SRG: Vertrauen durch Vernetzung
Mit einer grossen Reorganisation reagierte die SRG 1991 auf die Konkurrenz aus dem deregulierten Medienumfeld in den Nachbarstaaten. Das Rezept waren Entstaatlichung und Regionalisierung. Jetzt fehlt noch die aktive Vernetzung mit den Nutzerinnen und Nutzern.
Man hätte gegenwärtigen den Streit über die Zentralisierung beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF vorhersehen können. Es ist ein Wiederholungsfall. Walter Rüegg, Direktor des Deutschschweizer Radios von 1999 bis 2009, erinnert sich: Auch er sollte, wie heute die Generaldirektion, schon Mittel und Wege suchen, um Geld aus der Infrastruktur für das Programm frei zu machen. Auch er prüfte die Möglichkeit, den Standort Bern auf die Bundeshaus- und die Regionalredaktion zu reduzieren und «die Nachrichtenredaktion, die Fachredaktion Ausland und die Senderadaktionen der Info-Gefässe (Echo, Rendez-vous)» nach Zürich zu verschieben. Er verzichtete darauf, denn: «Der Widerstand der Mitarbeitenden war in Bern enorm; Stände- und Nationalräte schalteten sich ein und machten grossen Druck.» Damals wie heute. Und die Rückendeckung der Generaldirektion ging unter dem politischen Druck schnell verloren. Armin Walpen hatte zwar als Generaldirektor den Auftrag zur Reorganisationsstudie gegeben. Aber mit dem wachsenden politischen Widerstand vor Augen erklärte er auf dem eigenen Sender ganz schnell, die Verlegung des Radiostudios von Bern nach Zürich sei keine «idée suisse» sondern eine «idée zurichoise».
Tatsache ist und bleibt: das Erbgut der SRG ist regional.
Im Archiv des EVED, des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschafts-Departements (heute: UVEK), liegt der EVED-Bericht der SRG mit der Kennnummer «SRG Nr. 91.132 vom 30.09.1991». Es ist der Bericht über die erste grosse Reorganisation der SRG seit 1937, eine weitreichende Dezentralisierungsübung, um gegen die neue Konkurrenz der ausländischen kommerziellen Sender (Mediaset, TF1, RTL, Sat1 und andere) bestehen zu können.
Bis dahin hatte die SRG das gesamte Management in seinen wesentlichen Teilen in Bern konzentriert: so unter anderen die Finanzdirektion, die Personaldirektion, die Programmdirektion. Aber eine einheitliche Antwort auf die dynamische Konkurrenz der kommerziellen ausländischen Sender war nicht mehr möglich. Das Angebot von Mediaset aus Italien, TF1 aus Frankreich oder RTL und Sat1 aus Deutschland war zu unterschiedlich, und die führende Marktposition der SRG war gefährdet.
So erteilte die damalige SRG-Führung den Auftrag, die Trägerschaft und die professionelle Organisation zu dezentralisieren und zu professionalisieren. «Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an den gleichen Ort» war Generaldirektor Antonio Rivas Leitlinie für dies grosse Dezentralisierungsübung: die ehemaligen Direktionen wurden Stabsstellen, die Entscheidungsgewalt für Finanzen, Personal und Programm ging nach Genf, Lausanne, Basel, Zürich, Lugano, Chur, und es entstanden die heute so vertrauten Unternehmenseinheiten der SRG: RSI (Radiotelevisione svizzera), RTR (Radiotelevisiun Svizra Rumantscha, RTS (Radio Télévision Suisse), SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) und SWI (swissinfo.ch). Ausserdem gibt es noch die Generaldirektion (GD) der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG.
Das ist das Erbgut der heutigen SRG: förderalistisch und staatsfern.
Die Reorganisation des Tessiners Antonio Riva (CVP) im Jahr 1991 unter der Aufsicht des Berner Oberländers Bundesrat Adolf Ogi (SVP) war eine Rückkehr zu den regionalen Ursprüngen von Radio und Fernsehen in der Schweiz. Und es war gleichzeitig ein Akt radikaler Entstaatlichung. Die Unternehmensorganisation folgte dem Muster einer aktienrechtlichen Gestaltung. Und der Anteil der Staatsvertreter in den Führungsgremien des Unternehmens und der Trägerschaft wurde von einer Mehrheit auf eine kleine Minderheit reduziert.
