von Benjamin von Wyl

«Alle meine heiklen Artikel werden im Ausland publiziert»

Der afghanische Investigativjournalist Hassan Hakimy (33) befindet sich momentan auf Europareise. Bei seinem Zwischenstopp in der Schweiz sprach die MEDIENWOCHE mit ihm über Medienfreiheit in Afghanistan, Drohungen gegen ihn und zu den Flüchtlingen aus seinem Heimatland in Europa.

Vier Mal pro Stunde fährt ein Postauto vorbei; nur selten will hier jemand aus- oder einsteigen. Im Luzerner Weiler, wo sich Hassan Hakimy auf seiner Europareise für ein paar Tage bei einem ehemaligen Arbeitskollegen erholt, ist es still.

Das Landleben kennt Hassan Hakimy. Aber dort, wo Hakimy sonst arbeitet, gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Der afghanische Investigativjournalist und Menschenrechtsaktivist wirkt schon sein ganzes Berufsleben lang in Ghor. Die afghanische Provinz ist fast so gross wie die Schweiz, wird aber von nur gut 700’000 Menschen bewohnt.

Innerhalb von Afghanistan gilt Ghor als strukturschwach. Hakimy arbeitet seit 14 Jahren als Journalist für lokale, nationale und internationale Medien. Er recherchiert und schreibt zu Themen wie Korruption, Vergewaltigung und Zwangsverheiratung von Kindern. Durch Europa reist Hakimy auch, weil er über die Situation und Erfahrungen seiner geflüchteten Landsleute berichten will.

MEDIENWOCHE:

Herr Hakimy, entschuldigen Sie die Frage, aber sie drängt sich auf nach der Lektüre Ihrer Recherchen, die auf Englisch erschienen sind: Warum sind Sie noch am Leben?

Hassan Hakimy:

Es gab viele Versuche, mich einzuschüchtern: von Drohungen bis Bomben. Gruppen haben mich auf der Strasse abgepasst – manche kamen als Überbringer von Morddrohungen, manche Männer sprachen sie selbst aus. Taliban, Daesh, auch gewisse Offizielle schickten Leute. Drei Mal war ich für kurze Zeit im Gefängnis.

MEDIENWOCHE:

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, den Job zu wechseln?

Hassan Hakimy:

Nie! Ich mag meine Arbeit. Und sie ist wichtig. Ich mag es, zu recherchieren, bei jeder einzelnen Geschichte. Und die Leute mögen es. Ich zehre von der Energie, etwas zu tun, das meinem Land und seiner Bevölkerung hilft. Die Bevölkerung verdient jemanden, der recherchiert, warum etwas ist, wie es ist: Was ist passiert? Wie ist es passiert? Was genau führte zur aktuellen Situation? Weshalb gehen die Kinder in manchen ländlichen Regionen von Ghor beispielsweise nicht zur Schule?

MEDIENWOCHE:

Sie sprechen eine Ihrer mehrmonatigen Recherchen an. Welche Ihrer Veröffentlichungen hat am meisten ausgelöst?

Hassan Hakimy:

In Afghanistan haben wir viele Probleme, aber wenn ein Thema sauber dokumentiert ist, löst man immer etwas aus. Nach der Recherche über die Geisterschulen in Ghor sind Politiker und Beamte zurückgetreten. Viele echte Schulen nahmen den Betrieb auf und Kinder, die davor nicht oder bloss wenige Tage pro Monat zur Schule gegangen sind, besuchen sie heute regelmässig. Auch meine Aufarbeitung einer Vergewaltigung hat zur Inhaftierung und Verurteilung der Täter geführt.

MEDIENWOCHE:

Sie recherchieren zu sehr heiklen Themen und trotzdem bringen Sie Leute dazu, sich mit Namen in Ihren Artikeln zitieren zu lassen. Wie erlangen Sie das Vertrauen dieser Leute?

Hassan Hakimy:

Es ist die Sache des Journalisten, so mit Leuten zu sprechen, dass sie ihm vertrauen. Aber ich muss ehrlich sein: Sobald ich meinen Namen sage, wissen die Leute in Ghor bereits, wer ich bin.

MEDIENWOCHE:

In einem Porträt über Sie habe ich gelesen, dass selbst der Provinzgouverneur seinen Angestellten im Witz gedroht hat: «Arbeitet sauber, sonst erzähle ich’s dem Hakimy!»

Hassan Hakimy:

Genau, alle kennen mich. Meist wissen sie nicht genau, für wen ich arbeite oder welche Werte ich vertrete, aber sie wissen, dass sie mir vertrauen können, dass mein Antrieb aufrichtig ist – und dass ich das, was sie umtreibt, öffentlich machen werde.

MEDIENWOCHE:

Sie haben bereits geschildert, wie Sie mit Drohungen und Mordversuchen leben lernen mussten. Haben Ihre Gesprächspartner keine Angst, mit Ihnen zu sprechen?

