«Am Anfang steht für mich die Frage, wie ernst wir unser Publikum nehmen.»
Seit Anfang August leitet Stefano Semeria (52) die Abteilung Unterhaltung von Schweizer Radio und Fernsehen SRF in Zürich. Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt der erfahrene TV-Mann, wie er den Spagat zwischen junger Zielgruppe und einem älteren Stammpublikum schaffen will. Als Erfolgsfaktor sieht er die «Scharniergeneration» der 30- bis 55-Jährigen.
MEDIENWOCHE:
Sie sind seit 1. August im Amt als Unterhaltungschef von SRF. Was befähigt Sie zu dieser Aufgabe?
Stefano Semeria:
Ich habe in meinem Leben sehr unterschiedliche Funktionen ausgeübt.Aber es gab immer zwei Kernelemente. Das eine war Planung und Organisation und das andere war Trendscouting im weitesten Sinne. Ich habe mich sehr viele Jahre für private Medien, aber auch für öffentlich-rechtliche mit der Frage auseinandergesetzt, was gibt es Neues an audiovisuellen Medieninhalten weltweit.
MEDIENWOCHE:
Was haben Sie in den ersten 14 Tagen im neuen Job alles schon gemacht?
Stefano Semeria:
Viel gelesen, viele Gespräche geführt. Für viele Mitarbeitende geht es zuerst einmal darum zu wissen, wer ich bin, was sie von mir erwarten können, wofür ich stehe. Natürlich gibt es bei solchen Wechseln auch immer die Frage: Wie findet er das, was wir bisher gemacht haben?
MEDIENWOCHE:
Ich welchem Zustand befindet sich die Abteilung Unterhaltung?
Stefano Semeria:
Zum einen sehe ich, dass alle Mitarbeitenden extrem motiviert sind. Es freut mich besonders, dass es eine relativ junge Abteilung ist. Mein ehemaliges «Junge Zielgruppen»-Team bestand natürlich mehrheitlich aus jungen Mitarbeitenden. Dass dies auch in der Unterhaltung der Fall ist, war mir vorher gar nicht bewusst. Sicherlich ist nicht allein das Alter der Grund für die Motivation. Ich merke, dass es ein Bedürfnis ist, den Umbruch mitzugestalten, den es in der Unterhaltung und in den Medien gibt. Ich spüre das Selbstverständnis aller Mitarbeitenden, für ein öffentliches Medienunternehmen zu arbeiten und sich dabei zu fragen: Was wollen wir denn in Zukunft anbieten? Das freut mich sehr, weil ich mir dieselbe Frage stelle.
MEDIENWOCHE:
In der ersten Zeit als Unterhaltungschef fällt Ihnen die Aufgabe zu, zuvor beschlossene Sparmassnahmen umzusetzen. Unter anderem werden die grossen Show-Produktionen in Kreuzlingen eingestellt. Wie schwer wiegt dieser Verlust?
Stefano Semeria:
Natürlich wiegt ein solcher Verlust schwer. Alles, was man verliert, bedauert man. Es haben aber alle Beteiligten akzeptiert, dass dies so ist. Ich finde das nicht nur professionell, sondern auch aus der Historie raus verständlich, dass wir unseren Teil zur Entwicklung des gesamten Unternehmens beitragen wollen und auch müssen. Und es hilft gar nicht, nun lange zu lamentieren und sich zu wehren, sondern das als Chance wahrzunehmen und zu sagen, wir haben jetzt neue Rahmenbedingungen, wir müssen sparen.
MEDIENWOCHE:
Hätten Sie nun abgeschaffte Formate behalten, wenn Sie schon hätten mitentscheiden können?
Stefano Semeria:
Die Frage stellt sich so gar nicht. Ob man zwei Quiz-Sendungen braucht oder nur eine, das kann man sich immer fragen. Aber wir verlieren ja dieses Element nicht insgesamt. Bei Formaten wie etwa «SRF bi de Lüt», hätte ich auch überlegt, ob es wirklich sinnvoll wäre, hier zu sparen. Aber die seriellen Produktionen vor allem am Freitagabend wurden sinnvollerweise nicht angefasst.
MEDIENWOCHE:
Was macht im Kern ein Unterhaltungsangebot eines Service-public-Anbieters aus?
