Für nackte Konsumenten braucht es keine Werbung mehr
Der US-Autor und Medienexperte Ken Auletta erklärt in seinem neuen Buch den fundamentalen Wandel der Werbung und prognostiziert deren Verschwinden.
Die Werbeindustrie steckt, wie auch die von ihr abhängige Medienbranche, in einem gewaltigen Umbruch. Die alten Platzhirsche wie WPP, Omnicom und Publicis zittern vor den mächtigen Tech-Konzernen, die den Online-Werbemarkt dominieren. Neun von zehn für Werbung ausgegebene Dollars landen in den Kassen von Google und Facebook. Google erzielte 2017 einen Werbeumsatz von 95 Milliarden Dollar, rund das Sechsfache des Werberiesen WPP (Jahresumsatz 15 Milliarden Dollar) Der amerikanische Journalist und Medienkritiker Ken Auletta hat nun ein Buch mit dem Titel «Frenemies: The Epic Disruption of the Ad Business (and Everything Else)» vorgelegt, das diesen Transformationsprozess analysiert.
Auletta wählt eine ganzheitliche Betrachtung. So schreibt er: «Der Versuch, die Medien ohne Anzeigen und Marketing, den Treibstofflieferanten, zu verstehen, ist wie der Versuch, die Autoindustrie ohne Spritkosten zu verstehen.» In einer freien Marktwirtschaft sei Werbung die «Brücke zwischen dem Verkäufer und Käufer». Doch diese Brücke sei einsturzgefährdet. Das einst komfortable Anzeigengeschäft werde von «Frenemies», attackiert. Darunter versteht der Autor Unternehmen, die sowohl kooperieren als auch im Wettbewerb miteinander stehen. Auch Verbraucher sind nach Auletta «Frenemies», die von «kostenlosen» oder subventionierten Medienangeboten abhängig sind, von Anzeigen aber zunehmend genervt sind. Sie kaufen sporadisch eine Zeitung, konsumieren dann aber doch lieber kostenlose Artikel auf Facebook.
«Von ihrer Natur her sind Unternehmen wie Google und Facebook Zerstörer. Sie wollen belanglose Mittelsmänner ausradieren.»
Ken Auletta
Die klassischen «Freundfeinde» stellen Facebook und Google dar. Sie sind Medien- bzw. Werbepartner, aber gleichsam erbitterte Konkurrenten. Anzeigenkunden wenden sich von Werbe- und Mediaagenturen ab und kooperieren lieber mit den Tech-Konzernen. Dank automatisierter und Algorithmus-basierter Abwicklung lassen sich Anzeigen zwar massgeschneidert ausspielen, benötigen aber dafür jede Menge Nutzerdaten. Wer im Netz seine Zielgruppe ansprechen will, kommt an Google und Facebook nicht vorbei. «Von ihrer Natur her», schreibt Auletta, «sind diese Unternehmen Zerstörer. Sie wollen belanglose Mittelsmänner ausradieren.»
Auletta, der regelmässig für den «New Yorker» schreibt und mit dem Buch «Googled: The End of the World As We Know It» (2009) ein vielbeachtetes Werk zum digitalen Wandel publiziert hat, ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet des Medien- und Werbemarktes. Für sein aktuelles Buch hat er mit Analysten, Journalisten, Professoren gesprochen, Bücher studiert, Konferenzen besucht, er war auf Empfängen in New Yorker Hotels, wo Facebook Werbekunden hofiert. Entsprechend profund und ausgewogen ist seine Analyse. «Wenn Facebook tatsächlich das Internet werden würde, die Seite, die die Leute nie verlassen, wo sie Bilder und Instant-Messages teilen, ihre Nachrichten bekommen, einkaufen, suchen, Fernsehen und eines Tages Filme schauen, würde es einen schier unbezwingbaren Walled Garden kreieren», lautet seine Einschätzung. Schon 2016 wurden jeden Tag 100 Millionen Stunden Videos auf Facebook geschaut. Das ist mehr Zeit, als die Leute vor dem TV verbringen.
Dass die Auswertung von Nutzerdaten und Hyperpersonalisierung zu einer Erosion der Privatsphäre führt, ist offenkundig.
Facebook kann mit seinen ausgefeilten Analytics-Systemen genau sehen, wie lange ein Werbeclip angesehen wird. Durch programmatische Anzeigen können Konzerne wie Unilever etwa hunderte Varianten derselben Werbung ausspielen – je nachdem, welche Präferenzen die Zielperson hat. Dass diese Auswertung von Nutzerdaten und Hyperpersonalisierung zu einer Erosion der Privatsphäre führt, ist offenkundig.
Auletta widmet dem wichtigen Thema ein eigenes Kapitel, das mit dem etwas alarmistischen Titel «Die Privatsphäre-Zeitbombe» überschrieben ist. Der Ortungsdienst Foursquare, mit dem die Nutzer freiwillig preisgeben, wo sie gerade was tun, könne zum Beispiel anhand eines Vergleichs der Laufkundschaft vorhersagen, ob der Umsatz in einem Geschäft steigt oder sinkt und wer die grössten Wettbewerber in der Umgebung sind. Und die App weiss noch viel mehr. «Foursquare», schreibt Auletta, «hat Daten über die, die einen TV-Werbespot sehen und dann ein Geschäft besuchen. Sie können sagen, ob man (die Restaurantkette) Shake Shack oder eine Bar einmal oder zweimal in der Woche besucht hat, und sie als wahrscheinlicher Hamburger-Esser oder Bier-Trinker ins Visier nehmen, wofür dann die Anzeigenkunden zahlen.» Über sogenannte Beacons, Bluetooth-basierte Minisender, liessen sich überdies drahtlos Rabattgutscheine auf Smartphones in der näheren Umgebung schicken. Die Vernetzung von physischem und Online-Handel macht ganz neue, teils beängstigende Werbeformen möglich.
