von Ueli Custer

Wie ich 1994 die Medienzukunft voraussagte (und warum ich damit richtig lag)

Es kam so heraus, wie er es aufgeschrieben hatte: Der langjährige Medienbeobachter Ueli Custer verfasste vor 25 Jahren ein Editorial für das (inzwischen eingestellte) «Media Trend Journal». Custer beschrieb darin ziemlich präzise die Medienwelt, wie wir sie heute kennen. Ein Rückblick auf den Ausblick vom Sommer 1994.

Im Sommer 1994, vor genau 25 Jahren, feierte das «Media Trend Journal» MTJ sein zehnjähriges Bestehen. Das war zwar alles andere als ein biblisches Alter, aber Grund genug, eine umfangreiche Jubiläumsausgabe herauszugeben und damit gutes Geld zu verdienen. Denn von den 142 Seiten waren immerhin 64 oder 45 Prozent mit Anzeigen vollgepflastert. Inserenten waren zum Beispiel «Le Matin», die Publicitas, die «Züri Woche», «Cash», die Curti Medien Gruppe, die AWI Aussenwerbung oder «Radiotele». Wem diese Namen nichts sagen, der oder die gehört der jüngeren Generation an. Denn es sind nur Inserenten, die es heute nicht mehr gibt.

In diesen goldenen Zeiten der Printmedien hatte ich die Idee, eine Jubiläumsnummer unter dem Titel «Sind die die Massenmedien am Ende?» zu publizieren. Ein Titel, auf den die Branche nicht nur positiv reagierte. Einzelne Exponenten fühlten sich durch mein damaliges Editorial geradezu provoziert. Denn ich skizzierte in meinem jugendlichen Leichtsinn und frei von technischen Kenntnissen die Medienzukunft – und lag damit ziemlich richtig, wie sich heute zeigt.

Liebe Leserin, lieber Leser

«Sind die Massenmedien am Ende?» Zugegeben, eine solche Frage ist vor allem dann provokativ, wenn sie auf der Titelseite einer Publikation steht, die sich praktisch ausschliesslich mit Massenmedien befasst. Die Frage ist aber durchaus berechtigt, denn die technische Entwicklung im Bereich der Medien rast mit Riesenschritten in eine Medienzukunft, in der alle alles jederzeit und überhaupt von überallher und überallhin abrufen können. In der gegenwärtig heiss diskutieren und in dieser Sondernummer vorgestellten Medienzukunft kann ich mir also von einer Datenbank täglich (oder älter) alle neuen Informationen, die mich interessieren, in irgendeiner Form übermitteln lassen. Und ich kann jederzeit genau jenen Film aus einer «Filmdatenbank» abrufen, den ich gerade jetzt sehen will.

Da stellt sich tatsächlich die Frage, ob es denn in einer solchen Medienwelt noch irgendjemanden braucht, der die immer zahlreicheren «Informationen» (im weitesten Sinn) auswählt, zu Paketen zusammenschnürt und auf irgendeinem Weg dem Publikum zukommen lässt. Braucht es unter diesen Umständen also noch Journalisten, die nach ihrem Empfinden Informationen gewichten und zu Zeitungen oder Nachrichtensendungen zusammenstellen? Braucht es noch TV-Sender, die einzelne Programmbeiträge in einer möglichst attraktiven Abfolge aneinanderreihen?

Im ersten Moment scheint die Antwort klar zu sein: Nein, wozu auch! Vertieft man sich allerdings in die Materie, wird einem schnell bewusst, dass die Sache so einfach nicht ist. Denn es machen Fragen auf, die nur sehr schwer zu beantworten sind. Um welche Fragen es sich dabei handelt, wissen Sie, wenn Sie diese Sonderausgabe zum zehnjährigen Bestehen des «Media Trend Journals» gelesen haben. Welche aber die richtigen Antworten auf diese Fragen sind, werden Sie dann (vielleicht) in zehn Jahren in der Jubiläumsausgabe zum zwanzigjährigen Bestehen des «Media Trend Journals» lesen können. Woraus Sie durchaus schliessen dürfen, dass ich nicht davon ausgehe, dass es in zehn Jahren keine Massenmedien mehr gibt!

