von René Zeyer

Ringier darf eigene Artikel löschen

Der Ringier-Verlag liess 200 Artikel aus der Schweizerischen Mediendatenbank SMD löschen. In den Texten geht es um den Gegenstand eines laufenden Rechtsfalls. Der Presserat kritisiert die Löschaktion und wirft Ringier Geschichtsklitterung vor. Eine kühne und falsche Behauptung.

«Medienethik» ist das Geschäft des Presserats. Auf Beschwerde hin beurteilt der Presserat, ob Publikationen den Vorgaben des Pressekodex und der dazugehörigen Richtlinien entsprechen. Um sich ins Gespräch zu bringen, kommentieren die Medienethiker immer wieder ungefragt Vorgänge in den Medien.

Unter dem knackigen Titel «Ringier verfälscht historische Wahrheit» beschuldigt der Presserat das Medienunternehmen der Geschichtsfälschung. Anlass der presserätlichen Missfallensäusserung ist eine Löschaktion. Ringier hat rund 200 eigene Artikel aus dem Archiv der SMD (Schweizerische Mediendatenbank) löschen lassen. Die Artikel handeln im weitesten Sinne von der als «Zuger Sexaffäre» bekannten Geschichte aus dem Jahre 2014 und ihren Folgen. Die zu löschen, ist für den Presserat ein «willkürlicher Eingriff in die Archivfreiheit». Das klingt nach Skandal. Bloss gibt es gar keine «Archivfreiheit», noch weniger ist das eine «Freiheit», über die der Presserat gemäss seinen Statuten zu wachen hätte. Die Löschung, fährt der Presserat fort, «verfälscht das Bild dessen, was Schweizer Medien» publiziert hätten. Auch hier irrt er: Was die Schweizer Medien publiziert haben, ist weiterhin überall dort auffindbar, wo es abgespeichert ist. Wer die Artikel für eine journalistische Recherche oder die historische Forschung sucht, der findet sie. Einfach nicht mehr in der SMD, wo sie einer sehr breiten Nutzerschaft zur Verfügung standen.

Gestützt auf den Persönlichkeitsschutz haben die schweizerischen Gerichte in den letzten Jahren unzählige Artikel aus Medienarchiven verbannt.

Ein Archiv sollte möglichst vollständig sein, meint der Presserat. Da irrt er. Längst sind die Gerichte der Meinung, dass Archive gerade nicht vollständig sein dürfen. Gestützt auf den Persönlichkeitsschutz, den grössten Feind der Medienfreiheit und der wahrheitsgemässen Information, haben die schweizerischen Gerichte in den letzten Jahren unzählige Artikel aus Medienarchiven verbannt – nicht nur, aber auch aus der SMD. Die Datenbank bildet längst nicht mehr vollständig ab, was jemals publiziert wurde. Offenbar hat der Presserat vergessen, dass es ein «Recht auf Vergessen» gibt, das anders als die «Archivfreiheit» sogar in der Verfassung verankert ist.

Aber der Presserat geht noch weiter: Die SMD habe «die zentrale Aufgabe, die Gesamtheit der zu ihrem Sammelfeld gehörenden Objekte aufzubewahren». Nun, von dieser Aufgabe haben weder die Hauptbetroffene SMD noch ihre Aktionäre je gehört. Und keiner der Aktionäre hat die SMD bisher als Fundgrube für künftige Historiker betrachtet. Es ist sicher nicht Aufgabe der SMD, «zum wahrhaften historischen Gedächtnis» werden zu wollen. Dazu gibt es die Nationalbibliothek mit ihrem Sammelauftrag. Die SMD ist lediglich ein Arbeitsinstrument von Journalisten, die am Bildschirm recherchieren, indem sie suchen, was andere früher geschrieben haben. Mit historischer Forschung hat das nichts zu tun.

In der SMD findet nicht erst seit gestern ein «Unterdrücken von Artikeln» statt, sondern schon lange.

Es soll, meint der Presserat, «nur im absoluten Ausnahmefall» etwas gelöscht werden. Auch da würde man dem Presserat gerne zustimmen, aber der fromme Wunsch steht im Widerspruch zur brutalen Wirklichkeit: Die hält sich nicht an das, was die Medienethiker gerne hätten, sondern an ganz anderes. Dazu gehören Gerichtsurteile, die nicht nur «ausnahmsweise» ergehen, sondern mit schöner Regelmässigkeit. Und die sich nicht darum kümmern, was die Bedürfnisse der Journalisten, die Erwartungen an Archive oder die historische Wahrheit sind. Sie beurteilen publizierte Artikel unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeits- und Datenschutzes und kommen oft zur Auffassung, das Publizierte sei rechtswidrig und müsse beseitigt werden. In der SMD findet nicht erst seit gestern ein «Unterdrücken von Artikeln» statt, sondern schon lange. Bloss redet darüber niemand, weil es keiner merkt.

Im Falle der sogenannten «Zuger Sexaffäre» gibt es in der SMD noch genügend Material, bloss nicht mehr von Ringier. Ringier ist Eigentümer seiner Artikel und kann damit machen, was er will. Ringier ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern ein kommerzielles Unternehmen, gleich wie übrigens die SMD. Als Unternehmen steht man nicht nur im Wettbewerb, sondern man sieht sich auch Risiken ausgesetzt. Ein solches Risiko heisst «Gewinnherausgabe».

