von Anna Miller

«Die ständige Überwachung hat mich verändert»

Jean Lee war fünf Jahre lang Bürochefin der Associated Press AP in Pjöngjang, Nordkorea. Ein Gespräch über psychischen Druck, die Definition von Pressefreiheit und Menschlichkeit an einem kontrollierten Ort.

MEDIENWOCHE:

Frau Lee, fünf Jahre waren Sie als Reporterin für die AP in Nordkorea, 2012 haben Sie das erste westliche Pressebüro überhaupt auf nordkoreanischem Boden eröffnet. Ist die Art von Journalismus, wie wir sie im Westen verstehen, in einem Land wie Nordkorea überhaupt möglich?

Jean Lee:

Pjöngjang ist eine der schwierigsten Aussenstellen, die du als Korrespondentin überhaupt bekommen kannst. Nicht wegen der physischen Gewalt, die dir sonst in Krisengebieten droht. Sondern wegen des Mangels an Information. Deshalb belegt Nordkorea den letzten Platz in der Rangliste der Pressefreiheit weltweit. Wir wissen fast nichts über Nordkorea.

MEDIENWOCHE:

Können Sie dieses «Nichts» konkretisieren?

Jean Lee:

Es existierten beispielsweise keinerlei wirtschaftliche Daten über das Land, seit Jahrzehnten. Wir wissen nicht einmal, wie gross die Wirtschaftsleistung ist. Und wenn man an Informationen herankommt, fragt man sich die ganze Zeit, ob diese Information wirklich wahr ist. Man kann auf Nordkorea bezogen nicht von einem westlichen Presseverständnis reden. Der Staat hat eine spezifische Agenda, und der Journalist ist in seinen Augen dazu da, Propaganda zu streuen. Meine Mission war, das zu ändern.

MEDIENWOCHE:

Ist Ihnen das gelungen?

Jean Lee:

Die Öffnung eines Büros hat mir viele Rechte und Freiheiten gegeben, die man von Aussen niemals bekäme. Ich hatte damit einen nie dagewesenen Zugang zum Land. Überall, wo ich hinkam, sagten sie mir: Du bist die erste Amerikanerin überhaupt, die das geschafft hat – es war ein Meilenstein. Dazu muss ich aber sagen, dass die Situation sich für meinen Nachfolger wieder verschlechtert hat. Der Weg zu besserem Informationszugang ist noch sehr lang.

MEDIENWOCHE:

Was erschwert den Zugang zu Information konkret?

Jean Lee:

Nordkorea möchte Innen und Aussen strikt trennen. Ausländer benutzen ein anderes Handynetz als Einheimische. Das heisst, dass ich mit meiner Nummer auf nordkoreanischem Boden jede ausländische Nummer der Welt wählen kann, aber meinen Nachbarn nicht. Umgekehrt können Nordkoreaner sich gegenseitig anrufen, aber niemanden ausserhalb des Landes. Ausländer können das 3G-Netzwerk nutzen, Nordkoreaner nicht. Damit kontrolliert der Staat die Interaktion der Bürger.

MEDIENWOCHE:

Wie haben Sie recherchiert?

Jean Lee:

Mit viel Geduld und guten Kontakten. Jede Interviewanfrage musste auf nordkoreanischem Boden stattfinden. Anrufen, Emails schreiben, diese ganz normalen Anfrage-Prozesse, funktionierten nicht. Alles lief sehr bürokratisch ab. Aber damit ist Nordkorea nicht alleine. Auch in China und in Südkorea läuft das so. Ich hatte Mitarbeiter in Nordkorea, die mir bei diesen Dingen geholfen haben. Aber ich war in meiner Rolle ja vergleichsweise privilegiert.

MEDIENWOCHE:

Inwiefern?

Jean Lee:

Weil ich Teil des offiziellen ausländischen Presse-Corps in Pjöngjang war, wurde ich vom Staat anerkannt. Und ich habe südkoreanisches Blut in mir. Das war ein entscheidender Faktor in meiner journalistischen Arbeit. Ich sehe den Nordkoreanern äusserlich ähnlich, und spreche ihre Sprache. Das half mir sehr, eine Brücke zwischen Aussen und Innen zu schlagen. Ich wollte mit den Bürgern in Kontakt treten, mit Bauern, mit Arbeitern, mit Politikern. Als Journalist willst du in Kontakt treten, die Leute wirklich spüren, du willst Authentizität herstellen. Und du wirst irgendeinen Weg suchen, ihnen so nahe wie möglich zu kommen, das ist unser Instinkt.

MEDIENWOCHE:

Hat es funktioniert?

Jean Lee:

Ich bin überzeugt, dass ich ihnen sehr nahe gekommen bin und ein ansatzweise authentisches Bild des Lebens in Nordkorea zeichnen kann. Über die Jahre habe ich zu einigen von ihnen sehr intensive Beziehungen aufgebaut. Auf einer generellen Ebene konnte ich zumindest Teile dieser Informationen in meine Berichterstattung einfliessen lassen. Aber ich habe natürlich nie öffentlich den Führer kritisiert. Als Westlerin ist es sehr hart, das zu akzeptieren, weil wir es gewohnt sind, als Journalisten unsere Politiker zu kritisieren.

MEDIENWOCHE:

Wie oft dachten Sie: Ich bin Teil der Propaganda?

