von Benjamin von Wyl

«Vor dem ersten Gegenlesen krepiere ich fast»

So schreibe ich: Rafaela Roth hat den Sprung vom Nachwuchstalent zur gestandenen Schreiberin geschafft. Als Reporterin des «Tages-Anzeigers» fällt sie vor allem durch thematische Breite und stilistische Versiertheit auf. Wie sie das macht? Mit der MEDIENWOCHE hat sie über ihren Artikel «Liberté, Egalité, SVP» gesprochen, eine Geschichte der Gleichstellungsgegnerschaft der SVP.

Es ist so verlogen. Pause, Pause, Pause. Fuck! Pause, Pause, Pause. Woohoo! Der Schluss ist so geil. Rafaela Roth liest ihren Text «Liberté, Égalité, SVP» beim Treffen mit der MEDIENWOCHE noch einmal. Ihre Juchzregungen und Wortfetzen während dieser Lektüre sind wunderbar. Selten erfreut sich eine Journalistin so offen an der eigenen Arbeit – jedenfalls nicht, wenn sie oder er nicht unbeobachtet ist.

Nicht bei jedem Artikel reagiere ich so, falls ich ihn nochmals vorgesetzt bekomme. Das passiert wahrscheinlich bei fünf Prozent der Texte. Vielleicht zehn, sagen wir zehn. Wenn ich diesen Text jetzt lese, bin ich trotzdem nicht mit allem zufrieden: Beim Schreiben habe ich eine Textmelodie im Kopf. An einer Stelle sitzt nun der Rhythmus nicht. Da hätte ich einen Gedankenstrich machen müssen, damit die Lesenden wissen, was sie danach erwartet. Es geht dabei eigentlich ums Tempo. Mir ist Tempo immer sehr wichtig.

«Liberté, Égalité, SVP» – Roths Titel beschleunigt bereits auf 180, bevor allfällige Interpunktionsdetails abschrecken könnten. Krasser kann man zwischen den Stilebenen nicht springen. Die Ideale der französischen Revolution in einen Kontext setzen mit der SVP: Das ist Punk. Inhaltlich, aber auch im Klang. Das P in SVP kann man noch so unnatürlich lang ziehen, den sauberen Gleichklang mit dem Fraternité bekommt man nicht hin. Stallmist landet auf der Trikolore.

Um den Titel habe ich gekämpft. Jemand hat mich darauf hingewiesen, dass er «SVP» mit «Fraternité» gleichsetzt. Das Argument kann man absolut gelten lassen. Ich glaube aber nicht, dass die Lesenden den Titel so wahrnehmen. Er ist catchy! Man liest und denkt «Whaat?!» Das «SVP» wirkt wie ein Keil in der bekannten Losung. Man will den Text sofort lesen.

Auf den Keil folgt ein Gewaltmarsch durch den politischen Kampf gegen die Geschlechtergleichstellung. Der Artikel jagt die Leser/innen durch die jüngere Geschichte der Schweiz. Auch diese Verdichtung sorgt für Tempo und dass der Text trotz dieser Faktendichte funktioniert, zeigt Roths Fähigkeiten in der Leser/innenführung. In 8000 Zeichen zeichnet sie 30 Jahre Engagement der SVP gegen die Gleichstellung nach, zoomt mal nach Zürich, Bern oder natürlich in den Aargau. Der Aargau war Roths Ausgangspunkt: Dort schliesst die Fachstellung für Gleichstellung. Wie konnte es dazu kommen? Das wollte die Reporterin herausfinden.

Erst in der Recherche wurde mir klar, dass das überall passiert. Der Plan war eine Reportage, aber irgendwann lagen so viele relevante Infos vor mir, dass der Reportageteil kleiner wurde. Eigentlich hatte ich ja bloss gesammelt und dann alles verdichtet aufgezeigt.

Roths Text ist auch ein Blocher-Text. Noch ein Blocher-Text.

Blocher ist als Figur gesetzt. Wir bekommen ihn nicht so schnell weg. Er ist der Vater der SVP, er zieht die Fäden. Ich war darauf vorbereitet, dass mir beim ersten Gegenlesen jemand sagt: «Nicht schon wieder der Blocher». Der Satz ist tatsächlich gekommen. Und ich hab dann einfach gesagt: «Lies es bis zum Ende!»Der Schluss legitimiert den Blocher-Rahmen.

