Vom «Tamedia-Untergrund» in die Unabhängigkeit
«Kulturstattbern», das langjährige Kulturblog des Berner «Bund», hat sich von der Zeitung abgenabelt und startet neu als unabhängige Plattform. Die radikalste Schreibe der Schweiz steigt als «KSB Kulturmagazin» aus dem «Untergrund von Tamedia» auf.
Ein Stockwerk über der Berner Altstadtkneipe «3 Eidgenossen» befindet sich ein Billardzimmer. Wann immer zwei Kugeln zusammenprallen, hört man das eigene Wort nicht mehr. Man darf hier rauchen, aber Billard und der Begleitlärm sorgen dafür, dass der Raum nicht die beste Umgebung für eine Redaktionssitzung bietet. Das Team von KSB trifft sich häufig hier.
KSB hiess früher «Kultur statt Bern» und wurde 2006 als Kulturblog der Berner Tageszeitung «Der Bund» gegründet. In den letzten Jahren hat sich KSB inhaltlich emanzipiert; jetzt löst sich das Blog ganz aus den Strukturen des grössten Schweizer Medienunternehmens.
«Kultur statt Bern» berichtete jahrelang über jenen Teil des Berner Kulturlebens, der sich unter dem Radar der Zeitungsredaktion bewegt. In kurzen Texten und in einigermassen nüchterner Sprache. Das hat sich in den vergangenen zwei Jahren geändert. «Kultur statt Bern» wurde zur Plattform, auf der schweizweit der radikalste journalistische Stil gepflegt wird. Sie fiel besonders auf, weil sie im «Untergrund von Tamedia» erschienen ist. Diese Ortsbezeichnung stammt aus einem gelöschten KSB-Text.
«Kunst statt Kohle. Szene statt Theater. Hingehen statt Wegsparen. Hier gibts ab Februar wieder eigenwilligste Kulturschreibe!» steht auf der vorläufigen Website. Pastelloranger Hintergrund, schlicht, keine 1000 Zeichen Text und auch auf dieser Länge hat KSB einige Wörter untergebracht, die so nicht im Duden stehen.
«Zuerst muss man eine Büez abliefern! Haben wir gearbeitet, können wir das als Visitenkarte nutzen.»
Kulturblogger Mirko Schwab
Im verrauchten Billardzimmer. Es sind versammelt: Jessica Jurassica, Mirko Schwab, Urs Rihs. Sie alle gehören der jüngeren KSB-Generation an. Im letzten Jahr erschien kaum eine klassische Rezension, dafür längere und teilweise gar fiktive (und deutlich als fiktiv markierte) Texte. Die drei wirken wie nachdenkliche Menschen. Niemand rattert das publizistische Konzept als Elevator Pitch runter und über einen Businessplan verfügt KSB ebensowenig wie über ein Budget.
Sie haben die Diskussion geführt, ob sie ab dem Start ihres neuen Projekts Honorare zahlen wollen, aber die Finanzierungsfrage so früh schon zu stellen, hätte die Ideenfindung blockiert. Statt Geld haben sie Kontakte – etwa zu ihren künftigen «partners in krime» (KSB-Schreibe) von Radio Bollwerk, ein lokales Gemeinschaftsradio für Avantgarde-Clubmusik.
«Zuerst muss man eine Büez abliefern! Haben wir gearbeitet, können wir das als Visitenkarte nutzen», sagt Schwab. Haben die Leute erkannt, dass es KSB braucht, braucht KSB dann doch finanzielle Unterstützung. Über 200 künftige Leser*innen haben sich bereits für den Newsletter eingetragen. «Wir starten so – aber für lau halten wir das nicht fünf Jahre durch.»
In den letzten Monaten von «Kultur statt Bern» auf der «Bund»-Seite hat das KSB-Team wenig geplant. Sie seien meist zufällig an Orten gewesen, wo etwas Berichtenswertes passiert ist und haben erst hinterher entschieden, darüber zu schreiben. Redaktionelle Planung: Gab es bisher nicht, soll es künftig geben. Konsequentes Gegenlesen: Soll es künftig geben. Bisher lief das alles spontaner, obwohl ihre längeren Texte immer jemand aus dem Team gegengelesen habe. Die «Bund»-Redaktion habe sie die Blog-Texte ohne Aufsicht produzieren und freischalten lassen.
KSB ist für das fünfköpfige Redaktionskollektiv mehr als ein Hobby und trotzdem sind sie alle zur Gratis-Arbeit bereit.
