«Ich fühl mich dann wie ein laufendes Aufnahmegerät.»
So schreibe ich: Der Feuilletonist und Reporter Caspar Shaller sprach mit der MEDIENWOCHE über sein Schreiben anhand seiner WOZ-Reportage aus den USA und einem «Friday»-Magazine-Porträt über Megan Fox.
«Ich sehe mich in diesem Text», sagt Caspar Shaller, als er ihm sechs Jahre nach Erscheinen zur Lektüre vorgelegt wird. Es handelt sich um ein Porträt der Schauspielerin Megan Fox, das Shaller als Praktikant für das «Friday»-Magazine von «20 Minuten» geschrieben hatte.
Diesen Textaufbau mit den Brüchen mache ich oft. Jedenfalls hatte ich eine gute Zeit als Praktikant beim «Friday». Es ist das, was es sein will. Modemagazine existieren nun einmal. Beim «Friday» wird oft versucht, eine gesellschaftspolitische Perspektive einzuarbeiten. Dasselbe macht auch das Annabelle und deshalb ist es so ein tolles Magazin: Weil sich eine subtile gesellschaftspolitische Perspektive durchzieht. Vorgeblich disparate Dinge zu verknüpfen, ist etwas sehr schweizerisches.
Die ersten fünf Minuten Gespräch mit Caspar Shaller sind vorbei und das ist nur die eine originelle Einschätzung, die er On-the-Record gesagt hat. Shaller denkt laut, Shaller wechselt Ebenen, verknüpft bisher Unverknüpftes, schätzt ein, erzählt private Anekdoten – etwa von einer Kollegin die das Klatschmagazin InTouch und Lenins Tagebücher als Reiselektüre mit dabei hatte, als sie ihn in Berlin besuchte. Seit seiner Zeit als «Friday»-Praktikant hat sich Shallers Fokus und Leben drei Mal umgedreht. Er ging als Praktikant zum Feuilleton der «Zeit» und wurde dort später Redaktor. Nun studiert der 29-Jährige Critical Curatorial Cybernetics Studies (Kunst- und Politiktheorie) an der Kunsthochschule HEAD in Genf und schreibt frei für die «Zeit», Süddeutsche Zeitung, Das Magazin und die WOZ, für letztere unter anderem Reportagen aus den USA.
Mich interessiert wie Leute denken. Das kann man, aber muss man nicht Kulturjournalismus nennen. Kultur im Sinn von: das, was unsere Gesellschaft prägt. News sind extrem wichtig, aber ich interessiere mich im Schreiben und Lesen für Texte, die Newsbrocken in Zusammenhang setzen, für die longue durée. Googeln kann jeder, aber Journalismus gibt es ja, damit Leute die ganzen Informationen sieben. Das ist noch nicht mal eine Gatekeeperfunktion im klassischen Sinn. Es gibt einfach zu viel Information.
Shaller lässt gegenüber der MEDIENWOCHE bei keinem Thema die Metaebene weg. Wenn er auf Reportage sei, funktioniere er anders:
Wenn ich in der Küche stehe, währenddem der linke Aktivist im Vorwahlkampf der Demokraten seine Pizza isst, verhält sich der anders, privater. Und ich bleibe aber in meinem Reportage-Modus. Ich fühl mich dann wie ein laufendes Aufnahmegerät.
Vier politische Reportagen für die WOZ, zusammengenommen über 50’000 Zeichen, recherchierte Shaller vergangenes Frühjahr in einem einzigen US-Aufenthalt.
Hinterher war ich wirklich erschöpft. Nach 13 Tagen, in denen ich funktioniert habe wie eine Maschine. Die Art, wie ich auf Leute zugehe und wie ich beobachte ist als Reporter komplett anders als im Alltag. In meinem Kopf entstehen dann druckreife Sätze wie aus dem Nichts. Das passiert mir nicht, wenn ich bei uns in die Migros gehe. Meinen eigenen Alltag kann ich paradoxerweise nicht so betrachten.