Den Schluss muss man zitieren: «Es ist Weltfrauentag. Und ein paar Tage davor gab die SVP bekannt, dass Magdalena Martullo an die Parteispitze nachrutscht. Sie hatte Glück, dass die Gleichstellung nicht nach dem Tempo ihres Vaters verlief. Die Mehrheitsaktionärin der Ems-Chemie Holding dürfte heute wahrscheinlich immer noch keine Verträge unterschreiben.» Der Text beginnt mit Christoph Blochers Kampf gegen das neue Eherecht 1985, springt ins heute zur Abschaffung der Fachstelle für Gleichstellung im Aargau, führt die Leser/innen über die Nacherzählung einer Onlinerecherche zur UNO-Einschätzung der Gleichstellung in der Schweiz, zoomt nach 3500 Zeichen in einen Demo-Reportage – 500 Teilnehmende, Zitate aus Reden. Dieser Reportage-Teil dauert vier Sätze. Dann sind wir wieder im historischen Hintergrund. Der mündet im seltenen Fall, dass die Wiederholung der Begriffe «Interpellation» und «Motion» zum stilistischen Lichtmoment werden: Der Stakkato der Angriffe gegen die Gleichstellung im Kanton Bern wirkt auf die Leserin wie ein Wasserfall. Danach folgt die Meinung von Expertinnen und Experten, #metoo wird auch kurz touchiert, noch ein Reportage-Block und dann der Schluss bei Martullo. Der Artikel ist komplette Überforderung, eine fundierte, engagierte, lesenswerte Überforderung.

Das ist ja eigentlich die Philosophie des Schreibens: Fragezeichen auslösen, Fragen beantworten, Fragezeichen auslösen, Fragen beantworten. So liest man den Text auch zu Ende. Natürlich habe ich den Lesenden nicht alle Fragen und Antworten aufgebürdet. Ich würde sagen, etwa 45 Prozent meines Materials ist rausgeflogen. 55 Prozent ist da. Diese Reduktionsarbeit ist Marter für mich. Das Lied der Kabarettistinnen Knuth und Tucek wollte ich eigentlich zwei Mal bringen, aber das Darling musste ich killen. Weil ich kürzen musste. Aber das Darling ist auch nach meiner Gegenlese-Methode rausgeflogen. Wenn mir jemand etwas killen will, gebe ich es noch einer zweiten Gegenleserin. Wenn sie dasselbe sagt, kill ich es. Aber nur dann. Diesen Artikel haben sicher drei Leute gelesen. Damaturgisch wurde nicht viel verändert, aber beim Tages-Anzeiger – vor allem bei der Seite 3 – redigieren wir schon streng. Bei diesem Artikel habe ich um vieles gekämpft. Ich liebe es, wenn meine Gegenleser Fehler sehen, wo ich schon blinde Flecken habe. Wenn ich aber entschieden anderer Meinung bin, kämpfe ich darum.

Roth beschreibt das erste Gegenlesen trotzdem als das schlimmste. Ist ein Artikel durch die redaktionellen Prozesse durchgekommen, erlebt sie freudige Erwartung. Davor ist es aber unangenehm: Die Arbeit ist eigentlich fertig und jemand bewertet das Getane. Jemand vom Fach, zudem noch.

Vor dem ersten Gegenleser krepier ich fast. Es kann mir nicht schnell genug gehen, ich warte und weiss nicht, wie ich mich in der Zwischenzeit beschäftigen soll. Kommt das Telefon endlich, atme ich nochmals ein und dann kommt die Konfrontation. So ist es bei Texten, die mir wichtig sind. Es ist ja auch was Intimes: Man hat gemacht, was man konnte unter den Umständen, unter denen man halt arbeitet und dann kommt der Richter.

Die Deadline helfe der Reporterin bei ihrer Arbeit aber auch.

Einfach loslassen! Man muss ja loslassen.

In ihrem Job hat Rafaela Roth die besten und schlechtesten Voraussetzungen als Journalistin: Sie ist beim Tages-Anzeiger sowohl Teil der Zürich-Redaktion, als auch des Seite 3-Teams, wo Texte wie «Liberté, Egalité, SVP» möglich sind. Roth hat eine grosse Verbreitung und arbeitet bei einem Medium, das noch immer für eine gewisse Qualität steht. Durch die redaktionellen Verpflichtungen ist sie in der Hybrid-Position aber auch eingespannt: schnelle Newsbeiträge und klar getakteter Agendajournalismus strukturieren dann ihren Alltag. Man müsse sich die Zeit und den Raum für solche Arbeit wegstehlen.

An diesem Text habe ich eine bündige Woche gearbeitet und dazwischen vielleicht noch ein, zwei Spalten geschrieben. Damit meine Kolleginnen und Kollegen merken, dass ich auch noch da bin. Wirklich geschrieben hab ich ein bisschen weniger als einen Arbeitstag.

Wie verschafft man sich im Gewusel einer Redaktion einen ganzen Tag Ruhe, um konzentriert zu schreiben?

Artikel wie diesen kann ich unmöglich auf der Redaktion schreiben. Da passiert zu viel. Für sowas brauche ich absolute Ruhe, einen leeren Tisch und im Idealfall ein Fenster mit schöner Aussicht. Mein tollstes Schreiberlebnis hatte ich im Maggiatal, in einem umgebauten Bauernhaus. Das war die Geschichte von Luana, die ihren Vergewaltiger heiraten musste. Eigentlich war es ein Wochenende vom Team hinter dem Stolze Open Air. Ich hab die dann ein bisschen hängen lassen, wenig getrunken und mich frühmorgens dort in die Bibliothek gesetzt. Ein Fenster zum Tal, frische Luft, das Geplätscher eines Bachs nebenan und es ist einfach so wuuuusch…aus meinen Fingern geflossen. In einem Rutsch hab ich die Geschichte geschrieben. Und Texte, die in einem Rutsch entstehen, sind die besten.

