«Wir sehen uns eigentlich konkurrenzlos, unser Konzept gibt es so noch nicht.»
Heidi.news will hoch hinaus. Das Genfer Start-up zielt mit seinem Mix aus Themen-Dossiers und aufwändigen Multimedia-Reportagen auf ein internationales Publikum. Mit Startinvestoren und ohne Crowdfunding sucht das Team um das Westschweizer Journalismus-Urgestein Serge Michel und Ex-Edipresse-CEO Tibère Adler nach Abonnentinnen und Abonnenten, die 160 Franken zu zahlen bereit sind pro Jahr. Die MEDIENWOCHE hat Michel gefragt, wie sie das erreichen wollen.
MEDIENWOCHE:
Heidi.news, das klingt für mich nach einem Projekt aus den Bergen, etwas alt, konservativ, deutschschweizerisch. Wieso dieser Name?
Serge Michel:
Ehrlich gesagt war der Name am Anfang nur als Witz gedacht, als Arbeitstitel, doch dann haben wir uns in diesen zwei Jahren schliesslich so daran gewöhnt, dass wir ihn behalten haben. Zudem kann der Name auch für die englische Abkürzung HD – High Definition – stehen, was unseren Präzisionsjournalismus umschreiben soll. Ausserdem ist die Geschichte von Heidi nach wie vor aktuell: Sie steht für die Rückkehr zur Natur, zu den ursprünglichen Werten, sie zeigt den Kontrast zwischen Dörfli und Industriestadt, zwischen Tradition und Moderne. Ich finde, der Name passt gut.
MEDIENWOCHE:
Zu Beginn werden Sie sich auf die Themen Wissenschaft und Gesundheit konzentrieren. Warum ausgerechnet diese Themen?
Serge Michel:
Zum einen sind dies Themen, bei denen präzise, verifizierte Informationen grundlegend sind und die von den traditionellen Medien in den letzten Jahren vernachlässigt wurden. Zum anderen besteht für diese Themen eine klare Nachfrage, von der breiten Öffentlichkeit aber auch von der Forschungswelt. Allein in der Romandie gibt es dank der EPFL, dem CERN und vielen Unternehmen im Gesundheits- und Wissenschaftsbereich ein grosses potentielles Zielpublikum – man sagt, die Romandie sei das «health valley» der Schweiz. Wir wollen aber nicht nur Professoren und Ärzte ansprechen, wir wollen nicht als Branchenmagazin wahrgenommen werden.
MEDIENWOCHE:
Wie werden Sie diesen Spagat zwischen breiter Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Community hinkriegen?
Serge Michel:
Wir wollen beide Zielgruppen gleichzeitig erreichen. Unsere Artikel sollen sehr präzis und hintergründig sein, aber die wissenschaftlichen Themen so behandeln, dass sie alle verstehen können. Es ist uns wichtig, dass wir als «nützliches» Medium wahrgenommen werden. Unser Ziel ist es, eine hochwertige Leserschaft anzusprechen, die anspruchsvoll ist und der «20 Minuten» nicht genügt.
MEDIENWOCHE:
Welche weiteren Themen werden später hinzukommen?
Serge Michel:
Das Ziel ist, im Schnitt etwa alle sechs Monate ein neues Thema hinzuzufügen, zum Beispiel Kultur, Rechtswesen, Finanzen oder Ähnliches. Damit werden wir jeweils auch immer wieder eine neue Zielgruppe anlocken können, die sich für dieses eine Thema interessiert. So kann unser Medium stetig wachsen.
MEDIENWOCHE:
Wie wird Ihr neues Medium konkret aussehen?
Serge Michel:
Es wird zwei Formate geben, den Feed («flux») und die Erkundung («exploration»). Jeder Feed verfolgt ein eigenes Thema, am Anfang starten wir also mit zwei, Gesundheit und Wissenschaft. Dort werden wir News kuratieren. Ein Team wird jeweils zuerst die Neuigkeit kurz zusammenfassen, danach folgt ein einordnender Abschnitt darüber, warum dies wichtig ist, und am Schluss kann man noch weitere Informationen in Form von Bulletpoints lesen. So kann man sich bei uns über ein Thema auf dem Laufenden halten. Bei den «Erkundungen» geht es darum, jeden Monat ein spezifisches Thema anhand einer grossen Reportage sehr tiefgehend und multimedial zu behandeln, sprich mit Text, Bilder, Videos, Quiz etc. Dies aber nicht in ellenlangen Texten wie bei der «Republik», sondern aufgeteilt in kleinere Texte, die als Serie über zwei oder drei Monate laufen. Fast ein bisschen wie Netflix. Ein Thema ist beispielsweise die Revolution der Toiletten, wofür wir einen Reporter nach Indien, China, Afrika und Dübendorf geschickt haben. Jede Episode wird in sich Sinn machen und einen unterschiedlichen Aspekt des Themas beleuchten, aber soll so gut sein, dass man all die anderen Teile der Serie auch lesen will. Das ist eigentlich ein altes Rezept, insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden grosse Reportagen als Serien publiziert.
