Bloggen wieder cool: «Medium» is the message
In der Fehde zwischen Amazon-Gründer Jeff Bezos und dem Boulevard-Blatt «National Enquirer» stand unerwartet die Blogging-Plattform «Medium» im Zentrum der Aufmerksamkeit; Bezos schrieb dort einen scharfen Gegenangriff. Bezos ist nicht der erste Promi, der auf «Medium» publiziert. Die immer wieder totgesagten Blogs erleben auf der 2012 gegründeten Plattform ein Revival.
In den USA spielt gerade eine Schmierentheater der besonderen Art: Jeff Bezos, der Gründer und Chef von Amazon, wirft dem Boulevard-Blatt «National Enquirer» vor, ihn mit der Veröffentlichung intimer Fotos erpresst zu haben.
Das Blatt hatte im Januar pikante Details über die Scheidung von Jeff Bezos und seiner Frau MacKenzie Bezos veröffentlicht. Auf zwölf Seiten druckte die Zeitung Fotos von ihm und seiner Geliebten Lauren Sanchez ab, garniert mit Textnachrichten, welche die beiden ausgetauscht haben sollen.
Der Amazon-Chef, der in der öffentlichen Ausschlachtung seines Privatlebens eine Verschwörung wittert, beauftragte seinen langjährigen Vertrauten und Anwalt Gavin de Becker, den Fall juristisch zu klären und das Leck aufzudecken, durch das die Informationen an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Es wird vermutet, dass Michael Sanchez, der Bruder von Lauren Sanchez, ein glühender Trump-Verehrer, die brisanten Informationen durchgesteckt haben könnte. Die Schmutzkampagne, so der Verdacht der Bezos-Verteidiger, könnte politisch motiviert sein. Beweise dafür gibt es aber nicht.
In einem an «Enquirer»-Verlagschef David Pecker adressierten Brief, den er auf der Blogging-Plattform «Medium» publizierte, erhebt der Amazon-Gründer schwere Vorwürfe: Der «National Enquirer» habe mit der Veröffentlichung weiterer Fotos und Textnachrichten von ihm gedroht, sollte er die Untersuchungen gegen das Blatt nicht einstellen. Bezos veröffentlichte in dem Blogpost eine E-Mail-Korrespondenz, die belegen soll, dass das Boulevard-Blatt weiteres kompromittierendes Material in der Hinterhand hat – unter anderem ein Selfie, das Bezos mit Ehering nackt im Bad zeigt. Das Blatt dementierte die Vorwürfe.
Im Gegensatz zur «Washington Post», die Bezos gehört und von US-Präsident Donald Trump als «Amazon Washington Post» denunziert wird, ist «Medium» über den Verdacht der Parteilichkeit erhaben.
Den Publikationsort hat Bezos mit Bedacht gewählt: «Medium» ist eine offene Plattform, auf der Politiker, Aktivisten, Wissenschaftler, Journalisten, aber auch Privatpersonen publizieren können. Und im Gegensatz zur «Washington Post», die Bezos gehört und von US-Präsident Donald Trump als «Amazon Washington Post» denunziert wird, ist «Medium» über den Verdacht der Parteilichkeit erhaben. Bezos hat diesen Interessenkonflikt in seinem Eintrag thematisiert: Die Eigentümerschaft des Traditionsblatts «verkompliziere» die Angelegenheit für ihn.
Dass der Amazon-Chef sein «J’accuse» ,auf «Medium» publizierte, hat aber noch einen anderen Grund: Die Plattform hat in den vergangenen Jahren an Relevanz als Portal für Pressemeldungen gewonnen. 2016 gab Mitt Romney via «Medium» bekannt, dass er nicht für die Präsidentschaftswahl 2016 antreten werde. Und das Weisse Haus publizierte dort das gesamte Budget von Präsident Obama. Wenn sich nun auch Bezos via «Medium» an die Öffentlichkeit wendet, folgt das einer gewissen Logik.
Die Plattform erzielt mit 90 Millionen Lesern im Monat ungefähr dieselbe Reichweite wie die «New York Times» – und das mit lediglich 100 Mitarbeitern. Auch der Output ist unwesentlich höher: Jeden Tag erscheinen auf der Plattform 20’000 Artikel, in den Archiven lagern 20 Millionen Storys, die in sechseinhalb Jahren auf medium.com veröffentlicht wurden.
«Medium» ist bekannt dafür, die Lesedauer für seine Beiträge anzugeben. Interessanterweise sind es die längeren Beiträge, die von den Lesern gerne gelesen werden.
«Medium» wurde 2012 von Twitter-Mitgründer Evan Williams als eine Longform-Ergänzung zum Kurznachrichtendienst gegründet. Das Prinzip ist einfach: Man meldet sich mit seiner E-Mail-Adresse oder einem Social-Media-Account an und kann dann Beiträge in einem simplen Redaktionssystem erfassen und veröffentlichen. Das Spektrum reicht von Filmbesprechungen, politische Petitionen oder episch langen Wissenschaftsbeiträgen. «Medium» ist bekannt dafür, die Lesedauer für seine Beiträge anzugeben. Interessanterweise sind es die längeren Beiträge, die gut gelesen werden. So war vor ein paar Tagen ein knapp 10’000 Wörter umfassender Text über kognitive Therapiedauer einer der populärsten Blog-Beiträge. Lesedauer: 33 Minuten.
