre zuwiderläuft. Denn damit die intelligenten Systeme funktionieren – etwa Beleuchtungssysteme, die sich nur zu bestimmten Uhrzeiten aktivieren –, müssen sie jede Menge Daten über die Bürger sammeln. Wer bewegt sich wann wohin? Wie viele Menschen laufen nachts an der Kreuzung XY über die Strasse? Wie häufig wird das Rotlichtviertel frequentiert? Die Erhebung der Daten mag anonymisiert und auf einer quantitativen Ebene erfolgen. Doch letztlich führt die Stadt mit solchen Analytics-Systemen – zum Beispiel Videoüberwachung an Bahnhöfen oder automatische Kennzeichenkontrolle im City-Ring – eine permanente und zum Teil verdeckte Volkszählung durch, was zumindest hierzulande Fragen nach dem Datenschutz aufwirft.

Der Stanford-Jurist Albert Gidari argumentiert, dass smarte Städte zu smart für die Privatsphäre seien, weil sie so viele Dinge über den Ablauf des städtischen Geschehens wissen, dass sie nicht einfach die Augen vor den Gewohnheiten der Bewohner verschliessen könnten. Er wünsche sich keine dumme Stadt, so Gidari, aber zumindest eine, die datenschutzrechtlichen Erwägungen Rechnung trägt, bevor sie überall Sensoren und Kameras installiert.

Man wird angesichts der Omnipräsenz der Überwachungstechnologie im öffentlichen Raum – allein in China sollen bis 2020 620 Millionen Kameras im öffentlichen Raum in Betrieb sein – aber nicht umhin können, dass sein Gesicht in irgendwelchen biometrischen Datenbanken landet und dort von Algorithmen ausgewertet wird. Auch das Setzen falscher Fährten ist auf Dauer müssig, weil die maschinell lernenden Systeme immer besser werden und bei der Personenidentifizierung mit dreidimensionaler Gesichtserkennung operieren. Das Leben in der Stadt darf nicht zum Maskenball oder zur digitalen Schnitzeljagd verkommen. Die von Datenschützern gehegte Hoffnung, dass die algorithmischen Systeme in den Datenmengen ertrinken werden und kaum noch belastbare Ergebnisse produzieren können, wird sich wohl als Trugschluss erweisen. Die smarten Städte der Zukunft werden sich in ein elektronisches Panoptikum verwandeln, wo das System genau weiss, wer was zu welcher Zeit tut.

Dieser Text erschien zuerst als Kolumne auf Spektrum.de