MEDIENWOCHE:
Wenn das ein altes Rezept ist, was ist dann das Innovative an Heidi.news?
Serge Michel:
Wir wollen nicht innovieren, um zu innovieren. Ich finde aber, dass unser gesamtes Konzept an sich innovativ ist, das gibt es bisher nicht. Auch werden Sie mehrere Überraschungen finden, die ich aber noch nicht verraten kann. Zudem wollen wir keine top-down Herangehensweise, sondern wir wollen die Leserschaft miteinbeziehen. Am Ende einer grossen Reportage werden wir jeweils alle Episoden zusammen in einem Magazin abdrucken sowie das Thema mit einer Veranstaltung beenden. Uns ist es wichtig, eine Beziehung zur Leserschaft aufzubauen.
MEDIENWOCHE:
Dort setzen Sie auch an, Sie wollen auf Werbung verzichten, sondern das Magazin über die Leserschaft finanzieren. Wie genau sieht Ihr Businessmodel aus?
Serge Michel:
Der Grossteil, so zwischen 70 und 80 Prozent, wird von der Leserschaft getragen, ja. Der jeweilige Anfangsteil einer News wird gratis zugänglich sein. Wir werden auch Partnerschaften eingehen, zum Beispiel mit Stiftungen, denen es ein Anliegen ist, Wissenschaft populär zu vermitteln. Wir werden aber darauf achten, dass es zu keinem Interessenkonflikt kommt.
MEDIENWOCHE:
Wie stehen Sie eigentlich zur Medienförderung?
Serge Michel:
Ich bin gegen Subventionen des Staats, die Unabhängigkeit zur Politik sicherzustellen ist zu schwierig. Ich glaube viel eher an eine private philanthropische Haltung und dass wir Unterstützung erhalten, weil Medien wichtig für die Demokratie sind. Die philanthropische Haltung hat sich auch bei Stiftungen verändert – früher haben Stiftungen vor allem kulturelle und soziale Projekte unterstützt. Jetzt aber erhalten auch immer mehr Medien Unterstützung, das sieht man ja in den USA. Ich habe zum Beispiel für Le Monde mehrere Projekte mit der Bill & Melinda Gates Foundation entwickelt. Die Menschen werden sich bewusst, dass auch Medien ein Kulturgut sind, das man schützen muss.
MEDIENWOCHE:
Warum haben Sie kein Crowdfunding gemacht wie «Bon pour la tête» oder die «Republik»?
Serge Michel:
Wir wollten Heidi.news nicht vom Erfolg des Crowdfunding abhängig machen – erreicht man das Ziel nicht, dann wird das Projekt ja nicht realisiert. Wir wollten aber so oder so starten, weil wir daran glauben. Wir haben nun ein Startkapital von einer Million Franken zusammengetragen, welches von zehn Gründungsmitgliedern sowie von zehn privaten Investorinnen und Investoren stammt. Diese zehn Privatpersonen haben je nicht mehr als 1% der Aktien gekauft. Es stehen also nicht finanzielle Überlegungen im Vordergrund, sondern ihnen allen liegt tiefgründiger Qualitätsjournalismus und Unabhängigkeit der Redaktion am Herzen. Wir sind daran abzuklären, ob sie anonym bleiben oder mit Namen auftreten wollen.
MEDIENWOCHE:
Seit November kann man «Vor-Abonnements» kaufen. Das erste Ziel liegt bei 2000 Abonnenten bis zum Start im Frühling. Wie viele Abonnements müssen Sie langfristig verkaufen, um rentabel zu sein?
Serge Michel:
Unser Erfolg hängt nicht so sehr von diesen 2000 Abonnements ab, das ist mehr wie eine Testphase, in welcher wir nun seit November regelmässig einen Newsletter versenden, worauf die Leserschaft auch Feedback geben kann. Unser erstes Etappenziel ist es, in drei Jahren sechs Themen-Feeds anbieten zu können. Das ist aber nur ein erster Meilenstein eines viel ambitionierteren Projekts.
MEDIENWOCHE:
Wird es Heidi.news deshalb auch auf Englisch geben?
