von Robert Ruoff

Buch: Peter Hossli über sein Engagement an der Wirklichkeit

Der Schweizer Reporter Peter Hossli blickt zurück auf sein bisheriges Berufsleben. Mit Geschichten, Anekdoten und Reflexionen beantwortet er die Frage: Warum schreibst Du?

Peter Hossli eröffnet die Sammlung seiner Erinnerungen mit einer amerikanischen Geschichte. Sie beginnt in seinem Buch in einem Hotel in Las Vegas. Zusammen mit einem deutschen Fotografen. Für ein Interview mit dem ehemaligen Polizisten Joe Pistone, der unter dem Decknamen Donnie Brasco in New York eine Mafia-Gang unterwanderte und sie dann hat hochgehen lassen.

In Wirklichkeit begann die Geschichte, als Peter Hossli seiner Tochter Yuki ein sauberes Kleid überzog, weil sie sich beim Essen mit Sauce bekleckert hatte. Und dabei hörte der Reporter aus dem Radio vom Moderator den Satz: «Das war eine Besprechung von Joe Pistones Autobiografie ‹Donnie Brasco: Unfinished Busines›‘.» Das traf ihn «wie ein Blitz. Es gibt diese Millisekunden, die das Gehirn eines Reporters anwerfen und überfluten mit Fragen», schreibt er.

Es ist «der Blitz», den kreativer Journalismus braucht. Und «kreativ» heisst hier: Wirklichkeit suchen, Fragen stellen, den Stoff durcharbeiten, den Kern der Wirklichkeit oder, bescheidener, einen Kern der Wirklichkeit herausschälen. Und mitteilen.

Es braucht diesen kreativen Kick für jede Art von Journalismus. Es braucht ihn für jede Recherche. Sicher für den Start, den spontanen Glauben, dass die Person im Zentrum eine Geschichte ist oder Geschichten bringt. Aber es braucht diesen Antrieb auch für die vielleicht langwierige, hindernisreiche Suche nach dem richtigen Blickwinkel, der hinter der äusseren Erscheinung den Charakter einer Person entdeckt oder hinter allen Schutzbehauptungen die Triebkraft einer Entwicklung. Irgendwann in dem Interview sagt der Polizist Pistone alias Brasco, der Mafioso, er sei aufgewachsen in Paterson, New Jersey, «wo Italo-Amerikaner wie ich entweder Cops oder Gangster werden.» Das ist eine der Einzelheiten in Hosslis Reportage, die ein Schlaglicht wirft auf eine Konstellation, in der das Schicksal des Einzelnen wie durch Zufall bestimmt wird: Polizist oder Verbrecher wie entscheidet es sich?

Wer Geschichten über das Leben schreibt, erfährt auch etwas über sich selber.

Der Reporter ist Teil dieser Welt. Er habe einige Jahre in New York am Fischmarkt gewohnt, erzählt Hossli dem Cop, und Pistone fragt: «Wo am Fischmarkt?» Hossli: «42 Peck Slip, oberhalb des Café Paris.» Pistone: «Die Mafia und ich trafen uns oft im Café Paris.»

Wer Geschichten über das Leben schreibt, erfährt auch etwas über sich selber. Und Hosslis erste Geschichte erzählt nicht nur, wie der Reporter an seine Stories kommt, wenn er mit offenen Sinnen, Augen, Ohren, wachem Denken und sensiblen Empfindungen durchs Leben geht. Sie erzählt uns in ihren Geschichten auch schon, wie uns mit den einzelnen Menschen ganze Kulturen und Lebenswelten entgegentreten, mit denen wir verbunden sind. Auch wenn wir es nicht wissen.

Der Titel seiner Story-Sammlung heisst: «Die erste Miete ging an die Mafia.» Es ist eine Sammlung von 29 Geschichten. Es sind, genau gesagt, Geschichten über die Entstehung von Geschichten. Sie geben Einblick in das Handwerk von Medienschaffenden, Journalisten, Fotografinnen. Es sind Berichte über Wege zum Erfolg und zum Misserfolg, lautes Nachdenken über Regeln und Regelverletzungen, von anderen und von Hossli selber.

Die «Schreibtischtäter» unter den Medienschaffenden sind auf Hosslis Beliebtheitsskala offenkundig nicht sehr hoch angesiedelt.

Das selbstverschuldete Misstrauen gegenüber den Medien ist für ihn ein Thema, weil diese Medien immer wieder selber «Fake News» publiziert haben, weil sie sich haben hereinlegen lassen von Betrügern, in den USA, Grossbritannien, auch in der Schweiz. Der Fehler lag häufig genug bei Redaktoren am Schreibtisch, auf der Jagd nach Reichweite und mit fehlendem professionellem kritischem Blick. Diese «Schreibtischtäter» sind auf Hosslis Beliebtheitsskala offenkundig nicht sehr hoch angesiedelt. Im Motto für sein Buch lässt er die Regisseurin Cindy Sherman («Office Killer») sagen: «Die meisten Journalisten verachte ich, darum müssen sie in meinem Film sterben. Die Opfer sind aber nicht die Autoren der Artikel, sondern die Redaktoren und die Geschäftsleiter. Menschen, die selber schreiben, mag ich.»

