Soll man das «Recht auf Vergessen» lieber vergessen?
Das in der neuen europäischen Datenschutz-Grundverordnung festgeschriebene «Recht auf Vergessen» führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit und Datenschutz. Am Ende stärkt es aber vor allem die Gatekeeperfunktion datenhungriger Grosskonzerne wie Google.
Die Einführung der Datenschutz-Grundverordnung DSGVO begann mit einem journalistischen Stolperstart: Kurz nach Inkrafttreten der neuen Regelung sperrten US-Nachrichtenseiten Nutzer mit IP-Adresse in der EU ihrem Angebot aus. Die Webseiten der «Los Angeles Times» sowie «Chicago Tribune», die zur Verlagsgruppe Tronc gehören, waren für Nutzer in Europa nicht mehr abrufbar. Medien wie «Washington Post» verlangten von EU-Lesern eine Zustimmung zur Nutzung von Cookies und zum Tracking. Nun gehören europäische Nutzer nicht zur Kernleserschaft amerikanischer Regionalzeitungen. Da aber EU-Bürger ihre Seiten aufrufen können, müssen auch US-Zeitungen den Bestimmungen der DSGVO folge leisten – oder ihr Angebot für Europa unzugänglich machen.
Die Posse steht zudem symptomatisch für das zuweilen vertrackte Verhältnis zwischen Datenschutz auf der einen und Informations- und Pressefreiheit auf der anderen Seite. Einer der Eckpfeiler der neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung DSGVO ist das «Recht auf Löschung» (Recht auf «Vergessenwerden»), das der Europäische Gerichtshof in einer wegweisenden Entscheidung entwickelt hatte und das nun kodifiziert wurde. Von den neuen Datenschutzbestimmungen sind auch Schweizer Unternehmen berührt, wenn sie etwa Daten von EU-Bürgern verarbeiten. Das betrifft den kleinen Blogger genauso wie grosse Verlagshäuser.
Am Anfang eines europäischen «Rechts auf Vergessenwerden» steht Mario Costeja González. Der Spanier stellte 2010 fest, dass bei der Eingabe seines Namens in die Suchmaschine Google zwei Artikel im Archiv von «La Vanguardia» auftauchten, in denen die Versteigerung seines Grundstücks im Jahr 1998 wegen bestehender Verbindlichkeiten bei der Sozialversicherung und einer anstehenden Pfändung angekündigt wurde. Die Schulden waren längst bezahlt, doch das unschöne Wort der Pfändung war weiter im Netz zu finden – und hätte Zweifel an seiner Kreditwürdigkeit nähren können. Seiner Aufforderung gegenüber Google und der Tageszeitung zur Löschung respektive Änderung der jeweiligen Seiten mit seinem Namen kamen beide Unternehmen nicht nach. González erhob daraufhin Beschwerde bei der spanischen Datenschutzaufsichtsbehörde AEPD. Diese forderte Google auf, den Zugang zu dem Artikel zu trennen. Der Europäische Gerichtshof entschied im Mai 2014, dass Suchmaschinenbetreiber auf Antrag Informationen aus ihren Suchergebnissen streichen müssen, wenn die Informationen die Persönlichkeitsrechte betroffener Personen verletzen.
Das Gericht knüpfte in seiner Entscheidung an die Idee des Rechtswissenschaftlers Viktor Mayer-Schönberger an, der in seinem Buch «Delete: die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten» (2009) für eine Kultur des Datenlöschens plädiert. Jede Datei müsse ein Ablaufdatum enthalten, damit das kollektive Gedächtnis nicht unter einem Information-Overload zusammenbricht. Nur so könne die für die Gesellschaft konstitutive Funktion des Vergessens bewahrt werden. Anders als beim vom EuGH postulierten Recht auf Vergessenwerden steht in der DSGVO die Löschung der Daten im Vordergrund, wobei das neue Regelwerk dank tatkräftiger Lobbyarbeit der Technologie-Konzerne in Absatz 2 der Vorschrift einige Vorbehalte («unter Berücksichtigung der verfügbaren Technologie und der Implementierungskosten») statuiert – und damit den Löschanspruch verwässert.