Hassan Hakimy:

Viele wollen nicht on-the-record sprechen, manche aber schon. Ein Teil derjenigen, die sich namentlich zitieren lassen, setzt sich so schon einem Risiko aus. Es kommt aufs Thema an: Verfehlungen von Regierungspersonen und Korruption sind am heikelsten. Da ist es wirklich gefährlich. Wenn mich ein in der Kritik stehender Politiker fragt, woher ich Dokumente oder Informationen habe, sage ich immer so naiv wie möglich: «Ich habe sie einfach gefunden.» Nur gegenüber dem Gericht in Kabul muss ich Auskunft geben. Gewisse Fragen stellt mir der Richter dann aber bewusst nicht. Weil er weiss, dass er mich oder andere in Gefahr bringen könnte.

MEDIENWOCHE:

Sie arbeiten bis heute sowohl für afghanische Medien als auch für das Institute for War and Peace Reporting IWPR. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?

Hassan Hakimy:

Angefangen habe ich bei einem Lokalradio in Ghor, bis 2011 war ich dann Redaktor bei der Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News. Das IWPR, das Pajhwok ursprünglich gegründet hat, lud mich zu einem Recherchetraining ein – und beim IWPR habe ich alles gelernt, was ich heute anwende.

MEDIENWOCHE:

Sie recherchieren bis zu sechs Monate an einer einzelnen Geschichte. Wie entscheiden Sie, in welches Thema Sie sich für eine solche Dauer reinknien?

Hassan Hakimy:

Das passiert Schritt für Schritt. Ich stelle mir regelmässig die Frage: Was ist jetzt wichtig? Wenn ich dann wirklich von einem Thema gefangen bin, arbeite ich fast rund um die Uhr und vergesse zu essen. Einmal kam ich drei Wochen lang nicht zum Duschen und Kleiderwechseln, gegessen habe ich in der Zeit höchstens einmal pro Tag.

MEDIENWOCHE:

Wie geht es Ihnen denn hinterher, wenn eine Recherche abgeschlossen ist?

Hassan Hakimy:

Oh – dann fühle ich mich gut. Ich fahre in mein Dorf nach Ghor, wo meine Familie lebt. Mein Haus dort hat einen grossen Garten, wo ich die Tage damit zubringe, mit meinen Kindern zu spielen und das Leben zu geniessen.

MEDIENWOCHE:

Nach allem, was Sie bisher erzählten, hätte ich nicht gedacht, dass Sie Kinder haben.

Hassan Hakimy:

Doch, doch. Damit ihnen nichts zustösst, bin ich nach Kabul gezogen – alleine. Sie leben mit ihrer Mutter in meinem Dorf.

MEDIENWOCHE:

Sie sind ja nicht bloss Journalist, sondern auch Menschenrechtsaktivist mit Fokus auf Frauen- und Kinderrechte. Gibt es Kreise, die kritisieren, dass Sie als Journalist und Menschenrechtsaktivist gleichzeitig wirken?

Hassan Hakimy:

Manche Geistliche betreiben in der Moschee Propaganda gegen mich. Ihnen sind Menschenrechte nicht bloss zuwider, weil Frauen- und Kinderrechte Teil davon sind, sondern auch, weil eine Durchsetzung der Menschenrechte tatsächliche Demokratie bedeuten und bedingen würde. Deshalb reden sie in ihren Moscheen gegen mich an. Einer schreibt auch auf Facebook Verleumdungen: Ich sei Alkoholiker und so weiter. Kürzlich postete er über meine jetzige Europa-Reise: Ich sei nach Europa gereist, auf einen ungläubigen Kontinent – ob das denn keinen schlechten Einfluss auf mich habe? Ich bin in den Niederlanden in eine Moschee und hab mich dort gefilmt: «Hier gibt’s auch Moscheen, keine Sorge.» Diesen Leuten muss ich beweisen, dass ich tatsächlich Muslim bin.

MEDIENWOCHE:

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Afghanistan?

Hassan Hakimy:

17 Journalisten haben die Taliban vergangenes Jahr umgebracht. Die Korruption bleibt ein grosses Problem; Drogen ebenso. Es gibt ernsthafte Spannungen zwischen den politischen Lagern. Was soll ich sagen? Nicht sehr gut – das ist meine Einschätzung.

MEDIENWOCHE:

Weshalb bleiben Sie dann nicht einfach in Europa?

Hassan Hakimy:

Wenn ich in Afghanistan bin, habe ich konstant Angst: Vielleicht sterbe ich jetzt; vielleicht bringt mich in einer Stunde jemand um. Aber diese Angst schwindet, wenn ich daran denke, dass mich die Bevölkerung braucht. Es ist wichtig, gebraucht zu werden. Darum will ich zurück. Darum kam es mir noch nie in den Sinn, in Europa zu bleiben.

MEDIENWOCHE:

Sie nahmen an einer Konferenz in Den Haag teil und reisen seither durch verschiedene Länder. Was ist Ihr Eindruck von Europa?

