von René Zeyer

Der «Spiegel» hat es in der Hand, alles «maximal zu versemmeln»

Kommt der «Spiegel» aus dem Jammertal der Relotius-Fälschungen wieder heraus? Sicher, irgendwie schon. Aber wie sagt der designierte Chefredaktor richtig: Man habe es in der Hand, die richtige Schlüsse zu ziehen – oder es «maximal zu versemmeln».

Zwei Wochen sind vergangen, und somit die heisse Phase des Relotius-Skandals. Es ist so ziemlich alles dazu gesagt worden, vielleicht nur noch nicht von allen. Überraschenderweise gab es Lob und Tadel über die bisherige Aufarbeitung. Und natürlich kübelweise Häme. Die Edelfeder Ullrich Fichtner habe in seinem ellenlangen Startstück (knapp 42’000 Zeichen) Relotius mit genau dem Haltungs-Journalismus hingerichtet, der die Fälschungen erst ermöglichte. Oder Fichtner habe so elegant wie schonungslos aufgedeckt.

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Unser Dossier zum Fall Relotius.
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Und der «Spiegel»-Redaktor Clemens Höges führte in seiner Nachfolgestory «Ein Alptraum» ebenfalls die schlimmsten «Spiegel»-Manierismen fort, indem er als szenischen Einstieg die akkurate Beschreibung eines «perfekten Sturms» nimmt, der über das Haus hereingebrochen sei; kleiner macht es das arrogante Nachrichtenmagazin nicht: «Ein perfekter Sturm auf dem Meer beginnt meistens, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen: Die Wassertemperatur spielt eine Rolle, die Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten, der Jetstream in eisigen Höhen.» Also die Gewalt der Natur und der ihr hilflos ausgelieferte Mensch: «In den Morgenstunden des Donnerstags vergangener Woche wird klar, dass ein perfekter Sturm über den SPIEGEL hereingebrochen ist.» Und trotzig stellt sich Höges indirekt gegen die Kritik an Fichtners Essay; ob es denn schade, Fakten «gut geschrieben darzustellen»? Dabei wird Höges einer der drei im «Aufklärungsteam» sein, das die Affäre untersuchen und ihre Wiederholung verhindern soll.

Es ist schon peinlich, welche handwerklichen Fehler die Profis aus Hamburg in eigener Sache machen.

Hier steht der «Spiegel» also vor dem Problem, wie man in der Öffentlichkeit die Hosen runterlässt, ohne zur peinlichen Figur zu werden. Allerdings ist es schon peinlich, welche handwerklichen Fehler die Profis aus Hamburg in eigener Sache machen. So kündigte der designierte Ober-Chefredaktor Steffen Klusmann in der ersten Pressekonferenz markig an, dass die Aufklärung wohl Monate dauern werde und man nicht beabsichtige, jeden Zwischenstand zu kommunizieren. Zudem werde das Haus wohl auf straf- und zivilrechtliche Schritte gegen den gefallenen Schreibstar verzichten.

Nur drei Tage später meldete sich Klusmann dennoch wieder zu Wort und kündigte eine Strafanzeige wegen möglichem Spendenbetrug gegen Relotius an. An der Pressekonferenz stellte sich Klusmann noch väterlich hinter Ullrich Fichtner, den Entdecker und Förderer von Relotius, der ab Anfang Jahr Chefredaktor der Print-Ausgabe werden sollte. Inzwischen gilt, dass Fichtner und der ebenfalls in den Relotius-Skandal verwickelte Blattmacher Matthias Geyer ihre Ämter «ruhen lassen», bis die Affäre vollständig aufgeklärt sei. Klusmann will offenbar Ernst machen mit seiner Ankündigung: «Wir als Haus haben in einem erheblichen Ausmass versagt. Das wird Konsequenzen haben.»