Auch ohne Redaktionskonzept schaffte es «Kultur statt Bern» manchmal, Debatten loszutreten. Etwa über die Frage, ob tanzende Männer ihre Oberkörper entblössen dürfen in Discos, zumal in einem linken Kulturzentrum wie der Berner Reitschule. Manchmal haben sie einfach über die Kulturveranstaltungen geschrieben, die sie besucht haben. Aber auch über Anlässe, die auf keiner Kulturseite vorkommen, etwa über eine «Amateur-Trash-Boxing»-Nacht und in einer Sprache, die sonst nirgends publiziert wird: Da ist mal etwas «dope» (für: geil, derb) aber statt Zeitumstellung schreiben sie «tempore mutatione» – wenn es dem Flow dient. Der 14’000-Zeichen-Bericht über die «Underground Fight League» ist mal Live-Ticker, dann wieder eine Reihung von Metagedanken.
KSB ist für das fünfköpfige Redaktionskollektiv mehr als ein Hobby und trotzdem sind sie alle zur Gratis-Arbeit bereit. Früher bloggten sie für «ein bisschen mehr als unbezahlt», wie es die Kunstfigur Jessica Jurassica in ihrem ersten Beitrag nannte: 180 Franken pro Monat. Schreiben und online stellen. KSB hätte beim «Bund» bleiben dürfen – unter der Bedingung, dass Jessica Jurassica aus dem Team gekickt und ihnen das eh schon bescheidene Honorar halbiert worden wäre. Ein bisschen weniger mehr als unbezahlt.
«Es war mein erster Text. Und von Anfang an war klar, dass die anderen bei KSB mit mir solidarisch sind», sagt Jurassica. An einem Samstagnachmittag im vergangenen Juni lernte die gesamte Deutschschweizer Journalismusszene den Namen Jessica Jurassica kennen. Der Grund war ein Text mit dem Titel «Pietro Supino, ich frage mich, ob du meine Texte liest», der offensichtlich satirischen Charakters war, aber ebenso offensichtlich übergriffig. Nach drei Stunden war der Text auf Geheiss von oben offline und Jessica Jurassica eine neue Stimme in den Schweizer Medien. Natürlich auch wegen dem Erscheinungsort des Textes: einem Kulturblog «im Untergrund von Tamedia», wie es Jurassica damals schrieb. «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz erinnert sich: «Wegen des von mir als schnodderig empfundenen Beitrags über den Tamedia-Verleger» gab es dann Streit mit dem Blog-Team.
«Der Erscheinungsort auf der ‹Bund›-Website verpflichtet selbstredend zu einer minimalen Loyalität gegenüber dem Verlag».
Patrick Feuz, Chefredaktor «Der Bund»
Die Zusammenarbeit mit der «Bund»-Redaktion sei laut KSB schon länger nicht besonders intensiv oder gar herzlich gewesen. Jurassicas Supino-Beitrag und der Streit um die «Schnodderigkeit» waren bloss ein Beschleuniger für einen Abnabelungsprozess. Nach monatelangem Überlegen fällte KSB an einem Abend relativ spontan den Entscheid, den vorbereiteten Abschiedstext online zu stellen. Die «Bund»-Redaktion hat auch diesen Text gelöscht. Wochen später, in der Silvesternacht, postete «Kulturstattbern» einen Atompilz aus typografischen Zeichen. Wer auf die blau markierten Sterne klickte, landete unter anderem auf dem Tamedia-Advertising-Portal und einem Tamedia-kritischen «Republik»-Artikel. Der Atompilz wurde gelöscht, ebenso die Facebook-Seite von KSB – letztere allerdings bloss vorübergehend. «Weil das Team in einem Beitrag über Interna berichtete. Ich fand das kindisch», so Patrick Feuz gegenüber der MEDIENWOCHE. Es habe vom «Bund» nie explizite inhaltliche Vorgaben gegeben für das Kulturblog, aber der Erscheinungsort auf der Website der Zeitung verpflichtet für Feuz «selbstredend zu einer minimalen Loyalität gegenüber dem Verlag».