Hassan Hakimy:

Wissen Sie, ich war schon einmal mehr als einen Monat in den USA, war in Japan, in Indien. Von Europa kannte ich bisher bloss die Stadt London, aber trotzdem war mir die europäische Realität nicht komplett neu. Was mich aber schon beeindruckt, besonders in den Niederlanden, wo ich am meisten Einblick bekommen habe: Journalistinnen und Journalisten können hier unabhängig arbeiten. Es gibt keine Mächtigen, die den Daumen heben oder senken. In Afghanistan gehört es schon fast zur Tradition, dass Mächtige sagen, welche Passagen gelöscht werden sollen. Oder dass sie verhindern, dass Artikel überhaupt erst erscheinen. In den Niederlanden gibt es keine Regierung und keine Taliban, die den Zeitungen ihre Berichte und Positionen diktieren.

MEDIENWOCHE:

Wenn die Regierung interveniert, werden in der afghanischen Berichterstattung Dinge geändert?

Hassan Hakimy:

Oft. Eigentlich immer, wenn jemand über Korruption berichtet. Auch mich wollten sie nach einer langen Korruptionsrecherche an der Publikation hindern.

MEDIENWOCHE:

Und haben Sie Ihre Recherche deren Willen angepasst?

Hassan Hakimy:

Ich habe nichts geändert – nie! Sonst hätte ich ein ruhigeres Leben.

MEDIENWOCHE:

Aber auch wenn Sie selbst keine Angst von den Mächtigen haben: Ihre Chefs ja vielleicht schon. Also wieso finden Sie überhaupt noch jemanden, der Ihre Berichte veröffentlicht?

Hassan Hakimy:

Das IWPR-Büro ist zum Glück in London. Die fürchten nichts, die sind nicht in Afghanistan. Nur ich bin in Afghanistan. Alle meine heiklen Artikel werden im Ausland publiziert.

MEDIENWOCHE:

Sie sind nicht bloss wegen der Konferenz, sondern auch deshalb in Europa, weil Sie sich für die Situation von Asylsuchenden und aus Afghanistan Geflüchteten interessieren.

Hassan Hakimy:

Genau. Ich konnte bisher mit Geflüchteten in den Niederlanden, Dänemark, Deutschland und der Schweiz sprechen. Hier in der Schweiz traf ich am Ufer des Vierwaldstättersees in Luzern viele aus Afghanistan Geflüchtete. Jetzt kenne ich ihre Situation.

MEDIENWOCHE:

Und wie schätzen Sie ihre Situation ein?

Hassan Hakimy:

Die ersten, mit denen ich gesprochen habe, sagten, sie seien schon fast vier Jahre in Europa und warteten noch immer auf den Abschluss ihres Asylverfahrens. Das schmerzt mich, ebenso wie die Einsamkeit, die sie mir beschreiben. Wenn ich zurück in Afghanistan bin, werde ich darüber berichten.

MEDIENWOCHE:

Was werden Sie schreiben?

Hassan Hakimy:

Ich werde die mir geschilderten Berichte über die Gefahren unterwegs – auf der Balkanroute, bei der Überfahrt des Mittelmeers, in der Türkei – verarbeiten. Ihre Erinnerungen an diejenigen, die auf der Flucht gestorben sind. Ausserdem habe ich auch viele kennengelernt, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Das ist eine ganz andere Thematik, über die ich ebenfalls schreiben werde.

MEDIENWOCHE:

Ist die afghanische Öffentlichkeit über diese Themen informiert?

Hassan Hakimy:

Kaum. Viele in Afghanistan haben zwar eine sehr allgemeine Vorstellung von der Situation auf der Flucht und in Europa. Bis jetzt waren aber noch keine afghanischen Reporter mit dem Auftrag zu berichten nach Europa geschickt worden. Ein Fernsehbericht bei einem landesweiten Sender würde dem afghanischen Volk die Hölle dieser Fluchtroute zeigen. Ich werde versuchen, die grossen Sender vom Thema zu überzeugen. Die Afghanen müssen erfahren, was hier passiert.

MEDIENWOCHE:

Sie reisen bald weiter in die Türkei, wo die Situation der Geflüchteten noch dramatischer ist. Berichten Sie darüber in Afghanistan, weil Sie denken, dass weniger Afghaninnen und Afghanen nach Europa flüchten sollten?

Hassan Hakimy:

Die afghanische Bevölkerung braucht einfach Informationen darüber, wie schwierig die Situation in Europa ist. Aber ich berichte auch, weil ich die afghanische Regierung in der Verantwortung sehe, sich für ihre in Not geratenen Bürgerinnen und Bürger einzusetzen. Wissen Sie, der Präsident und viele Minister wissen, wer ich bin; manchmal treffe ich mich mit Botschafts- und UNO-Vertreterinnen und -vertretern. Mein Eindrücke und Recherchen aus Europa werde ich nicht nur journalistisch verarbeiten. Ich werde auch einen Bericht zuhanden internationaler Menschenrechtsorganisationen verfassen.