Die Geschichte von Luana hat Rafaela Roth für «Watson» geschrieben; sie erhielt dafür ihren ersten von zwei Preisen in ihrer «Watson»-Zeit. Bei «Watson» war Roth als Praktikantin Teil des Launch-Teams. Als sie nach über vier Jahren zum Tages-Anzeiger gewechselt ist, war sie Chefin des Reporter/innen-Teams. Die Arbeit bei «Watson» hat Roth geprägt.

Bei «Watson» habe ich von hinderlichem Perfektionismus losgelassen. Da habe ich gelernt, dass es auch ums Raushauen geht. Dass man der eigenen Arbeit manchmal vertrauen darf und nicht nochmals zwei Stunden länger brüten muss. Im Studium trainiert man sich eine wissenschaftliche Sprache mit möglichst vielen Schachtelsätzen an, Doppelungen sind erwünscht, möglichst präzise Begriffe. Perfektionistische Tendenzen werden noch verstärkt. Im Journalismus ist das dann alles verboten. «Liberté, égalité, SVP» vermittelt auch sehr viel Hintergrund, aber mit Tempo. Das wissenschaftliche Schreiben hat null Tempo.

Der letzte «Watson»-Artikel von Rafaela Roth hat das Wort «Masturbation» im Titel.

Manchmal vermisse ich die ranzige Stilfreiheit von «Watson». Es passiert mir, dass ich mir sage «Ui, nei, das kannst du im Tagi nicht bringen». Worte wie Crowdfunding muss ich den Tagi-Leser/innen erklären. Bei «Watson» konnte ich für ein Publikum in meinem Alter schreiben – und die Älteren haben es trotzdem gerne gelesen. Bei «Watson» war auch die Interaktion mit den Leserinnen direkter: Kommentarspalten, Shares, Diskussionen auf Social Media. Das habe ich viel mehr miterleben können. Jetzt bekomme ich Leser/innenbriefe, aber bis die bei mir sind, vergehen zwei Tage.

Sind es wirklich nur lahme Leserbrief-Schreiber/innen, die die Stimmung beim Tages-Anzeiger drücken? Der jüngste Kommentator im Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu titelt «Toxische Unternehmenskultur». Tamedias unternehmerische Entscheide gegen den Journalismus wirken sich doch sicherlich auch auf die Stimmung bei der Arbeit aus.

Ja klar. Die letzten Wochen waren nicht einfach. Es fällt angesichts der aktuellen Entwicklungen schwer, ständig auszublenden und sich auf die eigenen Geschichten zu konzentrieren. Wenn ich mir etwas wünschen könnte für diese Zeit der Umwälzung in der Medienbranche, wäre es, dass wir uns Biotope erhalten können, in denen journalistische Visionen noch gedeihen. Das würde auch bedingen, dass wir wieder mehr über Geschichten als über die Krise reden.

«Liberté, egalité, SVP» beschreibt den Kampf der SVP gegen die Geschlechtergleichstellung. Die Medienbranche ist aber selbst eine Machobranche: Der Frauenanteil in den Schweizer Redaktionen beträgt nur 30 Prozent. Seit einem knappen Jahr hat der Tages-Anzeiger zwar eine Chefredaktorin, aber ansonsten steht es zappenduster um Frauen in Führungspositionen. In den Kaderpositionen der neuen Tamedia-Mantelredaktion sitzen fast nur Männer. Nur das Ressort «Gesellschaft» und der Bereich «Infografik» werden von Frauen geleitet.Wie behauptet man sich als Frau in diesem Branchenumfeld?

Wir müssen uns den Raum nehmen, das Wort ergreifen, dürfen uns nicht in softe Themen abdrängen lassen und müssen uns gut mit den Frauen verschwestern, die da sind. Am Ende muss man einfach gute Arbeit liefern wie alle anderen. Ich finde es eine Schande, dass die Redaktionen es nicht schaffen, genug Frauen anzustellen und angestellt behalten. Dumm für sie, denn gemischte Teams arbeiten besser.

Leserbeiträge

Jürg-Peter Lienhard 14. August 2018, 17:36

Ich möchte auch gerne so viel Aufmerksamkeit für meine Texte, wenns ums Motzen, zumal, wenn es um ganz konkret Tragisches für die Betroffenen geht – zum Beispiel das: http://webjournal.ch/article.php?article_id=1142

Und: Motzen kann ich sowieso, und Motz-Schreibe musikalisch formulieren auch – nur bezahlt mich keine famose Redaktion dafür…