Nur: Welche? Wenn das Blatt zu Höchstformen aufläuft, wie in der 35 Seiten umfassenden Titelgeschichte «Der Bankraub» über die Finanzkrise von 2008, ist es im deutschen Sprachraum unschlagbar. Was für ein unglücklicher Zufall, dass Fichtner und das «Spiegel»-Autorenteam dafür den erstmals verliehenen Deutschen Reporter-Preis bekam, den Relotius inzwischen mehrfach zurückgab. Aber wenn der «Spiegel» die vom «Time»-Magazin abgekupferte ewig gleiche Masche abspult, dann liegen Hybris, Arroganz und möglicherweise auch Fake nahe beieinander. «Helmut Kohl griff wütend zum Telefon, als er erfuhr …», so lautet ein typischer Einstieg. Sass ein «Spiegel»-Reporter unter Kohls Schreibtisch? Typisch «Spiegel», ebenfalls von «Time» übernommen, ist die fröhliche Mischung von Fakten, Meinung und Beurteilung, unterfüttert mit Details, die Authentizität versprühen sollen. Das alles führt inhaltlich zu Fälschungsmöglichkeiten in ungeahntem Ausmass. «Ein paarmal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses.» Dieser szenische Einstieg und die nachfolgende Beschreibung von Seehofers Modelleisenbahn kostete den «Spiegel»-Journalisten René Pfister 2011 den Nannen-Preis. Denn er musste einräumen, dass er nie bei Seehofer im Keller war und die Szene also erfunden hatte

Der «Spiegel» zeigt nicht nur eine bedenkliche Selbstüberschätzung, sondern verliert die Perspektive auf das, was ist.

Dafür tragen aber auch die besonderen Strukturen des «Spiegel» bei. Seit die Welt für ihn aus den Fugen geraten ist, also seit dem Amtsantritt von Donald Trump und dem Aufkommen sogenannter populistischer Parteien in Europa, insbesondere der AfD in Deutschland, sieht es das Nachrichtenmagazin als seine Aufgabe, Haltung zu zeigen, Stellung zu beziehen, Trump «wegzuschreiben» und die AfD als braune Bande zu denunzieren, wo es nur geht. Damit zeigt der «Spiegel» nicht nur eine bedenkliche Selbstüberschätzung, sondern verliert die Perspektive auf das, was ist. Die Reportage von Claas Relotius über ein kleines amerikanisches Kaff illustriert das idealtypisch.

Welche andere deutsche Redaktion kann es sich noch leisten, einen Reporter für einen Monat in die Pampa zu schicken, mit der einfachen Aufgabe: Schreib das auf. Der Kisch-Preisträger Fichtner weiss, dass Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter, bei aller Parteilichkeit und Subjektivität genau das getan hat. Aber Relotius lieferte eine Karikatur von Fergus Falls, bei der nicht nur die Anzahl der Trump-Wähler falsch war, die Darstellung des Bürgermeisters als waffentragenden, gehemmten Mann, der weder eine Frau hat, noch jemals am Meer war. Oder die Beschreibung eines Schilds am Dorfeingang, auf dem «Mexikaner, verpisst euch» stehen soll, wobei das Dorf hinter einem ebenfalls erfundenen dunklen Wald liegt, damit der Leser «typisch Hinterwäldler» assoziiert. Das, und nicht nur diese Story, war für den «Spiegel» eben nicht zu schön, um wahr zu sein. Sondern sie bediente eine Perspektive, eine Haltung, wie der «Spiegel», im klaren Widerspruch zu seinem Namen, die Welt verzerrt, aber damit zur Kenntlichkeit entstellt darstellen will.

Beide Reportagen aus Fergus Falls zeigen, dass der «Spiegel» weiterhin keine Ahnung hat, wie er denn in Zukunft die Realität beschreiben will.