Ein Medienunternehmen kann verpflichtet werden, den Gewinn aus rechtswidrigen Publikationen dem Verletzten herauszugeben. Gesetzgeber und Gerichtspraxis gehen davon aus, dass es möglich sei, mit der Verbreitung von Artikeln Geld zu verdienen – auch solchen, die man im Nachhinein als persönlichkeitsverletzend oder widerrechtlich erachtet. So ungefähr steht es auch seit 1985 im Gesetz.

Kein Medienunternehmen ist für die Geschichtsschreibung zuständig. Bestenfalls für einen ersten Entwurf der Geschichte.

Dazu kommt eine Gerichtspraxis, die plötzlich das Thema «Gewinnherausgabe» entdeckt hat. Ringier sieht sich der realen Gefahr ausgesetzt, eines Tages einen «Gewinn» an Jolanda Spiess-Hegglin auszahlen zu müssen, den die früher publizierten Artikel zur «Zuger Sexaffäre» eingebracht haben. Egal, ob es diesen Gewinn gibt oder nicht, egal, wie man ihn berechnet oder auch nur erfindet.

Statt Ringier zu beschimpfen und der Geschichtsfälschung zu bezichtigen, sollte der Presserat lieber kritisch darüber nachdenken, welche Folgen der ausufernde Persönlichkeitsschutz hat. Auch wirtschaftliche. Und je höher künftige Kläger den Ball werfen, desto eher werden sie bei den betroffenen Medienunternehmen Reaktionen auslösen. Denn kein Medienunternehmen ist für die Geschichtsschreibung zuständig. Bestenfalls für einen ersten Entwurf der Geschichte.

Leserbeiträge

Max Trossmann 18. April 2019, 20:41

René Zeyer ist sicher der berufenste Fürsprecher von Ringiers unternehmerischen Interessen. Und berufen, für den Journalistenkodex einzustehen. So wie er sich für Jean-Claude Bastos ins Zeug legt. Oder für Raiffeisen. Und sich anderntags als PR-Profi andient.

Zeyer spreche ich als Autor jede Glaubwürdigkeit ab.

Basta

Max Trossmann, Historiker und Publizist

Vizepräsident Schweizer Presserat

 

Caroline Tschudi 19. April 2019, 09:14

Herr Trossmann, haben Sie etwas zum Thema zu sagen – oder nichts? Nur das würde die Leser interessieren.

René Zeyer 19. April 2019, 10:37

Ich habe mir gestattet, gegen Herrn Trossmann beim Presserat Beschwerde einzureichen. Schliesslich äussert er sich zwar völlig unsachlich und ohne Bezug auf den Inhalt, aber in dessen Namen. Dabei verstösst er gegen Erklärung 7 (Unterlassen nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) und Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen). Und, aber das ist nicht sanktionierbar, bestätigt aufs Beste den Inhalt meines Artikels.

Hans-Dieter Amstutz 21. April 2019, 08:42

Herr Zeyer schreibt:

Es ist sicher nicht Aufgabe der SMD, «zum wahrhaften historischen Gedächtnis» werden zu wollen. Dazu gibt es die Nationalbibliothek mit ihrem Sammelauftrag.

Da hat er wohl recht. Allerdings kann die Schweizerische Nationalbibliothek lediglich im Print-Bereich umfassend sammeln. Elektronische Publikationen sammelt sie nur in Auswahl. Dies unter anderem darum, weil es in der Schweiz kein nationales Pflichtexemplarsgesetz gibt.

Das heisst für Gedrucktes: Verlage überlassen der Nationalbibliothek freiwillig gratis ein Exemplar jedes Titels, oder sie muss dafür bezahlen. In der Praxis bekommt die Nationalbibliothek die meisten in der Schweiz erschienenen Bücher umsonst, dank der Zusammenarbeit mit den Verlagsverbänden. Für Zeitungen und Zeitschriften bezahlt sie dagegen oft.

Für Online-Publikationen bedeutet das Fehlen eines Pflichtexemplarsgesetzes: Ohne das Einverständnis der Rechteinhaber*innen darf die Nationalbibliothek die Inhalte nicht einmal speichern, geschweige denn zur Verfügung stellen. In e-helvetica Access, der relevanten Datenbank der Nationalbibliothek, finden sich denn auch die gelöschten Artikel nicht. Sofern sie auch gedruckt erschienen sind, findet man sie in den entsprechenden Zeitungsausgaben.

M.Kirchhofer 22. April 2019, 20:47

Ich vermisse den Einsatz gegen die Löschung der Weltwoche Artikel aus den Archiven („Der Professor und seine Geliebte“…). Oder war es hier das „falsche“ Medium, das Opfer der Geschichtsklitterung wurde?

In dieselbe Richtung geht das fehlende, einfühlsame Portrait der Republik über die mobbinghafte Entlassung von Prof. Dr. Mörgeli durch die Uni Zürich. Oder war hier die „falsche“ Person Opfer von Intrigen und Verleumdung?

Die kognitive Dissonanz muss schmerzhaft sein, dafür müsste man aber Kognition voraussetzen können.