Der offene Brief – Zweihänder des kleinen Mannes
Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo ein Journalist einen offenen Brief verfasst, sei es aus Überzeugung oder aus Bequemlichkeit. Das Format ist Allzweckwaffe, bewegt sich zwischen Kult und Peinlichkeit und kann sich an alle richten – sogar an sich selbst. Darum: ein offener Brief an den offenen Brief.
Lieber offener Brief
Das wollte ich dir schon lange einmal sagen: Merci, dass es dich gibt. Du hast mir und vielen anderen Journalisten und Autoren wertvolle Dienste erwiesen – und wirst es weiterhin tun. Wir sind froh, dich zu haben, denn du bist ein denkbar dankbares Format.
Wer seine Meinung kundtun möchte, aber keinen Kommentar schreiben will, kann jederzeit auf dich zurückgreifen. Du bist ideal für alle Feiglinge, da eine direkte Auseinandersetzung mit dem Adressaten (in diesem Falle du, lieber offener Brief), nicht nötig ist. Du eignest dich auch für die Faulen, weil man dank dir kein Statement einholen (und gegenlesen lassen) muss, nein, mit dir kann ich ganz objektiv oder aber tendenziös gegen jemanden oder etwas schiessen, der/das sich nicht wehren kann.
Das macht dich zum idealen Notfallplan: Wir können Mister X für eine Stellungnahme nicht erreichen und ihn ergo nicht mit allerlei Fakten/Vermutungen/Vorwürfen konfrontieren?! Dann schreiben wir ihm halt einen offenen Brief! Und jetzt können wir, dank dir, auf den Mann spielen, ohne mit ihm geredet zu haben. Und viel freier und direkter vom Leder ziehen als wenn wir das dem Adressaten ins Gesicht sagen müssten. Merci dafür.
Wir werfen mit dir Fragen auf oder thematisieren offensichtliches Übel – ohne Antworten liefern zu müssen. Du bist der Zweihänder des kleinen Mannes (Männer schreiben öfter offene Briefe oder täusche ich mich?), das Sprachrohr der Schwachen, der Output der Introvertierten. Du erforderst kaum Expertenwissen, bist unverfänglich, ja eigentlich bist du die ausführliche Variante eines Kommentars auf Social Media. Und das macht dich aktuell und trendy.
Momentan bist du gerade wieder voll in: Watson-Chefredaktor Maurice Thiriet schreibt fast nur noch offene Briefe, z.B. an den Kampagnen-Koordinator des Ja-Kommitees zum Geldspielgesetz, an Matthias Hüppi oder an Valentin Landmann. Und ja, es funktioniert. Du machst es einem ja auch leicht.
Auch Max Küng, der in seiner Kolumne in «Das Magazin» schon einige Konzept-Wandel vollzogen hat, schreibt seit geraumer Zeit offene Briefe, die – klar – dann doch sehr schnell kolumnig werden, aber trotzdem.
Und die NZZ am Sonntag schrieb kürzlich einen offenen Brief an New York. Ja, so vielseitig bist du, dass dein Adressat auch eine Stadt sein kann. Oder ein Neugeborenes als pars pro toto.
Du bist ein wahrer Evergreen. Ich erinnere mich zum Beispiel an Helmut Maria Gloggers Rubrik «Glogger mailt». Auf wenigen hundert Zeichen kam da Interessantes oder Wirres zustande. Ja, lieber offener Brief, dich kann man gut schreiben oder schlecht. Mit Franz Josef Wagner etwa hast du einen Schreiber gefunden, der dir in keiner Weise gerecht wird. Unter «Post von Wagner» schreibt der «Gossen-Goethe» in der Bild allerlei Grottiges. Von Eva Hermann wurde er erfolgreich verklagt und nach seinem offenen Brief an die Opfer des Germanwings-Absturzes setzte es eine Petition mit über 40‘000 Unterschriften.
Tja, die offenen Briefe einzelner Journalisten kann man hassen; dich, lieber offener Brief, jedoch nicht. Dafür bist du viel zu nützlich, du Allzweckwaffe, du.
Bist du eigentlich eine eigenständige Textsorte? Oder eine Variante des Kommentars? Manchmal kommst du ja auch glossig daher, ach, wie wandelbar du bist, wunderbar. Und so raffiniert: Denn eigentlich sind Briefe ja privat und vertraulich, aber dich, lieber offener Brief, dürfen wir alle lesen und damit an etwas teilhaben, das uns womöglich gar nichts angeht. Dieses kleine Voyeurenstück gönnen wir uns gerne.
Bei Wikipedia habe ich gelesen, dass du sowohl zum Geburtstag eingesetzt wirst als auch bei Literaturkritik. Z.B. hat dich Marcel Reich-Ranicki behändigt und an Günther Grass gewidmet (es ging um eine langjährige Fehde).
Eine deiner berühmtesten Ausführung sei jener offene Brief von Emile Zola an den Präsidenten Felix Faure mit dem Titel «J‘accuse» gewesen (es ging um Machtmissbrauch). Das bestätigt nur, was ich eh schon weiss: Du bist wichtig, offener Brief. Für mich. Für den Journalismus. Für die Demokratie. Du hast Dinge verändert, hast Missstände aufgedeckt, Tränen provoziert und Tränen getrocknet. Oder du hast zumindest dabei geholfen. Das rechne ich dir hoch an. Darum: Bleib, wie du bist, offener Brief und mach weiter so!
Dein Reto Hunziker