Trotzdem machen Bürger von ihren Rechten schon heute reichlich Gebrauch. Seit der Entscheidung des EuGH sind bei Google rund 685’000 Löschanträge eingegangen. Das geht aus Googles Transparenzbericht hervor. Die Zahl der URLs, deren Entfernung aus den Suchergebnissen beantragt wurde, beläuft sich auf über zweieinhalb Millionen. 114’000 Löschanträge kamen dabei aus Deutschland, aus der Schweiz waren es 15’000. «Wir löschen URLs aus allen Google-Suchergebnissen für Europa, also für Nutzer in Deutschland, Frankreich, Spanien und allen anderen europäischen Ländern, und verwenden Signale zur Standortbestimmung, um den Zugriff auf die URL im Land des Antragstellers zu beschränken», heisst es in Googles Transparenzbericht. Nach eigenen Angaben hat der Suchmaschinenriese bis heute 44 Prozent der URLs, deren Entfernung angefordert wurde, gelöscht. Die Frage, ob eine URL aus den Suchergebnissen entfernt wird, ist eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem öffentlichen Interesse bzw. der Kommunikationsfreiheit. Als Gründe, weshalb Links nicht gelöscht werden, nennt Google das «Vorhandensein alternativer Lösungen», technische Faktoren oder doppelte URLs.
Weiter heisst es im Transparenzbericht: «Die Entscheidung, ob Inhalte im öffentlichen Interesse sind, ist komplex, sodass unter Umständen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden müssen, zum Beispiel, ob sich die Inhalte auf das Berufsleben, eine in der Vergangenheit begangene Straftat, ein politisches Amt oder die öffentliche Stellung des Antragstellers beziehen oder ob es sich bei den Inhalten um selbst verfasste Inhalte, amtliche Dokumente oder journalistische Arbeiten handelt.» Allein, was im öffentlichen Interesse steht und was nicht, behält sich Google selbst vor.
Bemerkenswert ist, dass 17,9 Prozent der Webseiten, für die Löschanträge eingingen, in die Kategorie «Nachrichten» fallen. Gemäss einer Studie («Three years of the Right to be Forgotten») wurden bei der Nachrichtenseite dailymail.co.uk im Zeitraum zwischen Januar 2016 und Dezember 2017 fast 1800 Löschersuchen gestellt. 27,4 Prozent dieser beanstandeten Links wurden aus den Suchergebnissen entfernt. Beim «Telegraph» wurden bei 949 URLs die Entfernung angefordert, bei der britischen Boulevard-Zeitung «The Sun» 676. Die Gründe, die von den Antragstellern für die Entfernung vorgebracht wurden, drehten sich meist um Verbrechen/Vergehen bzw. berufliche Verfehlungen – wobei es keinen Unterschied machte, ob es sich um Boulevard oder sogenannte Qualitätszeitungen handelte.
Das Recht auf Vergessenwerden, das Google als massgeblicher Netz-Akteur implementiert, betrifft damit auch die Pressefreiheit. Immer mehr Privatleute nutzen das Recht, um so gegen Zeitungen vorzugehen und missliebige Informationen entfernen zu lassen. Zwar verlangt das Gesetz nicht, dass eine Information als solche aus dem Netz entfernt wird (was in der Praxis schwierig wäre), sondern legt Suchmaschinenbetreibern lediglich die Pflicht auf, Links zu einer inkorrekten oder diffamierenden Information zu entfernen, weshalb man besser von einem «Recht auf Verbergen» sprechen sollte. Faktisch aber kommt eine Kappung des Links einer Löschung gleich, weil damit eine Information kaum noch auffindbar ist. Das liegt in der Mechanik des Google-Algorithmus begründet: Wer nicht in den Trefferlisten weit oben landet oder mittels Suchmaschinenoptimierung (SEO) nachhilft, fristet ein digitales Schattendasein.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer Entscheidung vom Februar die Rolle von Suchmaschinenbetreibern insofern gestärkt, als er sie von einer allgemeinen Kontrollpflicht für rechtswidrige Inhalte verlinkter Seiten und damit verbundenen Haftung befreite. Eine solche Kontrollpflicht würde die Existenz von Suchmaschinen als Geschäftsmodell «ernstlich in Frage stellen». Gewiss lässt sich im Einzelfall schwer nachprüfen, ob eine Information korrekt ist oder nicht. Doch indem man Google von einer allgemeinen Kontrollpflicht befreit, stellt das Gericht dem Konzern einen Blankoscheck in der Validierung von Informationen aus. Was in Googles Ergebnislisten auftaucht, hat ja fast amtlichen Charakter. Die Entscheidung ist vor allem in der Begründung bemerkenswert. Darin heisst es: «Ohne die Hilfestellung einer solchen Suchmaschine wäre das Internet aufgrund der nicht mehr übersehbaren Flut von Daten für den Einzelnen nicht sinnvoll nutzbar.» Der BGH legitimiert damit implizit die algorithmischen Prämissen der Auffindbarkeit von Informationen, deren Black-Box-Charakter dem Transparenzgebot bürgerlicher Öffentlichkeiten zuwiderläuft.