Im «EVED-Bericht der SRG» vom 30.09.1991 heisst es: «Die Ursprünge der SRG liegen in den Regionen. Den Anfang machten 1922 die Radiopioniere in Lausanne mit Unterstützung ihrer Stadt, zwei Jahre später bildete sich die Radiogenossenschaft Zürich, und danach folgten Jahr um Jahr neue Vereine und Genossenschaften: Genf – Bern – Basel – Ostschweiz – Svizzera italiana – bis 1931 die Schweizerische Rundspruchgesellschaft gegründet wurde; weitere Mitglieder kamen später dazu, und der vorgesehen Schritt der Cumünanza rumantscha radio e televisiun (CRR) zur Regionalgesellschaft [im Jahr 1991, R.R.] zeigt, dass die SRG bis heute ein lebendiger Organismus geblieben ist. Radio und Fernsehen sind in jedem Land Ausdruck der Gesellschaft und der zeitgenössischen Bedingungen, aus denen sie hervorgegangen sind; so auch in der Schweiz. Und: «Die einheitliche Radio- und Fernsehorganisation schöpft von Anfang ihre Kraft aus der föderalistischen Vielfalt ihrer Mitglieder und der Beziehung zum Publikum» (Fett im Original, R.R.].
Das ist die genetische Bestimmung der SRG. Im Kern besteht sie aus zwei Elementen: aus der regionalen Verwurzelung und aus der Trägerschaft, also aus der Organisation ihrer einzelnen Mitglieder – heute würden wir sagen: dem Verein der Nutzerinnen und Nutzer. So stellt sie sich nun auch den Herausforderungen der digitalen Gesellschaft und ihrer Medien.
Aber nicht jedes Erbgut setzt sich im gleichen Masse durch.
Das Erbe der SRG-Reform ist sogar ausgesprochen zwiespältig. Es ist erfolgreich in seiner unternehmerischen Wirkung. Die SRG produziert mit den verfügbaren Mitteln ein Mehrfaches an Programm als vergleichbare Unternehmen wie der ORF, nicht zu reden von Konkurrenten wie ARD und ZDF oder gar kommerzielle Unternehmen wie RTL, ProSiebenSat.1, TF1 oder Mediaset. Die SRG ist staatsfern in ihrer Organisation und bei Weitem unabhängiger von der Politik als Radio und Fernsehen etwa in Österreich, Italien, Frankreich oder sogar Deutschland. Aber seit der SRG-Reform hat die Gesellschaft in der Schweiz auch deutlich an Einfluss verloren auf das Programm. Die Aufsichtskommission über die Unternehmensführung der SRG, also auch über die Programmgestaltung, war bis 1991 ähnliche zusammengesetzt wie heute noch die Rundfunkräte in Deutschland: mit Vertretern der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Kulturschaffenden und Bildungsvertretern, kurz: die Aufsichtskommission war eine repräsentative Vertretung der Gesellschaft, und all die mitwirkenden Organisationen wollten selbstverständlich ihre Interessen im Programm wiederfinden. So wurde diskutiert und gehandelt und koaliert nach dem Motto: kriege ich meine Bildungssendung, so bekommst du Dein Unterhaltungs- oder Wirtschaftsprogramm. Und die Radio- und Fernsehdirektoren rauften sich die Haare, weil eine profilierte Programmstrategie so selbstverständlich nicht zu machen war.
Heute findet sich diese Vertretung der gesellschaftlichen Interessen im 26-köpfigen Publikumsrat. Das Gremium «begleitet die Programmarbeit und Programmentwicklung…. mit Feststellungen und Vorschlägen», das heisst: es ist ein rein beratendes Gremium ohne jede Entscheidungskompetenz. Die Programmverantwortung und die Programmentscheidungen liegen in der Hand der professionellen Leitung der Unternehmenseinheiten, und selbst «das oberste Organ» der Unternehmenseinheiten, der Regionalrat, nimmt gerade mal Kenntnis von den Programmkonzepten und kann dazu allenfalls «Prüfungsanträge» stellen. Nun wäre die Rückkehr zu den alten Mauscheleien sicher nicht der richtige Weg.
Unter den neuen Bedingungen der Digitalisierung müssen sich die Medienschaffenden der SRG in einer neuen Mediengesellschaft bewähren.
