Weil wir Stadtgeschichten lieben
Die beiden Zürcher Online-Magazine «Hello Zurich» und «Tsüri» starteten beide als befristete Experimente. Doch es gibt sie bis heute und sie wachsen stetig. Finanziell sind sie aber noch nicht selbsttragend. Bei allen Unterschieden, verbindet sie ein Punkt: Beide brennen für eine Stadt und ihre Geschichten. Sieht so der neue Lokaljournalismus aus?
Simon Jacoby schrieb und schrieb und schrieb in den Vorlesungen. Aber nicht etwa zum Referat der Professorin. Er sinnierte über Zürichs ungeschriebene Geschichten. Inspiriert hatte ihn Constantin Seibts «Skizze einer Hauptstadtzeitung» auf dem Blog «Deadline». Seibt listet diverse Szenen einer Stadt auf – etwa Kunst, Party, Sport, Gesundheit –, über die ein Lokalmedium berichten sollte. Weil: «Hier sitzt unser Publikum. Hier lebt, hier leidet, hier plant, hier kämpft es. Und deshalb muss eine städtische Zeitung ihr Kerngeschäft nach ihrer Leserschaft organisieren», schreibt Seibt. Wie wahr!, dachte Simon.
Nach einem Praktikum bei «Watson» hatte Simon Jacoby den Online-Journalismus für sich entdeckt. Er wollte die Möglichkeiten unterschiedlicher Formate ausschöpfen. Und über Stadtpolitiker, Musikerinnen oder Rentner in Zürich schreiben. Eins, zwei, los! Simon erzählte einem guten Freund davon. Die beiden trommelten junge Medienschaffende zusammen. Bastelten eine Website. Am 18. Januar 2015 ging «Tsüri.ch» online. Ohne Rechtsform, ohne Strategie. Im ersten Monat hofften sie auf 1000 Besucher der Website. 25’000 kamen. Ihre Geschichten schlugen ein. Etwa über einen palästinensischen Imbiss als Politikum an der Langstrasse, oder über eine Freikirche, die konservative Werte in Popkultur verpackt. So sass Simon schreibend in den Vorlesungen. Das Studium in Kulturpublizistik brach er daraufhin ab. Seine Zeit gehörte fortan «Tsüri». Er erinnert sich heute, mit 29: «So beflügelt wir auch waren, Zweifel kamen schnell. Überleben in einer Branche, die kollabiert? Zum Teufel!, sagten wir.»
Bummelt Christian Schiller durch das Niederdorf, denkt er an seine Jugend: Abhängen in den Lokalen. Mein «Dörfli» hat sich verändert, dachte er immer wieder Anfang 2017. Nur noch wenige alteingesessene Geschäfte können sich halten. Aber wie? Ihre Geschichten müsste man erzählen. Vom Journalismus zu leben, hatte er abgeschrieben als er mit 32 Vater wurde. Nach dem Journalistik-Studium verdiente er weniger als nach der einstigen Banklehre. Er wechselte in die Kommunikation. Heute, mit 39, führt er seine PR-Agentur. Das Blog über das «Dörfli» sollte ein Herzensprojekt werden. Eine Nebenbeschäftigung.