Was bei Facebook der «Like» ist, ist bei «Medium» der «Clap», ein Klatschen, mit dem Leser ihr Gefallen an einem Beitrag ausdrücken können. Die beliebtesten Artikel erscheinen auf der minimalistischen Startseite. Neben den klassischen Ressorts Politik, Gesundheit, Kultur und Technologie findet sich dort auch die Rubrik «Zweifel», in der sich interessante erkenntnistheoretische Stücke finden. Werbung gibt es keine, das Portal finanziert sich über Sponsored Content sowie Bezahl-Abos: Für fünf Dollar im Monat oder 50 Dollar im Jahr bekommen «Medium»-Mitglieder exklusiven Zugang zu Inhalten, unter anderem zu Artikeln von Medienpartnern wie «Bloomberg», «The Economist» oder «Financial Times», die dort hinter einer Bezahlschranke sind. Neben prominenten Autoren wie Dave Eggers, Hillary Clinton oder Tim O’Reilly bietet Medium auch unbekannten Wissenschaftlern eine Plattform, ihre Thesen an die Öffentlichkeit heranzutragen.
Das höchste Honorar, das je für einen Artikel ausbezahlt wurde, betrug bei «Medium» 2060 US-Dollar.
Die Plattform zahlt ihren Autoren in Abhängigkeit der Claps ein Honorar für ihre Artikel aus. Pro Clap gibt es zwischen einem Cent und fünf Dollar. Das höchste Honorar, das je für einen Artikel ausbezahlt wurde, betrug 2060 US-Dollar. Ein Beitrag über «evidenzbasierte Lügen» warf zum Beispiel 627 US-Dollar ab. Regelmässige Autoren kommen auf einen Monatsverdient von 500 bis 1500 Dollar. Das ist nicht viel, aber zumindest ein Beteiligungsmodell, das geistige Arbeit honoriert.
Evan Williams hat eine fundamental andere medienpolitische Haltung als sein Rivale Mark Zuckerberg. Während der Facebook-Gründer die presserechtliche Verantwortung seines Unternehmens abstreitet, reflektiert «Medium»-Gründer Williams durchaus selbstkritisch die Folgen der Aufmerksamkeitsökonomie. So sagte er im vergangenen Jahr auf der Technologiekonferenz Web Summit: «Wenn man ein System schafft, das Aufmerksamkeit belohnt, ist die einfachste Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bekommen, ein schlechter Akteur zu sein. Das liegt unserem medialen Ökosystem und unserem politischen System zugrunde, und es erodiert die Gesellschaft auf vielerlei Weise.» Das waren erstaunliche Worte für einen CEO, dessen Unternehmen mit behavioristischen Methoden und der Manipulation von Nutzerverhalten Millionen verdient. In einem Interview mit dem «Business Insider» sagte Williams zudem, er sei zeitweise süchtig nach Social Media gewesen und versuche nun Benachrichtigungen, so gut es geht, abzustellen. Der Twitter-Gründer bedauerte öffentlich die Rolle, die der Kurznachrichtendienst beim Aufstieg von Donald Trump gespielt hatte. Wenn Trump wegen Twitter Präsident wurde, dann tue es ihm leid. Williams versucht «Medium» als eine Bio-Variante zum Info-Fast-Food auf Twitter zu vermarkten.
Obwohl «Medium» bis heute 130 Millionen Dollar Risikokapital eingesammelt hat und mit 600 Millionen Dollar deutlich höher bewertet wird als etwa die «Washington Post» oder «Huffington Post», ist das Unternehmen noch immer nicht profitabel.
2017 geriet «Medium» in eine Krise: Publikationen wie «Backchannel», «The Awl», sowie «Pacific Standard», die den Blogging-Dienst als exklusive Verbreitungsplattform für ihre Inhalte nutzten, zogen sich zurück und liefen teilweise zur Konkurrenz von WordSmith über. 50 Mitarbeiter, gut ein Drittel der «Medium»-Belegschaft, mussten gehen, zwei Büros wurden geschlossen. Inzwischen hat sich die Plattform wieder etwas erholt. Obwohl «Medium» bis heute 130 Millionen Dollar Risikokapital eingesammelt hat und mit 600 Millionen Dollar deutlich höher bewertet wird als etwa die «Washington Post» oder «Huffington Post», ist das Unternehmen noch immer nicht profitabel. Williams hat daher eine Medienoffensive angekündigt. «Wir werden unsere Investments in Qualitätsinhalte im nächsten Jahr signifikant steigern», sagte er im vergangenen Jahr gegenüber «Bloomberg». Williams führte Übernahmegespräche mit dem «New York Magazine», die am Ende aber scheiterten. Das Magazin «Forbes» schrieb einmal über den Twitter- und Medium-Gründer: «Ev Williams ist der LeBron James des Online-Publishing. Er hat nicht immer die besten Mannschaftskollegen, aber er kann überall eine Meisterschaft holen.»
Mit Donald Trump auf Twitter und Jeff Bezos auf «Medium» hat Williams nun zwei Erzfeinde auf den von ihm gegründeten Plattformen. Ihre öffentlich ausgetragene Privatfehde bringt Aufmerksamkeit. Bezos‘ Blogbeitrag hat mittlerweile bereits 246’000 Claps – und ist schon jetzt die bisher zweiterfolgreichste Medium-Story aller Zeiten. Der Buchhändler als Erfolgsautor. Auf sein Autorenhonorar soll der reichste Mann der Welt derweil verzichtet haben.