Für die jungen «Digital Natives», aber auch für eine wachsende Zahl der «digitalen »Immigranten» ist der Umgang mit den neuen «smarten» Medien eine selbstverständliche Kulturtechnik. Und sie nutzen die «Sozialen Medien» nicht nur als Mittel für ihren persönlichen, quasi privaten Austausch sondern auch als Mittel gesellschaftlicher Kommunikation. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nennt diese Nutzerinnen und Nutzer «die fünfte Gewalt» neben der «Vierten Gewalt» der redaktionellen Medien. Die strikte Trennung zwischen den «sozialen Medien» und der journalistischen Medienarbeit ist Geschichte, und das heisst in diesem Falle: sie ist Vergangenheit. Persönlich, gesellschaftlich und politisch.
Das ist eine massive Herausforderung gerade auch für die Medienschaffenden des Service public. Wenn sie beim «Publikum» akzeptiert bleiben wollen, müssen sie ihre Rolle neu bestimmen. Sie sind nicht mehr die Wissenden und Lehrenden, die Türhüter der Information, die als eigenständige Kaste entscheiden, was für die Gesellschaft wissenswert ist. Sie müssen sich verstehen als Partner der Nutzerinnen und Nutzer und diesen auf geeignete Weise Zugang schaffen zu einem auch aktiven Medienschaffen.
So revolutionär das klingt, so sehr ist es bereits Alltag.
Es geht ab sofort darum, die «Maximen einer redaktionellen Gesellschaft» – die ethischen und handwerklichen Regeln des Journalismus aus ihrer ausschliesslichen Bindung an den Beruf der Medienschaffenden zu lösen und sie für alle zugänglich zu machen, die sich mithilfe der neuen, digitalen Medien an der Kommunikation in der Gesellschaft beteiligen wollen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erklärt das zu einer der wichtigen Aufgaben unserer Zeit, aber er weist auch darauf hin, dass es seit der Entstehung der Massenmedien immer schon Menschen gegeben hat, die sich aus der Gesellschaft heraus öffentlich und journalistisch geäussert haben, weil sie sich an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv beteiligen wollten. Nur findet das heute und morgen zunehmend im konvergenten Raum des Internet statt.
Das ist eine neue, vielleicht die neue Herausforderung für die SRG, nachdem sie sich noch im letzten Jahrhundert unternehmerisch aufgestellt und mit den Unternehmenseinheiten erfolgreich in den Regionen des Landes verankert hat. Es gibt kein schlagendes Argument dafür, diese Errungenschaften aufzugeben; sie bleiben zeitgemäss. Jetzt geht es für die SRG darum, die Beziehung zu ihrer Trägerschaft wieder aktiver zu knüpfen, denn die Mitglieder dieser Trägerschaft und der Gesellschaft überhaupt sind heute die User, die Nutzerinnen und Nutzer der neuen Medien der Kommunikation. Sie müssen ins Zentrum des Medienschaffens der SRG gestellt werden, nicht als Agenten der Unternehmens-PR, sondern in einer neuen Partnerschaft, einem dialogischen Journalismus «auf Augenhöhe» und auch in einer neuen Rolle als Bürgerinnen und Bürger, die selber zu aktiven Teilnehmern an der Medienkommunikation werden wollen. – Das sind, nebenbei, Überlegungen, wie sie heute auch die Eidgenössische Medienkommission EMEK anstellt.
Dafür braucht es keine Fusion der Medien in Zürich Leutschenbach.
Im Gegenteil: Wir haben heute schon eher zu wenig innere Vielfalt im Informationsjournalismus, auch innerhalb der SRG, trotz der chef-redaktionellen Trennung zwischen Radio und Fernsehen. Gerade da, wo die Konvergenz den Unterschied der Medien zunehmend aufhebt, sind offene, durchlässige Organisationsformen gefragt.
Die Medientechnik wird immer leichter und kleiner und die Verbindungen werden dichter und leistungsfähiger. Es wäre vordringlich, diese technologischen Möglichkeiten zu nutzen, um das Netz der Medienschaffenden des Service public mit dem «tissu social», dem sozialen Geflecht, feiner zu verweben. Es wäre dann wohl auch möglich, genauer hinzusehen und auf dieser sozialen Struktur wie auf einem handgewobenen Teppich zu erkennen, dass Manches, was auf den ersten Blick gleich aussieht, in Wirklichkeit vielfältig und unterschiedlich ist. Das wäre Nähe zur Gesellschaft. Das würde nachhaltiges Vertrauen schaffen.