von René Zeyer

Der Fall Relotius: Systemversagen

Es kommt in den besten Blättern vor: Sie publizieren erfundene oder gefälschte Artikel. Trotz Dokumentation, Kontrolle, Gegenlesen. Diesmal war es einer vom «Spiegel». Der einsam recherchierende Reporter als Reputationsrisiko.

Jeder Mitarbeiter des «Stern» zuckt heute noch zusammen, wenn man «Hitler-Tagebücher» sagt. Obwohl die Affäre bereits 35 Jahre her ist. Der renommierte und berühmte Reporter Gerd Heidemann, der schon viele Scoops gelandet hatte, wollte an eine Weltsensation gelangt sein: die bislang unbekannten, geheimen Tagebücher Adolf Hitlers. Es wurden Millionen ausgegeben, auch Koryphäen machten sich lächerlich, bis am Schluss feststand: Die Geschichte musste nicht umgeschrieben werden, wie der «Stern» vollmundig verkündet hatte, es handelte sich um nicht einmal sonderlich gut gemachte Fälschungen.

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Unser Dossier zum Fall Relotius.
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Hier blendete die schiere Grösse der Entdeckung. Einen ganz anderen Fall musste gerade «Der Spiegel» eingestehen: Der Reporter Claas Relotius hatte in den vergangenen Jahren insgesamt 55 Texte veröffentlicht. Davon sind mindestens 14, höchstwahrscheinlich viele mehr, Fälschungen. Erfindungen. Aus Versatzstücken anderer Reportagen, eigenen Recherchen, erfundenen Personen und erfundenen Situationen zusammengesetzt. So erfolgreich, dass Relotius mit Preisen überschüttet wurde, so war er unter anderem der CNN-«Journalist of the Year».

Der «Spiegel» ist am Boden zerstört: «Diese Enthüllung ist für alle ein Schock. Der Fall Relotius markiert einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des SPIEGEL», schreibt der führende Redaktor Ullrich Fichtner in einer «Rekonstruktion in eigener Sache». Er zeichnet nach, gnadenlos und ohne irgend jemanden zu schonen, wie es Relotius gelang, alle Kontrollinstanzen des «Spiegel» zu täuschen, wie sogar anfänglich die Zweifel eines Mitautors am letzten veröffentlichten Artikel als unbewiesene Stänkereien zurückgewiesen wurden, mit denen ein Erfolgsautor angeschwärzt werden sollte. Erst als dieser Mitautor auf eigene Kosten nachrecherchierte und unbestreitbare Belege für erfundene Elemente der Story vorlegte, konfrontierte der «Spiegel» seinen Reporter, der nach kurzem Leugnen gestand. Und natürlich sein Büro räumte und kündigte.

Wie konnte es passieren, dass sämtliche Kontrollinstanzen, auf die der «Spiegel» zu recht stolz ist, hier versagten?

Fichtner versucht sich auch an einer Ursachenforschung; wie konnte es dazu kommen, dass ein Reporter nicht alle, aber viele seiner Reportagen teilweise oder vollständig erfunden hat? Wie konnte es passieren, dass sämtliche Kontrollinstanzen, auf die der «Spiegel» zu recht stolz ist – zwischen Abgabe des Manuskripts und Publikation liegen bis zu 12 Stufen – , hier versagten? Wie konnte es passieren, dass die berühmte «Spiegel»-Dokumentation zwar die von Relotius angegebene Fahrzeit von einem Ort zum anderen nachprüfte, aber ein vorher in der «New York Times» mit einem anderen Namen publiziertes Foto eines Mitglieds einer US-Bürgerwehr, der in einem Relotius-Artikel ebenfalls vorkam, auch mit Foto, übersah? Der Reporter wollte mehrere Tage mit diesem Mann verbracht haben, von dem Mitautor mit einer Fotografie von Relotius konfrontiert, sagte der Mann mit Bestimmtheit, dass er diese Person noch nie gesehen habe; desgleichen der Vermittler, der den Kontakt laut Relotius hergestellt haben soll.

Der aktuelle Fall erinnert teuflisch an den berühmtesten Fälscher in deutscher Sprache der letzten Jahrzehnte: Tom Kummer. Auch der arbeitete damit, dass ihm angeblich Interviews mit Hollywood-Stars und anderen Prominenten gelangen, an die sonst niemand herankam. Und bei Kummer sagten sie zudem Sachen, die ihnen noch niemand entlockt hatte. Erst nach längerer Zeit wagte es eine der Redaktionen, mal bei einem Agenten nachzufragen, ob das Interview wirklich stattgefunden hatte. Als der verneinte, flog Kummer auf; das kostete die Chefredaktion des Magazins der «Süddeutschen Zeitung» ihren Job. Unglaublicherweise bekam Kummer dann in der «Weltwoche», die ebenfalls durch seine früheren Fake-Storys geschädigt worden war, eine zweite Chance. Bis zur nächsten Lügengeschichte. Auch in der Schweiz hat Relotius seine Spuren hinterlassen. Die «Weltwoche» veröffentlichte zwischen 2012 und 2016 insgesamt 29 Reportagen von Claas Relotius. Andere Schweizer Medien, die mehrere Texte des fehlbaren Journalisten publizierten, waren die NZZ am Sonntag und das Magazin «Reportagen».