Stefano Semeria:
Am Anfang steht für mich die Frage, wie ernst wir unser Publikum nehmen. Das gilt eigentlich für alle Formen und Formate. Wie präsentieren wir Personen, wie erzählen wir Geschichten? Damit können wir uns auch von den Privaten unterscheiden. Nehmen wir Scripted Reality als Beispiel. Dürfen wir das machen? Ich würde das nicht per se ausschliessen. Es ist nur die Frage, ob wir dem Publikum klarmachen würden, wie wir in und mit dem Genre spielen. Wir dürften es nicht im Glauben lassen, die «Reality» sei echt. Und wir führen unsere Protagonisten nicht vor. Das ist ein grosser Unterschied, was die Fairness gegenüber dem Publikum angeht. Ich behaupte, dass es kein Genre gibt, das uns gar nicht ansteht. Unsere Haltung ist entscheidend.
MEDIENWOCHE:
Die TV-Unterhaltung war jahrzehntelang geprägt von den grossen Samstagabendkisten, «Benissimo» gab es zwanzig Jahre lange auf SF, respektive SRF. Wird es solche Publikumsmagnete in Zukunft noch geben?
Stefano Semeria:
Die klassische Show hat ihre Halbwertszeit irgendwann erreicht. Wir stehen jetzt gerade in diesem Transitionsprozess und überlegen, wie wir damit umgehen. Es wird weiterhin ein Publikum geben, das gerne eine Samstagabendshow sieht und einen anderen Teil, der lieber etwas anderes guckt. Und darauf müssen wir Antworten finden. Aber eine lange Samstagabendunterhaltung wird es noch sehr lange geben. Gute Beispiele unter vielen anderen sind etwa «Happy Day» und «SRF bi de Lüt live». Es gibt dieses Bedürfnis des Publikums am Samstagabend lange unterhalten und begeistert zu werden.
MEDIENWOCHE:
Aber wird es in Zukunft noch TV-Formate geben, die sich über Jahre, ja Jahrzehnte halten, wie eben die klassischen Samstagabendshows. Oder werden die Produktionszyklen generell kürzer?
Stefano Semeria:
Fernsehen war schon immer zyklisch geprägt und die Zyklen sind nicht für alle Genres oder Gattungen gleich. Wenn ich mir überlege, dass die BBC vor 14 Jahren mit der Tanz-Show «Strictly Come Dancing» rausgekommen ist, die ja auch eine Anlehnung an die grossen Primetime Entertainment Shows aus den 1970er-Jahren war, dann sieht man, wie Elemente wieder verwendet werden, die es schon lange geben hat. Vor ein paar Jahren gab es auch den Trend, klassische Game-Shows wieder ans TV zu bringen bei den Privaten. Formeln, die mal gut funktioniert haben, werden neu angestrichen und man guckt, ob sie auch heute beim Publikum ankommen. Das wird es immer wieder geben. Ob die Zyklen kurz oder länger sind, das ist schwer vorherzusehen. Ich habe seit Jahren damit gerechnet, dass es bald keine neuen Koch-Shows mehr geben wird – und es kommen immer mehr auf den Markt. Es ist verrückt, was es dort alles gibt.
MEDIENWOCHE:
Wie sieht für Sie eine ideale Unterhaltungssendung aus?
Stefano Semeria:
Ich kann das gut an einem Beispiel illustrieren, das mich in den letzten Monaten sehr beschäftigt hat weil es ein Format ist, das ich sehr intelligent fand, und das aufzeigt, wie man ein breiteres Publikum ansprechen kann. Der britische Channel 4 brachte letztes Jahr «Old People’s Home for 4 Year Olds» als Zweiteiler. Das ist eine Sendung, die Kindergartenkinder über einen längeren Zeitraum mit Senioren in einem Betagtenheim zusammengebracht hat. Das Format zeigt – in sehr unterhaltender Weise – ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema: Älter werden und die Frage, wie wollen wir unsere älter werdenden Mitmenschen in der Gesellschaft betreut wissen. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was öffentliche Medien leisten können, dass es möglich ist, mehrere Generationen mit einem relevanten Inhalt anzusprechen. Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann wäre es, dass auch wir noch mehr in diese Richtung denken.
MEDIENWOCHE:
Sie müssen es allen recht machen. Aber welches Publikumssegment wollen sie speziell umwerben?
Stefano Semeria:
Eine Zielgruppe, die wir noch stärker in den Mittelpunkt rücken müssen, sind die 30- bis 55-Jährigen. Das sind genau die Kinder vom älteren, bestehenden Publikum und die Eltern von denen, die wir auch als Publikum haben wollen. Diese Generation in der Mitte – eine Art Scharniergeneration – spielt eine wahnsinnig wichtige Rolle bei der Mediensozialisierung, weil sie beides kennt. Sie hat das analoge Medienangebot miterlebt und ist damit gross geworden. Sie ist aber auch digital total auf dem Quivive. Das ist eine Generation von der ich glaube, wenn wir sie stärker in den Mittelpunkt rücken, dann finden wir auch Themen, die sowohl nach oben, ins älter werdende Publikum, als auch ins jüngere Publikum funktionieren.