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales warnte, Google dürfe nicht damit betraut werden, «die Geschichte zu zensieren». Gleichwohl: Das Depublizieren, das Entfernen von Internetseiten, eine im öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit Jahren gängige Praxis, ist nicht per se antiaufklärerisch. Der Historiker Peter Burke schreibt in seinem Buch «Die Explosion des Wissens: Von der Encyclopédie bis Wikipedia», dass es bereits im 16. Jahrhundert Beschwerden über die «Bücherflut» gab. Insofern ist die Ausrangierung alternder Wissensbestände eine ökonomische Notwendigkeit, um Platz für neues Wissen zu schaffen. Die Frage ist nur, nach welchen Massstäben Wissen verworfen oder verborgen wird.
Die BBC hat in einem Blogbeitrag alle Links zu Artikeln aufgelistet, die von Google unter Verweis auf Persönlichkeitsrechte aus den Suchergebnissen entfernt wurden – und damit jene Transparenz hergestellt, die der Suchmaschinenriese vermissen lässt. Betroffen waren von Juli 2014 bis Mai 2015 mehrere Dutzend Links, die zwar im Online-Archiv der BBC weiter auftauchen, im Zentralregister namens Google aber vernichtet wurden. Der BBC-Redaktor Neil McIntosh betonte dabei die Wichtigkeit eines Online-Archivs. Zu einer Erinnerungskultur gehört es auch, dem Vergessen entgegenzutreten oder zumindest daran zu erinnern, dass das Vergessen hier kein kulturelles, sondern ein politisch-selektives ist.
In den leider viel zu wenig beachteten Erwägungsgründen des Europäischen Parlaments und des Rats, die der DSGVO vorangestellt sind, heisst es: «Auf die Tatsache, dass die Verarbeitung der personenbezogenen Daten beschränkt wurde, sollte in dem System unmissverständlich hingewiesen werden. Entsprechende Berichtigungen oder Löschungen personenbezogener Daten oder Einschränkungen der Verarbeitung sollten den Empfängern, gegenüber dem die personenbezogenen Daten offengelegt wurden, und den zuständigen Behörden, von denen die unrichtigen Daten stammen, mitgeteilt werden.» Das Recht auf Berichtigung sollte zudem nicht den Inhalt einer Zeugenaussage berühren. Ein Zeuge, der vor Gericht unter Eid aussagt, darf sich später nicht auf das Recht auf Vergessenwerden berufen, um eine Aussage im Nachhinein zu revidieren. Das wäre systemwidrig. Diese Überlegung ist eine wichtige Einschränkung, weil das zuweilen absolut verstandene Recht auf Vergessenwerden auch die Integrität anderer Informationsträger – beispielsweise die einer belasteten Person in einem Prozess – schützt. Praktische Probleme ergeben sich auch daraus, dass Screenshots und Kopien im Webarchiv des Internet Archive, dem «Gedächtnis» des Internets, gespeichert sind, welche das Recht auf Vergessenwerden technologisch torpediert.