Solche Fälle passieren auch im Mutterland der scharfen und kontrollierten Recherche – in den USA. CNN, New York Times, Washington Post, schon viele berühmte und traditionelle Blätter mussten einräumen, dass Mitarbeiter zum Teil über Jahre hinweg Storys teilweise gefälscht oder vollständig erfunden hatten. Wohlgemerkt geht es hier nicht um das im heutigen Sparjournalismus weit verbreitete Phänomen, dass ein Journalist einem anderen ohne Quellenangabe abschreibt. Das ist heutzutage fast der Normalfall, denn wie soll der in seiner Verrichtungsbox eingesperrte Schnellfutterjournalist, dem die Aussenwelt in erster Linie per Twitter und Instagram zugänglich ist, anders etwas Fleisch, etwas O-Ton- etwas Atmosphäre an seinen Artikel kriegen?

Es bleibt wieder einmal die Frage: Warum hat der Reporter das getan?

Während sich der «Spiegel» ausführlich Asche auf sein Haupt streut, alle Betroffenen und alle Leser um Entschuldigung bittet, Aufklärung über alle Fake-Inhalte verspricht und eine unabhängige Kommission einsetzt, um zu prüfen, wie die Kontrollmechanismen verbessert werden können, bleibt wieder einmal die Frage: Warum hat der Reporter das getan?

Alle Journalisten wissen, was auch jeder Kommunikationsberater seinen Mandanten sagt: Etwas nicht sagen, das ist erlaubt. Auch etwas aufhübschen. Aber niemals lügen. Das kommt früher oder später immer raus, und dann ist es fatal. Das gilt auch im Journalismus. Und nicht nur bei den Hitler-Tagebüchern. Jede Redaktion fürchtet sich davor, gefälschten Dokumenten, gefälschten Belegen, Indizien, Aussagen aufzusitzen. Wird sie so angefüttert, wird mit meist grosser Sorgfalt abgeklärt, ob das Material echt oder gefälscht ist.

Wenn aber ein eigener Mitarbeiter, der bereits grossartige Reportagen geschrieben hat, für Aufsehen sorgte, mehrfach mit Preisen für journalistische Spitzenleistungen ausgezeichnet wurde, seine Texte aus dem Fundus des Internets zusammenkleistert oder gleich ganz erfindet, warum macht er das? Kummer machte es, soweit man in seine Psyche Einsicht nehmen konnte, aus einer Mischung aus Narzissmus und einer selbstgebastelten Theorie, dass Realität und Wirklichkeit im Zweifelsfall relativ seien, da liege die Wahrheit sozusagen im Auge des Betrachters. Und natürlich war es auch eine einfache Art, Geld zu verdienen im Vergleich zur brotlosen Knochenarbeit des richtigen Reporters. Und das alles mit dem hirnrissigen Argument begründen: Okay, der Interviewpartner hat das alles zwar nicht gesagt. Hätte er aber sagen können.

Jeder Reporter weiss, dass es bei jeder Reportage ein Problem und eine Versuchung gibt. Das Problem: Die Reportage funktioniert nicht. Das gesetzte Thema lässt sich nicht recherchieren, eine wichtige Person, die unbedingt kontaktiert werden müsste, will nicht mit den Medien sprechen. Oder, menschlich verständlich, der Ort des Geschehens ist lebensgefährlich. Die Versuchung besteht dann darin, ob der Journalist das abends an der Hotelbar in sicherer Distanz Aufgeschnappte, das Reporter, die vor Ort waren, erzählen, als seine eigene Story ausgibt. Statt einzugestehen, dass er nicht mutig genug war, im Kugelhagel zu recherchieren. Die Versuchung besteht auch darin, dass Augenzeugen, Beteiligte, also die Objekte und Subjekte einer Reportage, oftmals nicht das sagen, was für die Story hilfreich ist. Meistens sind sie auch keine Poeten oder Literaten, was soll man mit der Aussage «ja, ich habe Angst um mein Leben» gross anfangen?

Sobald die erste Fälschung veröffentlicht ist, kann man es nicht mehr rückgängig machen. Also ist die Hemmschwelle beim nächsten Mal bereits tiefer.

Also ist auch hier jeder Reporter, wirklich jeder, der Versuchung ausgesetzt, eine Aussage etwas anzuspitzen, eine Aussage zu erfinden, nach der Devise: Okay, wurde nicht gesagt, hätte aber so gesagt werden können. Und dann kommt wohl der berühmte Punkt ohne Rückkehr. Also man hat das erste Mal etwas gefälscht, erfunden, dazu gedichtet. Sobald das veröffentlicht ist, kann man es nicht mehr rückgängig machen. Also ist die Hemmschwelle beim nächsten Mal bereits tiefer. Kommt noch Lob und Erfolg hinzu, steigt die Erwartungshaltung. Die Erwartungshaltung des Mediums, für das der Reporter tätig ist, und die Erwartungshaltung an sich selbst. Den syrischen Jungen ausfindig machen, der einen Satz gegen Assad in Syrien an eine Wand sprayte und damit durch ein Foto zur Ikone wurde, zur Person, die einen der Anlässe für den Aufstand gegen Assad lieferte? Kein Problem.