MEDIENWOCHE:
Was bei SRF möglich und machbar ist, hängt auch von Konzession und Gesetz ab. Im Entwurf zur neuen Konzession wird eine klare Abgrenzung vom Angebot der Privaten gefordert. Sehen Sie solche Vorgaben als störendes Korsett oder als willkommene Leitplanke?
Stefano Semeria:
Weder, noch. Ich glaube, die Unterhaltung hat das, was nun gefordert wird, schon längst gemacht. Wir unterscheiden uns bereits jetzt sehr deutlich von den Privaten. Wir thematisieren auch Integration, wir beschäftigen uns mit Randgruppen und mit schwierigen Themen, die im Umfeld privater Medienanbieter kaum zu refinanzieren wären. Ich nenne mal als Beispiel die SRF Virus-Sendung «Rehmann S.O.S. – Sick of Silence», in der Moderator Robin Rehmann mit jungen Leuten spricht, die chronisch krank sind. Und in Youtube-Videos lässt Robin Menschen, vermittelt über Schauspieler, zu Wort kommen, die sich mit ihren oft tragischen Geschichten nicht in seine Sendung trauen. Ich freue mich natürlich, wenn auch private Medien sich dieser Themen annehmen.
MEDIENWOCHE:
Das heisst für Sie: Mit der neuen Konzession wird eigentlich nur die gängige Praxis festgeschrieben?
Stefano Semeria:
Ich glaube in weitesten Teilen, ja. Der einzige Unterschied, den es neu gibt, ist diese Verpflichtung, sich von den Privaten abzugrenzen. Wir haben aber aus meiner Sicht nie etwas gemacht, das eins-zu-eins bei den Privaten so hätte laufen können. Und umgekehrt sehe ich auch kein Format dort, das eins-zu-eins bei uns hätte laufen können. Da muss man mir vielleicht auch helfen, meine Erinnerung aufzufrischen.
MEDIENWOCHE:
Da kämen mir schon ein paar Sendungen in den Sinn. Zum Beispiel «Mini Beiz, dini Beiz». Könnte man unverändert auf 3+ bringen. Oder das vollversponserte Format «Gadget Box», das wenn schon zu «Joiz» gepasst hätte.
Stefano Semeria:
Das stimmt. Allerdings sind das Beispiele für service-orientierte Themen. Wenn man die etwas frischer und jünger erzählt, gibt es nicht allzu viele Unterschiede. Das Erzählen, die Erzählformen bei Privaten ist ja nicht prinzipiell schlecht. Es geht für mich bei der Unterscheidbarkeit vielmehr um eine Haltung, gegenüber Protagonisten, gegenüber dem Publikum, gegenüber Themen, die in der Lebenswelt der Schweizerinnen und Schweizer angesiedelt sind. Bei herausragenden Produktionen ist der Unterschied daher nicht sehr gross, wenn man sein Publikum ernst nimmt und Protagonisten nicht vorführt. Das tun wir bei «Mini Beiz, dini Beiz» nicht. Und mit «Gadget Box» haben wir noch vor der Gründung des Bereichs «Junge Zielgruppen» versucht am TV ein jüngeres, technikinteressiertes Publikum anzusprechen. Dort haben Tester aus verschieden beruflichen Milieus oder Interessengruppen, wie zum Beispiel Familien, Köche oder Musiker neueste Gadgets getestet. Das war Service pur. Unterhaltsam und informativ. Und, ich bin sicher, trotz der frischen Machart wäre dieses Programm vom «Joiz»-Publikum immer noch als zu alt beurteilt worden.
MEDIENWOCHE:
Sie arbeiten mit einem sehr breiten Unterhaltungsbegriff. Ist da eine Abgrenzung von beispielsweise der Kultur überhaupt noch möglich?
Stefano Semeria:
Ich bin mit diesen Labeln nicht ganz glücklich, weil die Entwicklung der letzten 15 bis 20 Jahren in den Medien, besonders im TV, nur dann Erfolge hervorbrachte, wenn es hybride Formate waren. Das heisst: Aus verschiedenen Zuständigkeitsbereichen was Neues zusammenmixen. Nehmen wir Infotainment oder Edutainment. Das sind ganz verschiedene Bereiche, die Information oder Bildung betreffen, aber auch Unterhaltungsanteile enthalten. Ein gutes Beispiel ist «Ärzte vs. Internet». In einer klassischen Aufteilung könnte die Information sagen, das gehört zu uns. Bei uns ist es nun in der Unterhaltung angesiedelt, natürlich auch im Austausch mit den Kollegen von «Puls». Vor zehn Jahren wäre das so noch nicht möglich gewesen, weil man sich gesagt hätte, ihr macht Quiz und wir machen Information. Eine Mischung wäre gar nicht in Frage gekommen.