Das ist das eigentlich Verstörende der Entwicklung: Die Frage, ob eine Information von öffentlichem Interesse und für das kollektive Gedächtnis aufbewahrt wird, ist nicht allein eine juristische Abwägung oder Ausfluss deliberativer Prozesse, sondern eine Frage der Programmierung und Serverkapazität.
Die Frage ist, ob das Recht auf Vergessen mit bestimmten Technologien, wie etwa der Blockchain überhaupt kompatibel ist. Die Verschlüsselungstechnologie kann man sich wie ein digitales Kassenbuch vorstellen, das sämtliche Transaktionen erfasst und in einer Kette von Datenblöcken speichert. Die Besonderheit ist, dass es nicht von einer zentralen Autorität – etwa einem Amt oder Notar – verwaltet wird, sondern von allen Teilnehmern, die Zugriff haben und eine Kopie der Datenbank anfertigen können. Auch im Journalismus wird mittlerweile mit der Technologie experimentiert: Mit «Civil» soll demnächst eine Blockchain-basierte News-Plattform an den Start gehen, wo Unterlagen und Quellen über einen sicheren Weg als Datenblöcke angehängt werden. Das Problem ist nur, dass die dezentral gespeicherten Daten praktisch nicht löschbar sind. Denn für jede Zeichenkette gibt es ein für alle sichtbaren Hash, der Transaktionen dokumentiert. «Den Datensatz kann man löschen, der Hash bleibt», sagt der Blockchain-Experte Joachim Lohkamp dem Fachmagazin «t3n». Zudem müsste dann mehr als die Hälfte der Miner bzw. Rechner der Löschung zustimmen – ein seltsam bürokratisches Verfahren für eine Technik, deren Anhänger sich stets damit rühmen, Mittelsmänner abzuschaffen.
Juristen streiten über die Frage, ob der Referenzwert ähnlich wie eine IP-Adresse (auch strittig) ein personenbezogenes Datum darstellt. Angenommen, eine News-Plattform verbreitet Unwahrheiten über einen angeblichen Insiderhandel eines Bankvorstands. Zwar hätte die betroffene Person dann einen Löschanspruch. Doch kann sie ihn in der Praxis nicht geltend machen, weil die Information auf diversen Rechnern gespeichert ist. Die dezentrale Struktur bzw. Abwesenheit von Administratoren macht eine diskursive Lösung quasi unmöglich. Die Speicher- und Verlinkungsstruktur des Webs ist unerbittlich.
Amazons ehemaliger Chefwissenschaftler Andreas Weigend beschreibt in seinem Buch «Data for the People», wie in den frühesten Tagen menschlicher Aufzeichnungen vor 600 Jahren, als die Sumerer die Keilschrift erfanden, der herrschenden Priester die Erzeugung, Trockner und Lagerung von Tontafeln überantwortet wurde. «Die Tafeln verzeichneten, wem was gehörte, wer was an Steuern, Pacht, Gebühren, Darlehen oder Waren zu bezahlen hatte und welchen Gesetzen Eigentum und Handel unterlagen. Wo so viel auf dem Spiel stand, gab es Fälschungen und Streitigkeiten, was genau da «in Stein gemeisselt» war. Das Volk der Sumerer fand, dass diese Tafeln weggeschlossen werden mussten, und häufig wurde die örtliche Tempelverwaltung mit dieser Aufgabe betraut. Das bedeutet jedoch, dass die Priester viel von den Daten kontrollierten: Sie entschieden, wer Zugang zu dem offiziellen Archiv bekam, das im Tempel gelagert wurde – und wer nicht. Alle anderen mussten hoffen, dass die Priester die Information korrekt festgehalten hatten und nicht in Versuchung kamen, die Daten unter ihrer Aufsicht zu korrumpieren.» Es braucht nicht viel Fantasie und historisches Verständnis, um darin eine Parallele zu Google und zur Blockchain zu erkennen: Eine kleine Programmierelite entscheidet, welche Informationen Eingang in den Erinnerungskanon finden – und bestimmen mit ihren Arkanformeln die soziale Bonität von Milliarden Nutzern.