«Wir wollen Zürcherinnen aus der Alltagsblase locken, Touristen und Zugezogenen Zürich näher bringen»
Christian Schiller, «Hello Zurich»
Als «Hello Zurich» am 1. September 2017 startete, hatte Christian wie die Tsüri-Crew nichts als Geschichten im Kopf. Auch sie kamen an. Mit ehemaligen Kollegen porträtierte er jahrzehntealte Geschäfte im Zürcher Niederdorf. Im ersten Monat verzeichnete «Hello Zurich» 13’920 Besucher. Christian sagte sich: Geschichten aus der ganzen der Stadt sollten wir erzählen. So entwickelte sich das Magazin zu einem Stadtführer in Deutsch und Englisch. «Wir wollen Zürcherinnen aus der Alltagsblase locken, Touristen und Zugezogenen Zürich näher bringen», sagt Christian. Wir sitzen in einem kleinen Büro in einem Altbau hinter dem Schauspielhaus. Viel Licht, Designmöbel, alles an seinem Platz. Hier schreiben und produzieren seine Kollegin Eva Hediger und er für das Magazin. Bespielen die Sozialen Medien und betreuen freie Mitarbeitende, die einen Drittel des Inhalts liefern. Beide mit einem Pensum von 60 Prozent. Pro Woche erscheinen zwei bis fünf Artikel, etwa jüngst ein Porträt über einen Glace-Verkäufer am See oder einen Flohmarkt im Kreis 4. «Die Beiträge leisten auch Service. Im Fokus sind aber die Köpfe hinter einem Geschäft oder Lokal.» Das ist ihre Nische. Solche Geschichten finden sich auch in den Regionalmedien, sie sind für «Hello Zurich» aber keine Konkurrenz. Das Online-Magazin bietet keinen Polit-Journalismus oder Nachrichten. Auch in «Tsüri» sieht «Hello Zurich» keine Konkurrenz, der Fokus der beiden ist zu unterschiedlich, als dass sie aufeinander schielen müssten. Sie würdigen zwar ihre Arbeit gegenseitig. Bis auf eine flüchtige Bekanntschaft zwischen Simon und Christian besteht aber kein Austausch.
«Tsüri» setzt auf Hintergründe zu aktuellen Themen wie Digitalisierung, Drogenpolitik, Stadtentwicklung oder Food Waste. Für sie zählt Haltung. Der Inhalt ist entscheidend, weniger die Schreibkunst. Doch erbringt auch Tsüri Service etwa mit einem Veranstaltungskalender oder Serien wie zum besten Pizzalokal der Stadt. Tsüri will die Zürich erreichen. Darum besteht die «Tsüri»-Crew «aus Jungen, Alten, Partygängern, Stubenhockern, Stylern, Hippies», wie das Magazin schreibt. «Wir müssen so divers wie unser Publikum sein, um Lebenswelten abzubilden», sagt Simon. Deshalb wollen sie auch mit ihrer Leserschaft diskutieren, nachdenken, «mit der Stadt verschmelzen». Über diverse digitale Kanäle und im Gespräch. «So bekommen wir ein Gespür für Themen, die an Regionalmedien vorbeigehen.» Wir sitzen in der Lounge beim Eingang eines Bürogebäudes im Kreis 5. In diesem Neubau arbeitet die «Tsüri»-Redaktion mit anderen Kreativen etwa einer Kommunikationsagentur, dessen Geschäftsleiter auch im Verwaltungsrat der Tsüri-AG sitzt. Plötzlich erklingt aus der Redaktion oben ein Hupen. «Wir haben einen neuen Member! Dann wird gehupt», erklärt Simon.
«Journalismus muss künftig interaktiv sein. Lese ich einen Text, bleibt bedeutend weniger hängen, als wenn ich zu einem Thema recherchiere.»
Simon Jacoby, Tsüri
«Tsüri» will Themen setzen und so in der Stadt zu Debatten anregen. Und sie moderieren. Mit dieser Vision lancierte das Magazin letzten Sommer ein Projekt zu «Civic Media», Simon nennt es «Journalismus zum mitmachen». Zum Thema «Smart City» fanden einen Monat lang sieben Veranstaltungen statt. Den Auftakt machte die sogenannte Pitch-Night. Fachpersonen aus Bereichen wie Mobilität, Architektur oder Bauunternehmen erläuterten ihr Vision einer intelligenten Stadt. In einem Workshop etwa konnte jeder Ideen zur politischen Partizipation im digitalen Zeitalter einbringen, mit einer digitalen Schnitzeljagd durch Zürich. «Journalismus muss künftig interaktiv sein. Lese ich einen Text, bleibt bedeutend weniger hängen, als wenn ich zu einem Thema recherchiere», sagt Simon. «Leistet das Publikum Denkarbeit wie bei einer Recherche, bleibt einen mehr. Fundiertes Wissen prägt öffentliche Debatten.»