Hosslis Geschichten über die Entstehung seiner Geschichten lesen sich gut. Es sind
Geschichten von Begegnungen mit anderen Welten, in Europa, der Schweiz, Asien und Afrika. Ich habe sie über längere Zeit gelesen, neben der eigenen Schreib- und Konzeptarbeit, als Einzelstücke, andere Leserinnnen haben die 365 Seiten an einem Wochenende verschlungen. Beides geht. Und ich denke: Das Buch gehört auf den Nachttisch aller Medienschaffenden, oder auf den Schreibtisch, oder greifbar ins Buchregal.

Es geht Hossli immer um einzelne Menschen, ob sie nun an der Spitze der Macht stehen oder im Elend von Hunger, Durst und Flucht gefangen sind. Es geht in all diesen Stories um die Lebensgeschichte von Einzelnen, die sogenannte «kleine Geschichte» – auch die Geschichte von Machthabern ist manchmal «kleine Geschichte» –, in der sich die sogenannte «grosse Geschichte» vollzieht. Und diese «grosse» Geschichte ist die Geschichte unserer Zeit: Geschichte der Gegenwart. Beim Reporter Peter Hossli bündelt sie sich immer in den Personen.

Die Medienfreiheit muss auch in der Schweiz im journalistischen Alltag immer neu erkämpft werden, gegen Manipulations- und Druckversuche und rechtliche Einschränkungen.

Manchmal auf fast banale Weise, wie bei dem Interview, das Hossli in Bern geführt hat und nun auf der Zugfahrt nach Zürich abhörte, und wo er ganz unvermittelt mit der Frage konfrontiert war: «Wie war Schneider-Ammann?» Der Fragesteller war Jürg Wildberger, vormals Moderator beim Schweizer Fernsehen und Chefredaktor bei «Facts», jetzt Berater beim einflussreichen PR-Büro der «Konsulenten», die in Politik, Wirtschaft und Medien mitmischen. Hossli hatte während Tagen vergeblich versucht, ein Gespräch mit dem Bundesrat zu bekommen, weil Johann Schneider-Ammann vor seinem Posten im Bundesrat Firmengelder steuergünstig auf der britischen Insel Jersey angelegt hatte. Aber sein Kommunikationschef blockte ab. Das Interview schien ihm nicht nötig. Die Steueroptimierung war ja ganz legal.

Bis es dann plötzlich klappte, kurzfristig, reibungslos. Der Kommunikationschef wollte noch die Fragen haben. Hossli lehnte ab, und lieferte nur ein paar weitgefasste Themenfelder, in denen die Fragen Platz hatten.

Wildberger: «Wir haben das Interview eingefädelt, für Dich und für die NZZ.» Die «Konsulenten» hatten offenkundig ein Mandat. Ein Interview in der «NZZ» und im Boulevard-Massenblatt «Sonntagsblick» sollten eine kleine Imagepolitur werden für Johann Schneider-Ammann, den Vertreter der Wirtschaft im Schweizer Bundesrat. Der Journalist wird dabei ein bisschen instrumentalisiert, im Normalfall ohne es zu wissen, und in der grossen Geschichte werden auf Jersey oder in Panama oder an einem anderen sonnigen Ort weiterhin Millionen- und Milliardenbeträge steuerlich auf plusminus Null optimiert. Und für den Fall, dass doch einmal etwas ruchbar wird, steht das dicht geknüpfte Netz der Kommunikationsbeauftragten, PR-Unternehmern und Steuerberatern bereit, deren Fäden bis in die Chefetagen der Medienhäuser reichen. Sie sind dazu berufen, grösseren Rufschaden durch weitere Veröffentlichungen abzuwenden und zu verhindern, dass der brave Steuerzahler doch irgendwann den Aufstand macht.
Beim ehrenwerten Reporter, der dem Bundesrat schon längst ein paar berechtigte Fragen stellen wollte und sie jetzt auch gestellt hat, bleibt «ein schaler Nachgeschmack», wenn man ihm lachend bedeutet, dass er gerade mal benutzt worden ist. Die Medienfreiheit muss auch in der Schweiz im journalistischen Alltag immer neu erkämpft werden, gegen Manipulations- und Druckversuche und rechtliche Einschränkungen.