Gelöschte Artikel und Streit – Anzeichen für eine Kampfscheidung, aber beide Seiten haben keine Lust auf einen Rosenkrieg: Feuz fasst die Zusammenarbeit gegenüber der MEDIENWOCHE als «insgesamt gut» zusammen. Der «Bund» arbeite an einem Nachfolgeprojekt. «Blogs pflegen wir weiterhin mit Freude», so Feuz. Blogs im Rahmen der Online-Auftritte von Tageszeitungen sind für das Team beim «Bund» kein Auslaufmodell. Nach dem Wegzug von «Kultur statt Bern» verbleibt auf der Website das Fussballblog «Zum Runden Leder», das seit bald 15 Jahren die berühmten Young Boys mit einer dem Gegenstand angemessenen Mischung aus Satire und Ernsthaftigkeit begleitet. Zudem bleiben zahlreiche Tages-Anzeiger- und Tamedia-Blogs über die Website des «Bund» zugänglich.
Das Verhältnis zu den Fussball-Blogger*innen sei entspannt, sagt Feuz. Mit dem «Runden Leder» mache man gelegentlich auch gemeinsame Artikel. Das «Runde Leder» zeigt sich ebenso zufrieden. Chefblogger Christian Zingg, sonst Redaktor bei der Nachrichtenagentur SDA, beschreibt die gegenseitigen Vorteile gegenüber dem «Bund»: Sie seien in ein News-Portal eingebunden; andererseits generieren sie dem «Bund» nach eigenen Angaben viel Traffic. Nur Zingg beziehe ein Honorar; die anderen vier Beteiligten arbeiten auf eigenen Wunsch hin gratis. Aber auch er leiste viel Freiwilligenarbeit.
Die Texte, die zu Unfrieden geführt haben, schrieben sie, weil sie die Ideen hatten und sie sich keine Grenzen setzen.
Auch das KSB-Team will keine Konfrontationen mit dem «Bund», sondern die Arbeit am neuen Projekt vorantreiben. «Es ging uns nie ums Dräckele, wir wollten einen Schnitt machen, ganz ohne Häme», sagt Urs Rihs im verrauchten Billardzimmer. Man glaubt ihm das; man glaubt es allen dreien. Sie wirken nicht wie eine provokationsgeile Kommunikationsguerilla. Die Texte, die zu Unfrieden geführt haben, schrieben sie, weil sie die Ideen hatten und sie sich keine Grenzen setzen. Die Reaktionen, die sie auslösten, konnten sie wohl nicht in gleichem Mass abschätzen wie jemand, der den Redaktionsalltag kennt. Es liegen Welten zwischen dem Trio im Billardzimmer und den Angestellten von Tamedia: Das KSB-Team erwartet (noch) nicht, von seiner Arbeit leben zu können. Sie schreiben über Dinge, die sie erleben, über die sie nachdenken oder die sie für relevant halten. Pflichtstoffe und den Druck, täglich eine Zeitung zu füllen, kennen sie nicht.
Verrisse werde man auf dem neuen KSB wenige lesen, beteuern die drei. Nabelschau sei nicht das Ziel, sondern vor Ort zu sein. «Hingehen statt Wegsparen» – wenn auch vorerst «für lau». Sie planen fixe Rubriken, in deren Rahmen zwei bis drei Mal pro Woche Texte erscheinen. Kombiniert mir längeren Texten, wollen sie dann die gesellschaftlichen Debatten lostreten. Oder sich zumindest in Debatten einmischen. Schwab fasst das Konzept sehr offen: «Man schaut auf Bern, geht vom Kulturellen aus und stellt halt die Fragen, die sich in dem kleinen Bern stellen lassen. Diskussionen über Kulturgelder oder wem der öffentliche Raum gehört. Alles Fragen, die sich im Kulturellen niederschlagen – und natürlich wollen wir daneben auch das Kulturleben noch irgendwie beobachten.» – «Aber ohne Hierarchien! Mehr Struktur heisst nicht mehr Hierarchien», wirft Jurassica ein.
Mit den KSBler*innen im Billiardzimmer erlebt man publizistische Begeisterung im Setzlingsstadium. Das Abenteuer hat erst begonnen. Nur der (abwesende) Mitblogger Roland Fischer sei ein klassischer Journalist. Ob sich die Anwesenden als Journalist*innen sehen? Die Frage führt zu Fragezeichen. «Ich würde es mir nie anmassen diese Selbstbezeichnung zu wählen. Relevanz: natürlich, Aktualität auch, aber über allem steht das Lustprinzip», sagt Rihs. Schwab dann: «Wir eignen uns jetzt in der Praxis die Fähigkeiten an, die wir brauchen.» Nochmals die «Büez»! Diese jungen Menschen wollen was tun. Na dann: An die Arbeit. Am 11. Februar soll es losgehen.