Klingt alles nach dem Idealismus, ohne den es heute keinen guten Journalismus mehr gäbe. Rechnungen lassen sich damit aber keine zahlen. Wie finanzieren sich die beiden Magazine? «Hello Zurich» startete mit zinslosen Darlehen von Freunden und eigenem Kapital. Nun versuchen sie das erste Jahr zu refinanzieren. Seit September können Supporter monatlich mit 50 oder Member mit 5 Franken das Magazin unterstützen. Die Bilanz nach einem Monat: 115 Member (Privatpersonen) und 14 Supporter (Firmen). Die Aktion läuft ohne Wirbel, «weil wir herausfinden wollen, wie es ankommt.» Christian wirkt entspannt. «Keine grossen Summen sind im Spiel. Hello Zurich ist ein Liebhaberprojekt.» Member und Supporter können unterschiedliche Kanäle als Werbeplattform nutzen. In einer Rubrik können Member auf private Websites verlinken. Supporter ihr Firmenlogo platzieren, oder in den Sozialen Medien oder im Newsletter ihr Unternehmen präsentieren. «Hello Zurich» sagt, sie seien werbefrei. Warum dann diese Werbeform? «Die Inhalte von Supportern und Membern sind deutlich von redaktionellen Beiträgen getrennt», sagt Christian. «Wir setzen keine Themen nach lukrativen Werbeeinnahmen.» Die Unabhängigkeit sieht er durch die Werbetätigkeit der Mitglieder nicht eingeschränkt: «Wir sind eine Einzelfirma. Ohne Verlag im Rücken. Wir entscheiden über die Inhalte.» Einige Unternehmen fragen «Hello Zurich» um Kooperationen an. Christian will aber erst Partner an Board holen, die wirklich passen. Das Magazin will 2020 selbsttragend sein.
Bei «Tsüri» zahlte das Team anfangs mit freier Arbeitszeit. Andere Jobs besorgten das Geld. Das Projekt war auf zwei Jahre angesetzt. Mit einer Spende von 6000 Franken der Basler Stiftung für Medienvielfalt deckten sie erste Ausgaben. Im Herbst 2016 warb «Tsüri» bei einem Crowdfunding um zahlende Mitglieder. Als «Tsüri»-Member, -Freundin oder -Komplize kann man seither wahlweise mit fünf, zehn oder fünfzehn Franken monatlich das Magazin mitfinanzieren. Die erste Aktion brachte 30’000 Franken. Der Betrag verdoppelte sich letztes Jahr bei einer zweiten Runde. Kürzlich hat Tsüri das Membersystem ausgebaut, ein Manifest niedergeschrieben. #TsüriGäng nennt sich neu die Gemeinschaft von Redaktion und Mitgliedern.
«Wir müssen hinter der Firmenkultur der Investoren stehen können. Eine Anfrage haben wir aus ideologischen Gründen abgelehnt.»
Simon Jacoby, Tsüri
Aktuell weibelt das Magazin um Investoren für die Tsüri-AG. Sie ist für das Unternehmerische zuständig. Die Redaktion agiert unabhängig als Verein. Das Modell ist vergleichbar mit jenem der «Republik». So kann der Geschäftsführer nicht verlangen, wohlwollend über einen Werbekunden zu berichten. Als Investoren sind bereits ein mittelgrosses Unternehmen und der Innovationsfond einer Bank dabei. Durch erste Investoren konnte «Tsüri» das Team im Juni um vier Personen erweitern. «Wir müssen hinter der Firmenkultur der Investoren stehen können. Eine Anfrage haben wir aus ideologischen Gründen abgelehnt», sagt Simon. Ob sie die Namen offenlegen, ist noch nicht entschieden.
Trotz kommerzieller Erfolge finanziert sich «Tsüri» noch mit Investitionen. In einem Jahr will das Magazin selbsttragend sein. Langfristig setzen sie auf Werbung und Member, wollen aber ohne Bezahlschranke bleiben. «Unsere Geschichten sollen alle erreichen. Nicht nur jene die zahlen.»
Nach knapp vier Jahren «Tsüri» ist für Simon der grösste Misserfolg Erfolg zugleich: «Mit Journalisten ein Start-Up überlebensfähig machen. Die wenigsten unter uns können unternehmerisch denken. Wir denken in Geschichten, nicht in Zahlen. Ohne Businessplan loszulegen, war ökonomisch unklug. Uns hat es angetrieben, geschöpft aus den Erfahrungen, unterwegs zu entscheiden.»