Der für eine Entschuldigungsrunde nach Fergus Falls entsandte «Spiegel»-Korrespondent schwärmte dann von einer «fantastischen Stadt, bei der sich der SPIEGEL nur entschuldigen kann». Auch nicht gerade der Versuch, der Realität in all ihrer Widersprüchlichkeit näher zu kommen; statt Hohlspiegel wurde nun der Weichzeichner und Aufheller eingeschaltet. Beide Reportagen zeigen, dass der «Spiegel» weiterhin keine Ahnung hat, wie er denn in Zukunft die Realität beschreiben will. Mehr Nachrichten, weniger Haltung, mehr bunte Widersprüche als graue Rechthaberei, wirklich mehr Demut, weniger Arroganz? Weniger die überhebliche Haltung: Ein «Spiegel»-Reporter kann alles und versteht alles? Einfach zwei Reporter losschicken, die dann beide Seiten der Story berichten?

Ich erinnere mich an die Begräbnisfeierlichkeiten in Kuba, als die sterblichen Überreste von Che Guevara in Bolivien gefunden und nach Kuba überstellt wurden. Im Oktober 1997 wurden die Särge von ihm und weiteren gefallenen Guerilleros in einem Staatsakt nach Santa Clara überführt und dort im Mausoleum beigesetzt. Fidel Castro hielt eine seiner kürzeren und sicher seine emotionalste Rede. Im fast einzigen Hotel am Platz hatte sich die internationale Journaille eingefunden. Darunter auch ein «Spiegel»-Mann, der fröhlich eingestand, dass er eigentlich in Hamburg für Kultur zuständig sei, aber der vorgesehene Reporter sei kurzfristig verhindert gewesen, also habe man ihn geschickt. Da er kein Wort Spanisch sprach und von Kuba ungefähr so viel Ahnung wie von Quantenphysik hatte, fragte er ab und an: «Was hat er gesagt? Wieso ist die Beerdigung in Santa Clara?» Aber besonders wissbegierig war er eigentlich nicht.

Dennoch verursachte er hübsch Spesen, denn auch beim «Spiegel» arbeiten ja Revolutionsnostalgiker, die ein längst verblichenes Che-T-Shirt zusammen mit dem Poster der ikonischen Che-Fotografie von Korda im Schrank haben. Das wäre also das erste strukturelle Problem des «Spiegel». Wenn Haltung und gute sowie richtige Meinung sich mit Überheblichkeit paaren, dann bleibt die Realität auf der Strecke, entsteht die Echokammer, wo sich Produzenten und Konsumenten mit der ständigen Bestätigung der eigenen Meinung, der eigenen Vorurteile bespassen. Und die Welt nicht mehr verstehen.

Alle beim «Spiegel» haben es «gemeinsam in der Hand, aus der Krise die richtigen Schlüsse zu ziehen – oder es maximal zu versemmeln».
Steffen Klusmann, designierter Chefredaktor

Das zweite strukturelle Problem liegt in der Menge der Primadonnen und Ränkeschmiede, die beim «Spiegel» arbeiten, und bei immer noch über 600 Nasen hat es davon eine Menge. Von innen oder von aussen, wie vom Träger eines berühmten Namens, Jakob Augstein, wird gemotzt, kritisiert, werden wohlfeile Ratschläge gegeben. Dem Magazin, in dem Augstein nicht nur im Zweifel immer linke, oft verleumderische und geradezu peinlich-dumme Meinungen vertrat («In den USA ist ein Faschist an die Macht gekommen.»), wirft er nun «schwere Fehler» vor. Auch der designierte Chefredaktor Klusmann warnt: «Eine Reihe von Kollegen hat mich in den vergangenen Tagen gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass die Causa Relotius nicht zur Begleichung alter Rechnungen im Haus missbraucht wird. Ich fürchte, dafür müsst ihr auch selbst Sorge tragen.» Alle beim «Spiegel» haben es «gemeinsam in der Hand, aus der Krise die richtigen Schlüsse zu ziehen – oder es maximal zu versemmeln».

Nun, Optimismus hört sich anders an. Denn auch der «Spiegel» ist im Guten wie im Schlechten ein Tanker, dessen Bremsweg, dessen Kursänderung passiert niemals schnell. Sondern manchmal quälend langsam, und umso mehr Hände am Steuerrad zerren, umso mehr wird es ein Schlingerkurs. Aber es gibt noch ein fundamentales drittes, strukturelles Problem beim «Spiegel». Das äussert sich nicht nur im gelegentlich recht zackigen Wechsel des Chefredaktors und in der Chefredaktion. Dieses Problem liegt in der Besitzstruktur des Blatts.