Jean Lee:

Mit der Zeit immer weniger. Ich konnte Propaganda und Realität immer besser trennen und konnte immer einfacher darüber schreiben, was ich wirklich sah. Ich hatte mit der Zeit meine Tricks, um nicht für Propaganda benutzt zu werden. Aber die Überwachung ist real, und sie ist immer spürbar. Nordkorea ist ein sehr schwieriger Ort, um zu leben und zu arbeiten. Es ist körperlich anstrengend, weil man de facto in einem unterentwickelten Land lebt. Doch die wirkliche Herausforderung war der psychische Druck, den ich hatte.

MEDIENWOCHE:

Wie fühlte sich dieser an?

Jean Lee:

Ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet. Das war sehr schwierig. Das hat mich verändert. Es fühlt sich an, als würdest du die ganze Zeit im Nebel arbeiten. In einem Dunstkreis, und du siehst nicht mehr klar. All deine Sinne sind geschärft, 24 Stunden am Tag. Du bist die ganze Zeit in Alarmbereitschaft, du bist auf der Lauer, beobachtend. Der Körper schüttet die ganze Zeit Adrenalin aus.

MEDIENWOCHE:

Was hätte Ihnen passieren können? Welche Angst war es konkret?

Jean Lee:

Nordkorea sieht Journalisten in der Regel als potenzielle Spione anderer Länder. Strafen für Spionage sind sehr hoch, und Nordkorea hat eine Vergangenheit mit der Anklage amerikanischer Journalisten.

MEDIENWOCHE:

Hatten diese neuen Umstände trotz allem auch Vorteile für Sie und Ihr journalistisches Handwerk?

Jean Lee:

Ich habe gelernt, sehr genau darauf aufzupassen, wie ich was und wann sage, und wie ich meine Fragen stelle. Ich bin geduldig geworden. Ich habe gelernt, auszuharren, bis der richtige Moment gekommen ist, etwas aufzuschreiben.

MEDIENWOCHE:

Wie schwierig war das für Sie als Mensch?

Jean Lee:

Es war sehr schwierig. Ich wünschte manchmal, ich hätte im Vorfeld ein Krisen-Training absolviert, damit ich besser auf die Situationen vorbereitet gewesen wäre. Auf jeden Fall kann ich sagen: In Nordkorea musste ich meine Definition davon, was ein Journalist tut und was er können muss, ausweiten.

MEDIENWOCHE:

Wie haben Sie diese Jahre verändert?

Jean Lee:

Ich werde langsam wieder der Mensch, der ich davor war, aber es ist mir geblieben, dass ich heute immer sehr gut darüber nachdenke, wann ich was und wie sage. Ich habe mich in Nordkorea nicht normal verhalten. Ich glaube, Menschen, die aus Ost-Deutschland stammen oder der Sowjetunion, wissen genau, wovon ich spreche. Diese antrainierte Wachsamkeit wirst du kaum mehr los.

MEDIENWOCHE:

Welche Rolle spielte es, dass Sie eine Frau sind?

Jean Lee:

Für mich war es entscheidender, eine Amerikanerin zu sein als eine Frau, das war ein relevanterer Faktor. Weil Nordkorea und Amerika immer noch in einem Kriegsverhältnis zueinander stehen. Ich bleibe immer eine Bürgerin des Feindes.

MEDIENWOCHE:

Lohnt sich Journalismus unter diesen erschwerten Umständen überhaupt?

Jean Lee:

Das ist eine gute Frage. Ich persönlich finde: Ja. Weil man nur so auch darum kämpfen kann, die Zustände zu ändern. Aber ich weiss nicht, ob irgendjemand je einen wirklich unverfälschten Blick auf das Land erhaschen konnte.

MEDIENWOCHE:

Nicht einmal Sie?

Jean Lee:

Nicht einmal ich. Jeder, der nach Nordkorea reist, muss zuerst realisieren und mit eigenen Augen sehen, was es heisst, in einem Propaganda-Staat journalistisch unterwegs zu sein. Es braucht ein paar Reisen, um überhaupt eine Ahnung davon zu bekommen, wie man Propaganda von der Realität trennen kann. Aber das heisst nicht, dass man nicht gehen sollte.

MEDIENWOCHE:

Wie sieht das echte Nordkorea denn aus? Auch wenn Sie das nicht abschliessend beantworten können, so lebten Sie immerhin über Jahre dort.

Jean Lee:

Es ist ein viel komplexerer Ort als viele Zeitungen im In- und Ausland uns das glauben lassen. Politisch, ökonomisch, menschlich. Die Menschen sind nicht die Roboter, als die man sie immer darstellt. Der Staat Nordkorea streut dieses Bild aktiv, weil er Einheit demonstrieren will. Doch die Nordkoreaner sind ganz normale Leute, mit Jobs, mit Familiendramen und Hobbys. Ich bin immer enttäuscht, wenn Ausländer das Land bereisen und dann sagen: Diese Leute in Nordkorea haben alle den gleichen Gesichtsausdruck, die wirken so, als hätte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Das ist eine Maske, die sie tragen.

MEDIENWOCHE:

Werden sie vom Staat dazu gezwungen? Oder sehen sie diese Maske als Teil ihrer Identität? Oder sind sie sogar stolz auf dieses Bild von ihnen?

Jean Lee:

Es ist ein bisschen von allem. Sie müssen, sie wollen, und irgendwie ist das auch ein Teil ihrer Identität. Und wir selbst, von aussen, haben sehr viele Vorurteile gegenüber diesem Land. Die Welt liebt diesen Mythos Nordkorea auch, weil es faszinierend ist, Nordkoreaner als Menschen eines anderen Sterns zu sehen. Es braucht in der Regel eine ganze Weile, um sich von diesen Vorurteilen zu befreien.