Noch dieser Tage erhielt Claas Relotius für diese Reportage den Deutschen Reporterpreis. Obwohl es inzwischen sicher ist, dass zumindest Teile dieser Reportage erfunden sind, der Reporter den Jungen, mit dem er Gespräche geführt haben will, wohl gar nicht getroffen hat. Da liegt die Vermutung nahe, dass sich Relotius dachte: Also wenn ich ihn nicht auftreiben kann, dann schafft das auch sonst keiner, also wird man mir schon nicht auf die Schliche kommen. Das Ende seiner Karriere begann dann aber – wie meist – mit einer von ihm sicherlich nicht erwarteten Recherche des Mitautors des letzten publizierten Artikels, der nicht einmal unbedingt Relotius anschwärzen wollte, sondern seine eigene Reputation schützen.

Das ist bitter für den «Spiegel», besonders bitter in der aufgeheizten Debatte in Deutschland über die Leitmedien, die sogenannte Lügenpresse oder Lückenpresse. Obwohl es sich um das unverständliche Versagen eines Einzelnen handelt, liegt das Argument natürlich auf der Hand: Wenn alle diese Storys erlogen waren, wie viele von anderen «Spiegel»-Journalisten ebenfalls? Teuflisch daran ist, dass nicht nur in der Finanz- und Geschäftswelt, sondern auch in der Welt der Medien etwas unverzichtbar ist: Vertrauen. Der Leser muss vertrauen können, dass er richtig informiert wird. Nicht objektiv, das gibt es nicht, aber behaftbar, korrekt, unverfälscht. Die Redaktion muss darauf vertrauen, dass der Reporter um seine Verantwortung weiss und keinesfalls die von ihm erlebte Wirklichkeit verfälscht oder erfindet.

Bei einem Reporter, der alleine unterwegs ist geht es letztlich nur um Berufsehre und Anstand gegen Vertrauen.

Geht es um die Analyse oder Aufdeckung eines Skandals, einer politischen oder wirtschaftlichen Missetat, ist die Überprüfung und Kontrolle meist einfacher. Es arbeiten mehrere Rechercheure parallel an der Story, für Aussagen wird nach einer zweiten, unabhängigen Bestätigung gesucht, Dokumente werden akribisch auf ihre Echtheit überprüft. Und bei ganz grossen Storys wird sogar noch ein zweites Team eingesetzt, dass alle Erkenntnisse des ersten Teams widerlegen soll, zu Tode recherchieren. Wenn das nicht gelingt, wenn alle diese Kontrollen gegriffen haben, ist es fast unmöglich, dass eine Fake-Story publiziert wird. Aber bei einem Reporter, der alleine, nicht immer begleitet von einem Fotografen, unterwegs ist, der Orte und Menschen und Begebenheiten beschreibt, die man nicht einfach nachrecherchieren kann? Da geht es letztlich nur um Berufsehre und Anstand gegen Vertrauen.

Diese Affäre ist ganz zuletzt Anlass zu Häme. Ich weiss aus eigener Erfahrung, als ich noch in leitenden Positionen tätig war, wie schwierig gelegentlich die Entscheidung ist. Wenn es darum geht, eine Hammerstory, aber leichte Zweifel an deren Authentizität zu haben. Der Produktionsrhythmus, die Gier nach Exklusivität und einem Primeur verhindern gelegentlich, dem Bauchgefühl nachzugeben und die Story nachzurecherchieren. Was im schlimmsten Fall bedeuten könnte, dass sie stimmt, aber inzwischen von der Konkurrenz veröffentlicht wurde. Oder aber, man hat die Story mit bestem Gewissen und ohne Zweifel über ihre Authentizität veröffentlicht – und wird im Nachhinein mit Belegen konfrontiert, dass man einer Erfindung aufgesessen ist. All diese Kummers, diese Relotius und ihre noch nicht entdeckten Fake-Kollegen zeichnet meistens aus, dass sie eloquent und überzeugend sind, gelenkig im Labyrinth ihrer Lügen herumturnen. Deshalb wird das sicherlich nicht der letzte derartige Fall sein. Geradezu tragisch ist daran, dass es ausgerechnet dem «Spiegel» und dann noch in dieser Dimension passierte.

Leserbeiträge

Pierre Rothschild 23. Dezember 2018, 11:31

Ein grossartiger Beitrag von René Zeyer.

Während es bei den Hitler-Tagebüchern um eine kriminelle Tat von A bis Z ging, sieht es bei den teilweise erfundenen Stories ganz anders aus. Auch sie sind mit nichts entschuldbar. Aber wer erlebt hat, wie man früher arbeiten konnte – Reisen, Restaurants Hotels – und wie heute gespart wird, kann Relotius-Existenzen fördern. Grosse Interviews ohne Alibi-Fotos ? Sie waren doch vor 40 Jahren gar nicht glaubhaft. Und eben vieles mehr…