MEDIENWOCHE:
Angesichts der verbreiteten digitalen und mobilen Nutzung, denken Sie alles vom Web her?
Stefano Semeria:
Für mich geht es zuerst um die Idee und dann um den Kanal oder die Plattform (…) Bei einer Web-Serie, wie etwa «Nr. 47», denke ich aber natürlich zuerst ans Web – obwohl wir die einzelnen Episoden auch am Fernsehen in einer zusammengefassten Form ausgestrahlt haben. Und ein «SRF bi de Lüt» schaut die grosse Mehrheit am heimischen TV. Die Sendung machen wir darum nicht per se fürs Netz. Aber: Wir müssen uns viel mehr Gedanken darüber machen, wie wir auf welcher Plattform mit welchen Inhalten wie oft, wie lange, in welcher Art präsent sind. Denn neben Radio, Fernsehen und Online srf.ch sind wir auch auf Drittplattformen unterwegs, wie Facebook oder Instagram, wo wir Angebote für spezifische Publika schaffen.
MEDIENWOCHE:
Apropos Drittplattformen: Das sind private Unternehmen mit ihren eigenen Gesetzen und Regeln. Inwiefern darf oder soll ein Service-public-Anbieter überhaupt seine Inhalte auf Facebook, Instagram oder Youtube präsentieren?
Stefano Semeria:
Ich sehe es vom Publikum her. Das Publikum ist auf verschiedenen Plattformen unterwegs. Wir können uns natürlich entscheiden, gewisse Dinge nicht zu machen, dann werden wir aber auch einen wichtigen Teil des Publikums nicht mehr erreichen. Wir können sie nicht auf unsere Plattform zwingen. Das wird nicht funktionieren. Ich hoffe, dass alle Menschen, die sich damit auseinandersetzen, diese Weitsicht haben zu sagen, es muss einem öffentlichen Medienhaus möglich sein, auf den Plattformen zu agieren, wo auch das Publikum ist. Es hat sich nun mal so entwickelt, wie es ist. Es ist nicht in allen Fällen begrüssenswert, was da stattfindet. Und auch die Machtbündelung und die Frage der Datennutzung, das ist mir klar, dass es auch eine gewisse Problematik gibt. Aber es ist ein relativ simpler Entscheid für mich. Wenn wir es nicht dürfen oder uns selber beschränken würden, würden wir das junge Publikum in weiten Teilen verlieren.
MEDIENWOCHE:
Private Angebote für ein junges Publikum scheitern in der Schweiz trotz innovativer Konzepte und Erfolg bei der Zielgruppe immer wieder an den Marktbedingungen, sei es jüngst Likemag oder zuvor Joiz. Ist die Schweiz zu klein oder SRF zu gross für ein vielfältiges Angebot für junge Mediennutzer?
Stefano Semeria:
Die Problematik ist eher die, dass wir so einen grossen Kanton nebenan haben. Es gibt ganz viele Angebote aus dem deutschsprachigen Raum, die hierzulande auch genutzt werden. Wenn ich mir beispielsweise anschaue, wie beliebt deutsche Youtuber in der Schweiz sind. Umgekehrt funktioniert das nicht. Wenn Jugendkultur über Sprache transportiert wird, dann ist natürlich der Markt begrenzt, weil unsere Youtuber ihre Inhalte auf Schweizerdeutsch anbieten. Jugendkultur ist undankbar insofern, weil sie sich sowohl lokal als auch international orientiert. Da ist das Konkurrenzumfeld einfach wahnsinnig gross.
MEDIENWOCHE:
Sie sind 52 Jahre alt: Ist dies ein ideales Alter als Unterhaltungschef, um den Spagat zwischen junger Zielgruppe und älterem Stammpublikum auszuhalten?
Stefano Semeria:
Wenn ich jetzt nein sagen würde, wäre ich ja nicht am richtigen Ort. Wenn ich ja sage, klingt das wie eine Selbstbehauptung. Aber es ist natürlich nie ganz falsch mit dem Alter auch etwas Lebenserfahrung mitzubringen.
Bild: Oscar Alessio/SRF
Das Gespräch fand am 14. August in Zürich statt. Die hier veröffentlichte Fassung ist eine erweiterte Version eines Interviews, das der Autor im Auftrag des SRG-Magazins «Link» geführt hat.