Sonderfall Tessin
Auch nach der Einstellung des Giornale del Popolo bleibt das Tessin das Medien-Mekka der Schweiz: Nirgendwo sonst herrscht eine vergleichbare Vielfalt auf so kleinem Raum. Neben der oft als übermächtig beschriebenen italienischsprachigen SRG halten sich insbesondere die gedruckten Medien erstaunlich gut. Ein Grund dafür ist die starke Tradition der politischen Presse im Tessin.
Es war ein Schock – für die Mitarbeitenden ebenso wie für die treue Leserschaft. Der Bischof von Lugano, Valerio Lazzeri, kündigte den 30 Mitarbeitenden des Giornale del Popolo Ende Mai das Aus der Tageszeitung höchstpersönlich an: «Noch eine Ausgabe – dann ist Schluss!» Die Schliessung des mehrheitlich vom Bistum gehaltenen Blatts sorgte im ganzen Kanton Tessin und auch darüber hinaus für Konsternation. Immerhin hat das Giornale del Popolo Zeitungsgeschichte geschrieben. 92 Jahre lang war es erschienen, teilweise als die Tageszeitung mit der höchsten Auflage im Tessin. Das ist aber lange her. Zuletzt liefen nur noch 10‘000 Exemplare vom Band.
Ein Zahlungsausstand in der Höhe von 400‘000 Franken durch die konkursite Publicitas gab dem seit Jahren defizitären Blatt den Gnadenstoss. Aber auch unabhängig davon wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das Giornale die Pforten dicht gemacht hätte. Die Rede ist von mehr als einer Million Franken Defizit pro Jahr. Beobachter halten es für einen gravierenden Fehler, dass sich die Zeitung auf Ende 2017 aus der Kooperation mit dem Konkurrenten Corriere del Ticino gelöst hatte. Die grösste der drei Tessiner Tageszeitungen hielt dem katholischen Blatt seit 2004 die Stange. Der Corriere, mit einen Anteil von 49 Prozent, und die Kurie mit 51 Prozent teilten sich die Defizite des Giornale.
Mit dem Verschwinden des Giornale del Popolo hat sich die Zahl der bezahlten Tageszeitungen im Tessin von drei auf zwei reduziert, was für eine Region mit 350‘000 Einwohnern immer noch aussergewöhnlich ist.
Der Corriere del Ticino hatte zuletzt vorgeschlagen, die Redaktion des Giornale del Popolo auf neun Journalisten zur reduzieren, um mit Hintergrundartikeln eine katholische Sichtweise zu einem Corriere-Mantelblatt einzubringen. Doch die Redaktion sah darin einen Etikettenschwindel und wollte weiterhin eine eigenständige und vollständige Tageszeitung produzieren. Es folgte die Trennung mit den nun bekannten Folgen.
Mit dem Verschwinden des Giornale del Popolo hat sich die Zahl der bezahlten Tageszeitungen im Tessin von drei auf zwei reduziert, was für eine Region mit 350‘000 Einwohnern immer noch aussergewöhnlich ist. Als Branchenleader weist der Corriere del Ticino gemäss WEMF eine Auflage von knapp 30‘000 Exemplaren und 102‘000 Lesern auf – das ist mehr als «Le Temps» in der Westschweiz. Konkurrent «La Regione» kommt auf eine Auflage von 25‘000 und 92‘000 Leser. Die werktägliche Gratiszeitung «20 minuti», das italienischsprachige Pendant zu «20 Minuten», kommt ihrerseits auf eine Auflage von 32‘000. Sie existiert seit 2011 und gehört je hälftig der Tamedia sowie dem Verlag Salvioni aus Bellinzona, der auch «La Regione» herausgibt.
Der Printmedienbereich ist allerdings noch viel reichhaltiger. Die Detailhändler sind mit ihren Gratis-Wochenzeitungen «Cooperazione» (Coop) und «Azione» (Migros) präsent, die zirka 145‘000 beziehungsweise 117‘000 Leser erreichen. Die Monatsillustrierte «Illustrazione ticinese» (zirka 120‘000 Leser) landet ebenfalls gratis in den Briefkästen. Und auch die italienischsprachige Zeitschrift vom TCS geniesst mit zirka 85‘000 Lesern viel Aufmerksamkeit.
Ein Sonderfall ist und bleibt der «Mattino della Domenica», das sonntägliche Gratis-Kampfblatt der Rechtspartei Lega dei Ticinesi.
Bei den Sonntagszeitungen erreicht «Il caffè della domenica» aus dem Haus des Locarneser Verleger Rezzonico 80‘000 Leser. Allerdings musste das Sonntagsblatt, das gratis und ausschliesslich werbefinanziert ist, in den letzten Jahren den Gürtel wesentlich enger schnallen, eine Reihe von Redaktoren und Grafikern wurde entlassen – nur noch fünf Journalisten arbeiten fest in der Redaktion. Ringier hatte seine Beteiligung an «il caffè» aufgegeben, dafür war der Corriere del Ticino mit 45 Prozent eingestiegen. «Diese Zusammenarbeit mit dem Corriere hat uns für die Zukunft stark gemacht», sagt Verleger Giò Rezzonico, der gleichwohl die schwierige Marktlage betont. Doch der Corriere hat mit «Media TIMarketing» eine eigene Werbevermarktung aufgebaut und sich so frühzeitig von der Publicitas abgenabelt. Davon profitiert nun auch «il caffè».