Selbst die grosse Weltgeschichte beginnt bei Hossli als kleine, intime Anekdote. Es war die schöne norwegische Grafikerin, die er schon lange hatte ansprechen wollen, und die ihn nun ihrerseits im Empire State Building anspricht, am 11. September 2001, kurz nach 9 Uhr, mit der Bemerkung: «Ein Flugzeug steckt im World Trade Center.» «Was für ein Flugzeug?» Sie wusste es nicht und verschwand.

9/11 fesselt die Aufmerksamkeit unserer Medien bis heute und macht uns für Anderes nahezu blind.

Und da kam auch schon der Anruf aus der «Facts»-Redaktion in Zürich. Bevor er die Dimension der Ereignisse ganz begreifen konnte, griff auch schon die professionelle Reporter-Routine. Fotografen sind in der Situation nicht greifbar. Also kauft Hossli eine digitale Kamera, betreibt sie mit auswechselbaren Einweg-Batterien – einen Akku hätte er aufladen müssen –, fotografiert, was er sieht, befragt die Menschen, die er trifft, macht «Facts» zum ersten Magazin in Europa, das Porträts von Betroffenen zeigen kann, und weiss am nächsten Tag, dass er am Anfang eines historischen Bebens steht. Es erschüttert bis heute die ganze geostrategische Zone von Zentralasien über den Orient bis nach Nordafrika, und es führt in den USA zur Abfolge von George W. Bush über Barack Obama bis zu Donald Trump. Das fesselt die Aufmerksamkeit unserer Medien bis heute und macht uns für Anderes nahezu blind.

Blind für die kleinen Geschichten wie die von Ayan Dagan zum Beispiel, der jungen Übersetzerin für «Save the Children», die Peter Hossli und seinen Fotografen durch ihr Land geführt und ihnen journalistische Geschichten gebracht hat. Irgendwann durchbricht sie die Stille der Fahrt durch die somalische Wüste mit der Frage: «Warum schreibst Du?» Sie stellt damit die Frage, die den Reporter Peter Hossli selber immer und überall vorantreibt: «Warum?»
Und sie erzählt ihm ihre eigene Geschichte. «Sie redet unverblümt und schnell», schreibt Hossli, und sie erzählt, wie sie mit 10 Jahren beschnitten wurde. Anya berichtet «sachlich, emotionslos», wie sie sich als Teenager verliebt hat, von ihrem Freund verlassen, später vom Chef vergewaltigt wurde, abtreiben musste. Die Geschichte der Beschneidung ist die Geschichte nahezu aller Frauen in Somalia. – Auf dem Heimflug, sechs Stunden, fragt sich Hossli, warum Anya ihm diese Geschichte erzählt hat. Wie er zu diesem Vertrauen gekommen ist. Und ob er die Geschichte veröffentlichen dürfe. Er hat Anya nicht gefragt. Aber es ist – hier in der extremsten Form – die Geschichte einer Unterdrückung, die seit Jahrhunderten weltumspannend praktiziert wird, und die wir noch immer nicht überwunden haben.

Distanz schafft Vertrauen, redliches Interesse öffnet das Gegenüber, sorgfältig ausdauernde handwerkliche Arbeit bringt Leser.

Peter Hossli hätte Anyas Geschichte veröffentlicht, wäre es die klassische Interview-Situation gewesen zwischen der Befragten und dem Reporter. Er hätte geschrieben, was sie gesagt hatte, wie er das bei Bundesräten und Bundesrätinnen bei allem tat, was «on the record» gesagt worden war, auch wenn die Kommunikationschefs das nicht mochten. Aber Anya war Teil des Teams, es war eine kollegiale, freundschaftliche Beziehung. So hat er ihr aus der Schweiz nochmals geschrieben und sie noch einmal getroffen, als sie für «Save the Children» in Italien war, und sie gefragt.

Distanz schafft Vertrauen, redliches Interesse öffnet das Gegenüber, sorgfältig ausdauernde handwerkliche Arbeit bringt Leser, echte, hartnäckige Neugier ist die Triebkraft – das sind nur einige Leitbegriffe, die Peter Hossli in den Reflexionen über seinen Journalismus ins Spiel bringt.

Der Reporter gehört aber nicht zu dem, was er beschreibt, erklärt er; er berichtet über andere. Aber mitten im Überlebenskampf um die World Trade Türme in New York wird ihm klar, dass auch er dazu gehört.

Er weiss um dieses Spannungsfeld. Er lässt den früheren Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs über «einen guten Journalisten» sagen, dass er «überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.» Aber er zitiert auch den «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein mit dem Satz: «Ein leidenschaftlicher Journalist kann keinen Artikel schreiben, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen.»

Das zeigt sich auch bei Peter Hossli. Guter Journalismus ist professionelles und am Ende eben auch menschliches Engagement an der Wirklichkeit.

Bild: Motiv von Cover «Die erste Miete ging an die Mafia», Peter Hossli, Werd-Verlag, 2018; 29 Franken. Fotograf: Stefan Falke.