Serge Michel:
Ja, auf Englisch setzen wir bewusst aus dem Grund, weil es viele englischsprachige Personen in der Romandie gibt, und um schnell einmal ins Ausland expandieren zu können. Der Westschweizer Markt ist zu klein. Wir wollen aber – und deshalb auch der schweizerische Name – klar ein Schweizer Medium bleiben, sprich ein Produkt von hoher Qualität, das aber auch im Ausland gekauft wird, so wie etwa unsere Uhren oder unsere Präzisionsmaschinen. Wir werden aber kein durchgehend zweisprachiges Medium sein. Wenn der Journalist oder die Journalistin Französisch schreibt, wird der Artikel auf Französisch erscheinen und nicht auf Englisch übersetzt. Dasselbe gilt umgekehrt auch für Beiträge von englischsprachigen Autorinnen und Autoren.
MEDIENWOCHE:
Wie sieht Ihr Redaktionsteam aus?
Serge Michel:
Wir starten mit einem Dutzend Personen, darunter einige Teilzeitanstellungen, insgesamt entspricht es ungefähr zehn Vollzeitstellen. Tibère Adler ist der Verleger und ich der Chefredaktor. Dann wird es jeweils eine verantwortliche Person für Social Media, Video, Redaktion und Business geben. Jeder News-Feed wird relativ autonom arbeiten, mit einem Leiter oder einer Leiterin, einem Senior, einem Junior sowie Praktikanten. Um die Qualität sicherzustellen, wird jeder Feed einen Beirat zur Seite haben, welcher Feedback und Inputs liefert und aus Fachpersonen der jeweiligen Branche besteht. Die Redaktion bleibt aber selbstverständlich unabhängig. Für die grossen Reportagen arbeiten wir mit Freelancern zusammen. Da dies sehr grosse Aufträge sind, kommt das jeweils ungefähr einer auf zwei, drei Monate befristeten Stelle gleich.
MEDIENWOCHE:
Sie haben den Medienwandel aus nächster Nähe miterlebt, Sie verfügen über fast dreissig Jahre Erfahrung in der Medienbranche, haben für Le Nouveau Quotidien, l’Hebdo, Le Figaro, Le Temps, und am Schluss bei Le Monde in Paris gearbeitet. Wie haben sich die Medien verändert?
Serge Michel:
Fast die Hälfte der Zeitungen, für die ich gearbeitet habe, gibt es heute nicht mehr: le Journal de Genève, le Nouveau Quotidien und l’Hebdo. Im Ernst: Diese Situation beunruhigt mich. Während eines halben Jahrhunderts, von 1950 bis 2000, ging es den Medien sehr gut. Als dann das Internet aufkam und die Medien an einem Wendepunkt standen, haben die Verleger aus meiner Sicht völlig falsch gehandelt. Statt in das Kerngeschäft zu investieren und noch besseren Journalismus zu machen, haben sie sich diversifiziert und Geld in E-Commerce-Projekte gesteckt, die sehr weit vom Journalismus entfernt sind. Dadurch haben sie ihren Schatz, ihren einzigen Mehrwert, vernachlässigt, statt auf ihn zu vertrauen. Um anschliessend die Defizite zu limitieren, wurde erneut wieder nur an die Kosten gedacht, nicht aber an die Qualität. Das bereitet mir Sorgen und das war der Grund, weshalb ich mit Tibère Adler Heidi.news lancieren wollte.
MEDIENWOCHE:
Wo positionieren Sie sich in der Medienlandschaft der Westschweiz? Sind Sie ein Konkurrent für die Tageszeitung «Le Temps»?
Serge Michel:
Wir sehen uns eigentlich konkurrenzlos, unser Konzept gibt es so noch nicht. Wir sind auch nicht eine Westschweizer Version der «Republik». Vielleicht werden wir ja eines Tages ein Konkurrent für die Financial Times (lacht).
Zur Person:
Serge Michel wurde 1969 in Yverdon-les-Bains geboren. Nach dem Studium in Politikwissenschaften und internationalen Beziehungen in Genf begann er als freier Journalist für die damalige Tageszeitung Journal de Genève zu arbeiten, welche 1998 mit Nouveau Quotidien zu Le Temps fusionierte. Michel arbeitete während mehreren Jahren als Korrespondent aus Zürich sowie aus dem Iran, dem Balkan und aus Westafrika, unter anderem auch für französische Medien wie Le Figaro und Le Monde. Er ist Co-Autor von Büchern über diese Regionen. Während seiner Zeit beim Magazin L’Hebdo gründete er 2005 den Bondy-Blog in der Banlieue von Paris, welcher vor Ort über die damaligen Unruhen berichtete. Nach einer Station als stellvertretender Chefredaktor von Le Temps, arbeitete er die letzten sieben Jahren in Paris für Le Monde, zunächst als stellvertretender Chefredaktor und danach als Reporter sowie als Gründer und Chefredaktor von Le Monde Afrique.
Bild: Nicolas Lieber/zvg