Ein Sonderfall ist und bleibt der «Mattino della Domenica», das sonntägliche Gratis-Kampfblatt der Rechtspartei Lega dei Ticinesi, das immerhin 60‘000 Leser zählt und von der Lega-Gründer-Familie Bignasca unterstützt wird. Ein Sonderfall ist auch die kleine «Tessiner Zeitung» aus dem Hause Rezzonico, die als Bezahl-Wochenzeitung die deutschsprachige Community im Tessin versorgt und als Nischenprodukt erstaunlich gut überlebt (Auflage: 6550 Ex.).
Weitet man den Blick auf die elektronischen Medien aus, wird das Panorama noch reichhaltiger. Da ist die Radiotelevisione Svizzera RSI, eine SRG-Unternehmenseinheit, die mit einem Budget von 240 Millionen Franken über 1000 Personen beschäftigt. Das Fernsehen RSI betreibt zwei Kanäle (La1, La2), dazu kommen noch drei Hörfunksender (Rete 1,2,3). Natürlich schlafen auch die Privaten nicht. Teleticino als konzessioniertes Regionalfernsehen, das zur «Corriere del Ticino»-Gruppe gehört, erhält jährlich 3,5 Millionen Franken aus dem Gebührentopf für die Regionalfernsehen (bei einem Budget von 6 Mio.) – mehr als etwa Tele Basel. Der private Radiosender Radio Fiume Ticino (Sitz in Locarno) bekommt gut eine Millionen Franken von den Gebühren, wie auch der aufstrebende Radiosender Radio 3iii, der zur «Corriere del Ticino»-Gruppe gehört. Dazu kommen auch noch etliche Online-Newsportale wie etwa Ticinonline, Ticinonews, LiberaTV sowie die Webseiten von RSI und den Tageszeitungen.
Die Parteiblätter haben in ihrer ursprünglichen Form nicht überlebt, aber die Mentalität einer politisch motivierten Zeitungsidentität ist geblieben.
Zurück zu den gedruckten Medien. Diese befinden sich zwar wie überall in Schwierigkeiten, vor allem wegen des Einbruchs im Anzeigengeschäft, können aber – im Gegensatz zur Deutschschweiz – ihre Leserschaft weitgehend halten. Die Leserzahlen sind nur leicht rückläufig. Was sind die Gründe? Aldo Sofia, Direktor des Journalistenkurses der italienischen Schweiz, verweist darauf, dass es bis in die 1980er Jahre sogar noch sechs Tageszeitungen gab: «Und jede Familie hatte jene Zeitung abonniert, die ihrem politischen Credo entsprach.» So lag bei den Freisinnigen «Il Dovere» im Briefkasten, bei den Sozialisten «Libera Stampa» und bei den Christlichdemokraten «Popolo e libertà». Diese Zeitungen haben in ihrer ursprünglichen Form nicht überlebt, aber die Mentalität einer politisch motivierten Zeitungsidentität ist geblieben. So ist die linksliberale «La Regione» eher im nördlichen Kantonsteil des Sopraceneri und bei einer linken Wählerschaft verbreitet, der rechts-freisinnige Corriere del Ticino ist dagegen fest im Wirtschaftsraum Lugano verankert.
Während auch die Tageszeitung «La Regione» mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpft, steht vor allem der «Corriere del Ticino» nach wie vor solide da. «Als Gruppe schreiben wir keine roten Zahlen», sagt Marcello Foa, CEO der Società Editrice Corriere del Ticino SA. Dies liegt auch daran, dass der Corriere del Ticino eine Stiftung im Rücken hat, deren Kasse prall gefüllt ist. Während andere Verleger die Gewinne einsackten und/oder Dividenden auszahlten, hat der Corriere Überschüsse in guten Zeiten in die 1941 gegründete Stiftung «Fondazione per il Corriere del Ticino» eingebracht. Heute dienen Mittel aus dieser Stiftung, um Defizite zu decken. «Die Einrichtung dieser Stiftung war eine sehr gute Idee», lobt Enrico Morresi (82), Doyen des Tessiner Journalismus und Autor der zweibändigen «Geschichte des Tessiner Journalismus». Wie viele Millionen in dieser Stiftung lagern, gehört indes zu den bestgehüteten Geheimnissen im Südkanton.
Ebenfalls ertragreich ist – zumindest bisher- das Druckzentrum Centro Stampa Ticino, das zur Gruppe des Corriere del Ticino gehört. Dort werden alle Tageszeitungen und Wochentitel gedruckt. «Gewinne aus dem Druckzentrum nutzen wir, um Verluste des Corriere auszugleichen», sagte VR-Präsident Fabio Soldati kürzlich in der RSI-Sendung «il quotidiano». Daraus liess sich schliessen, dass die gedruckte Tageszeitung «Corriere del Ticino» defizitär ist, was nicht wirklich erstaunt, wenn man bedenkt, dass noch fast 50 Journalisten für das Blatt tätig sind.
Bild/Montage: Reto Schlatter