Der Gründer Rudolf Augstein verschenkte in den 1970er-Jahren 50,5 Prozent seiner «Spiegel»-Anteile der Redaktion, nachdem er 25,5 Prozent an Gruner & Jahr verkauft hatte. Die übrigen 24 Prozent, unterhalb einer Sperrminorität, bekamen seine Erben. Damals hatte das Blatt rund 900 Mitarbeiter, die Auflage betrug 920’000 und insgesamt lasen 6 Millionen das Nachrichtenmagazin. Später bereute Augstein bitterlich, die Mitarbeiter zum Mehrheitsbesitzer gemacht zu haben. Die gründeten eine KG (Kommanditgesellschaft) und deren fünfköpfige Geschäftsführung sagt im Zweifelsfall, wo’s langgeht. Wenn ihr ein Chefredaktor nicht mehr passt, wie der glücklose und zu nette Klaus Brinkbäumer, dann ist er schneller weg als er «lasst mich mal machen» sagen kann.

Aber neben dem Unding, dass die Untergebenen des Chefredaktors gleichzeitig über ihn bestimmen können, gibt es auch ein Compliance-Problem. Im neusten Führungsmodell soll neben der dreiköpfigen Chefredaktion, wobei der Kopf Fichtners zurzeit ruht, ein Zehnerteam mit ressortübergreifenden Aufgaben die bisherigen stellvertretenden Chefredaktoren ersetzen. Dazu gehört auch die bisherige Wirtschaftsressortleiterin Susanne Amann. Sie soll im Führungsteam eine von zwei «Managing Editors» werden. Allerdings: Sie ist gleichzeitig die Sprecherin der Geschäftsführung der Mitarbeiter-KG. Sie spielte also eine wichtige Rolle beim Rausschmiss von Brinkbäumer und wurde nun von dessen Nachfolger Klusmann befördert. Intern und extern gibt es massive Kritik daran, dass ein Mitglied des Führungszirkels des Blatts gleichzeitig Sprecherin der Mehrheitseigentümer sein kann. Wäre das ausserhalb des «Spiegel» so, wäre eine fetzige Kritik die Folge.

Da wird wohl noch eine Unzahl von Fällen aufpoppen, wo gefälscht, erfunden, zugespitzt, der Story ein gefälliger Drive gegeben wurde.

Ob also Klusmann seinen Satz: «Wer Verantwortung zu tragen hat, wird sie tragen», umsetzen kann, ohne eigentliche Hausmacht und argwöhnisch beobachtet von den Mitarbeitern-Besitzern, von aussen, von der Zunft und von allen, die schon immer gewusst haben wollen, dass der «Spiegel» nicht sagt, was ist, sondern zu fühlen versucht, was sein sollte? Erschwerend kommt noch hinzu, dass offenbar der direkte Kontakt des «Spiegel» zu Relotius abgebrochen ist, der äussert sich inzwischen per Anwalt in den Medien. Ob er seinerseits noch peinliche Enthüllungen über den «Spiegel» auf Lager hat, die er vielleicht sogar belegen kann? Eine tickende Zeitbombe.

Und zu allem Ungemach: Glaubt wirklich jemand, Relotius sei der Einzige gewesen, der den Haltungs-Sound bediente, dem sich der «Spiegel» im wahrsten Doppelsinne des Wortes verschrieben hatte? Da wird wohl noch eine Unzahl von Fällen aufpoppen, wo gefälscht, erfunden, zugespitzt, der Story ein gefälliger Drive gegeben wurde. Wie und wann soll der Leser da wieder Vertrauen darin haben, dass der «Spiegel» nach bestem Wissen und Gewissen, professionell und mit allen journalistischen Standards zu sagen versucht, was ist?