Die Artikel aus dem Viererbündel handeln von neuen linken (Online-)Medien wie dem Jacobin-Magazin, der linken demokratischen Hoffnung Alexandria Ocasio-Cortez, dem Leben als Sans-Papiers in Trumps Amerika – und dem Vorwahlkampf der Demokraten in Pennsylvania.
Mein Vater ist Amerikaner. Ich lese viel über die USA und mir ist aufgefallen, dass es einen Gap gibt zwischen der Berichterstattung deutschsprachiger und US-Medien über US-Probleme. Vieles, was in den USA passiert, kommt bei uns gar nicht vor. Die deutschsprachige Berichterstattung ist oft oberflächlich oder die Korrespondenten haben spezifische Vorstellungen davon, welche gesellschaftlichen Konflikte es gibt und welche nicht.
In den USA gibt es neu eine antikapitalistische Linke. In Europa haben wir halt seit je eine antikapitalistische Linke – aber in der USA ist es ein epochaler Generationenwandel. Die neue Linke in den USA wird sich auch auf Europa auswirken. Für mich ist das eine Story.
«Von links aufgerollt», die Reportage über den Vorwahlkampf in Pennsylvania, erzählt davon, wie Unabhängige und Demokrat*innen am linken Parteiflügel auch um vermeintlich unwichtige Positionen kämpfen. Damit bezwecken sie, das demokratische Parteiestablishment auszutauschen und die Partei zumindest soweit nach links zu rücken, dass sie in etwa auf der Linie einer sozialdemokratischen Partei in Europa politisiert. Shallers Text steigt mit Situationskomik ein: Einem Aktivisten im Haustürwahlkampf wird die Türe zugeknallt und er trägt in seine Liste ein, dass an der entsprechenden Adresse niemand zuhause war. Darauf folgt der zweite Absatz mit verortenden Informationen, im dritten ist der Aktivist dann nicht mehr komisches Element, sondern erklärt die Zusammenhänge zwischen seinem individuellen Engagement und dem langfristigen Projekt.
Es ist ja immer mikro und makro zugleich. Die Mikro-Aktionen beeinflussen den Makro-Frame. Ich denke stilistisch oft darüber nach, wie man die beiden Ebenen zusammenbringen kann. Der Schlüsselsatz dieser Reportage ist, dass die Demokraten unter Obama 1000 Posten verloren haben. Ich wollte verstehen, was los ist in einem so grossen, politisch zentralisierten Land. Was passiert an Orten, die weder sehr reich noch sehr arm sind.
Also verlässt Shaller den Aktivisten in Philadelphia und reist in den ländlichen Westen Pennsylvanias. In einer Kleinstadt, in der Trump die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, zoomt Shaller alleine auf die innerdemokratische Ausmarchung zwischen der gemässigten und der linkeren Kandidatin. Das Team der gemässigten Kandidatin will nicht mit Shaller sprechen, stattdessen schildert Shaller, wie sich die Aktivist*innen um die linke Kandidatin in einem Privathaus versammeln, Wähler*innen anrufen, gemeinschaftlich Pizza essen. Shaller dringt dabei weit in das politische Denken einzelner ein, lässt diese zeigen, dass sie sich in linker Theorie auskennen und sie differenziert betrachten. Immer wieder schert der Text dabei auch aus, liefert Hintergrund über die Opioidkrise und der Schliessung von Supermärkten in Quartieren mit sozial benachteiligter Bevölkerung. Als Absprung für solche Nebenstränge nutzt Shaller Fernsehszenen; Zitate seiner Protagonist*innen; die Titel der Bücher, die sie lesen; Autofahrten, zu denen sie ihn mitnehmen.
Meine Texte sind oft zu dicht. Ich recherchiere immer viel zu viel. Auch hier habe ich viel reingestopft. Über das mit der Food Desert könnte man beispielsweise einen eigenen Artikel schreiben: Die Demokraten gehen diese Probleme nicht mehr an. Die Probleme der Bevölkerung sind so konkret und niemand kümmert sich darum. Bei mir kommt das extrem kondensiert schnell vor.