«‹Alexa› ist ein Agent, der nicht nur weiss, was man gekauft hat, sondern auch, wann man aufsteht, was man anschaut, liest, hört, fragt und ist.»
Ken Auletta
Der ehemalige Marketing-Chef des Unterkunftvermittlers Airbnb, Jonathan Mildenhall, wird mit den Worten zitiert: «Wir wissen alles über unsere Gastgeber. Gleiches gilt für unsere Gäste». Diese dystopische (Werbe-)Vision materialisiert sich in Sprachassistenten wie Alexa, die bloss vorgibt, eine digitale Dienerin zu sein, in Wahrheit aber eine Verkaufsberaterin und vielleicht sogar Spionin ist. «Alexa», erklärt Auletta, «ist ein Agent, der nicht nur weiss, was man gekauft hat, sondern auch, wann man aufsteht, was man anschaut, liest, hört, fragt und ist.» Interessant: 2017 wurde gut die Hälfte aller Produktsuchen über Amazon abgewickelt – und nicht über Google. Hier bahnt sich ein neues Wettrennen zwischen zwei Tech-Giganten an.
Der Grossteil der Werbung wird von den Adressaten als etwas Lästiges, Nerviges, ja Übergriffiges empfunden, die man reflexhaft wegklickt oder wegschaltet. Laut einer Studie von PageFair und Adobe nutzen weltweit 200 Millionen Verbraucher Adblocker, mit denen sich Werbebanner unterdrücken lassen, was für werbefinanzierte Angebote (speziell für Verlage) ein grosses Problem ist.
Die smarte Lösung im Kampf gegen Werbeblocker ist Native Advertising, Werbung, die im Gewand des Journalismus daherkommt und nicht geblockt wird. Das «Wall Street Journal» hat unter dem Titel «Cocainenomics» eine aufwendige Multimedia-Reportage mit Kartenmaterial und Videos zum Drogenkartell in Medellín publiziert, die aber nicht aus eigenem Recherche-Interesse entstand, sondern als Sponsored Content im Auftrag von Netflix, einem «Frenemy». Wobei hier gar nicht klar ist, wer auf wessen Plattform wirbt. Netflix auf den Seiten des «Wall Street Journal»? Oder umgekehrt? Der Sponsorenhinweis ist sehr diskret, was zumindest medienethische Fragen nach der Transparenz aufwirft. Auf jeden Fall scheinen hier ganz neue Allianzen möglich. Aus einem Konkurrenten in der Aufmerksamkeitsökonomie wird ein Medienpartner. Eine Facebook-Studie prognostiziert, dass das Volumen für Native Advertising 2020 weltweit 53,4 Milliarden Dollar erreichen könnte – ungefähr das Doppelte des Facebook-Werbeumsatzes.
Trotzdem scheint sich ein Grenznutzen abzuzeichnen. Der US-Präsidentschaftsbewerber Jeb Bush gab in seinem Wahlkampf 80,2 Millionen US-Dollar für Werbung aus – das Fünffache dessen, was die Trump-Kampagne für Anzeigen aufwendete. Auletta wertet dies als Indiz dafür, dass Bush die Werbeausgaben nicht in Erfolg ummünzen konnte und zu viel Werbung sich sogar kontraproduktiv auswirken kann. «In einer Zeit, in der Werbung zunehmend als Unterbrechung empfunden werden, erscheinen mehr Anzeigen gleichbedeutend mit weniger Stimmen.» Es komme vor allem auf das Targeting an.
«In einer Welt von Daten braucht man keine Werbung.»
James Whittaker, Microsoft
Der Autor verdichtet seine Beobachtungen zu der interessanten Überlegung, dass durch die Detailliertheit von Nutzerdaten dereinst überhaupt keine Werbung mehr nötig sein könnte. James Whittaker, Ingenieur und Digitalevangelist bei Microsoft, ist überzeugt: «In einer Welt von Daten braucht man keine Werbung.» Maschinen würden den günstigen Preis bestimmen und dechiffrieren, was der Verbraucher möchte. Wenn Alexa den Geschmack des Konsumenten ohnehin schon kennt, warum braucht man dann noch kreative Werbung? Die Zukunft könnte so aussehen, dass Werbung vom Rezipienten als solche gar nicht mehr erkannt wird (Stichwort Native Advertising) oder schlicht nicht mehr notwendig ist.
Ob eine solche werbefreie Warenwelt eine Dystopie oder Utopie ist, lässt der Autor offen. Auletta hat in der narrativen Tradition amerikanischer Sachbücher eine luzide Vermessung der Werbeindustrie vorgelegt, eine gekonnte Mischung aus Anekdoten und Analysen. Das Buch ist anschaulich, faktengesättigt und gehört neben Tim Wus «The Attention Merchants» zu einer der hellsichtigsten Analysen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie.
Ken Auletta: Frenemies: The Epic Disruption of the Ad Business (and Everything Else), Penguin Press, 368 Seiten, auch erhältlich als E-Book, 16 Franken.