Schnell vielleicht – aber trotzdem verortend und verortet. Shaller gibt die Szene wieder, vermittelt aber auch, weshalb sie für seine Geschichte relevant ist: Die Demokrat*innen fühlen sich der Stimmen von Schwarzen, Latinos und Armen sicher, deshalb politisieren sie gar nicht mehr im Hinblick auf deren konkrete Bedürfnisse. Shallers Reportage liest sich wie eine gut strukturierte Variante seines Gesprächs mit der Medienwoche: Unglaublich viele Ebenen werden beleuchtet. In den Absätzen, die den Protagonist*innen gewidmet sind, geht es um sie und ihre Kämpfe. Andere Absätze lesen sich wie eine geraffte Chronik des strukturellen Versagens der Demokraten. Aber «Von links aufgerollt» könnte man auch als exemplarisches Essay über die politischen Folgen eines Zwei-Parteiensystems mit Mehrheitswahlrecht lesen. Shaller verknüpft so viele Makrobetrachtungen und bleibt dabei detailverliebt auf der Mikroebene
Die Urfassung dieses Textes war 40’000 Zeichen lang. Ich könnte nicht nur recherchieren, bis ich tot umfalle, sondern auch immer viel zu viel schreiben. Bereits unterwegs transkribiere ich meine Notizen, die manchmal fünf Mal so lang wie der Text sind. Ich notiere immer Sätze und Satzfragmente, nie bloss Stichworte. Meist transkribiere ich auch die Interviews komplett. Selbst wenn ich mir vornehme, die Aufnahmen bloss durchzuhören, schreibe ich fast alles auf. Dann steh ich vor einem riesigen Haufen Material. Killing your darlings ist schwierig. Am Ende steh ich einfach vor einem Riesenberg abgetriebener Babys. Ich schreibe in Schüben, aber mein Schreibprozess ist recht geordnet. Erst mache ich eine Struktur als Gerüst. Aus irgendeinem Grund mag ich die Aufteilung in fünf Teile. Danach sortiere ich die Informationen und feile an der Dramaturgie.
Manche Journalist*innen geraten in eine mittlere Sinnkrise – ob gekünstelt oder nicht – wenn man sie fragt, wie lange sie an etwas gearbeitet haben. Shaller konfrontiert sich und hat ein System entwickelt, um die Übersicht über seine Arbeitsmenge zu bewahren:
Zuhause habe ich eine Tabelle, in die ich eintrage, wie lange ich woran gearbeitet habe. Es ist eine Art Krücke, damit ich ab und zu darüber nachdenke, wie viel Zeit ich eigentlich verschwende. Gerade habe ich für die SZ einen Roman über eine Influencerin rezensiert. Dafür habe ich von Tiqqun «Preliminary Material for a theory of the young-girl» nochmals gelesen. Am Ende hab ichs gar nicht gebraucht. So absurd, mein Verhalten ist mega unwirtschaftlich.
Shaller denkt unentwegt; das Gespräch mit der Medienwoche dauert zweieinhalb Stunden. Es gibt keine Gewissheiten, an denen nicht gerüttelt wird und alle noch so abseitigen Themen klopft er auf ihre Meta-Ebenen ab. Dabei hält er dasselbe Energielevel wie anfangs über Megan Fox und die gesellschaftskritische Dimension von Schweizer Lifestyle-Magazinen. Shallers Reflexion stoppt auch nicht vor den Gewohnheitsnormen der Branche. Das Medienwoche-Gespräch fand vor den Relotius-Enthüllungen statt, aber Shallers Kritik nimmt die jetzt dringliche Stildiskussion vorweg:
Es gibt Redaktionen, die diesen sauberen Henri-Nannen-Schule-Stil wollen. Den kann ich mittlerweile auch liefern, aber es ist schade, was dabei verloren geht. Die Form beeinflusst den Inhalt: Der Stil ebnet Widersprüche und Eigenheiten von Erlebtem ein. Die Leserführung und das System ist dann immer gleich. Aber die Welt funktioniert halt nicht immer gleich.