Zu beachten ist dabei, dass man damals zwar vom Internet sprach, aber kaum jemand wirklich wusste, was das ist und wie man damit umgeht. Seit 1990 gab es zwar schon erste Browser, die aber erst von einem kleinen Kreis von Insidern genutzt wurden. Der erste Browser, der eine grosse Verbreitung fand, kam erst am 15. Dezember 1994 auf den Markt. Er hiess Netscape 1.0 und wurde von Marc Andreessen entwickelt. 1995 gab es weltweit etwa 30 Millionen Internetnutzer, heute sind es über vier Milliarden.

Streaming war 1994 ein Fremdwort und wäre mit den damaligen Leitungskapazitäten gar nicht möglich gewesen.

Erst dank Netscape konnte theoretisch jedermann durch die weite Welt des Web brausen. Aber so einfach wie heute war das natürlich noch nicht. Denn es brauchte einen PC oder Mac, der sich mit dem Telefonnetz verbinden liess – was damals eher ungewöhnlich war. Und wenn man ins Internet wollte, musste man sich zuerst damit verbinden. Dazu benötigte man ein Modem, das sich dann mühsam einwählte. Und mit Filmen war es damals noch gar nix. Der Download eines Films hätte nicht Stunden, sondern Tage gedauert. Auch Streaming war 1994 ein Fremdwort und wäre mit den damaligen Leitungskapazitäten gar nicht möglich gewesen.

Aber warum konnte ich damals trotzdem eine digitale Welt skizzieren wie es sie heute gibt? Ganz einfach: Weil ich nichts von Technik verstand. Aber ich kam bereits in meiner allerersten MTJ-Nummer von Anfang 1988 zum Schluss, dass das technisch Mögliche früher oder später auch realisiert wird. Aufgrund dieser Überzeugung war es dann auch relativ einfach, die weitere Entwicklung vorauszusehen. Denn mit den vielen technischen Problemen, die bis zur Entwicklung der heute bekannten Online-Angebote gelöst werden mussten, brauchte ich mich ja nicht zu befassen. Ich konnte mich auf die grossen Züge fokussieren. Und darauf vertrauen, dass das technisch Mögliche irgendwann einmal auch umgesetzt sein wird. Und die Zeit hat mir recht gegeben.

Dabei war schon sehr früh klar, dass das Geschäftsmodell der Printmedien ernsthaft gefährdet sein würde.

Wieso haben die vielen Fachleute in den Medienhäusern diese Erkenntnis nicht auch gehabt oder warum haben sie sich nicht danach gerichtet? Ich glaube, das ist menschlich. Die Älteren haben wohl teilweise gedacht, dass dieser Kelch noch an ihnen vorübergehen würde. Nach dem Motto: «Damit sollen sich dann meine Nachfolger befassen.» Und auch die Jüngeren wollten teilweise nicht wahrhaben, was da auf sie zukommt. Sie ahnten wohl, dass da eine Lawine losgetreten würde, hofften aber, dass sie dann schon irgendwie verschont blieben. Dabei war schon sehr früh klar, dass das Geschäftsmodell der Printmedien ernsthaft gefährdet sein würde. Aber die Einnahmen sprudelten damals noch derart unverschämt, dass sich niemand vorstellen konnte oder wollte, dass es mehr als eine Delle geben würde – geschweige denn, dass innert knapp 20 Jahren glatte zwei Drittel der Werbeeinnahmen wegfallen würden.

Dabei gab es in unmittelbarer Nachbarschaft der Schweiz ein Vorbild, das sehr schön aufzeigte, wohin die Reise gehen kann, wenn man sich der Herausforderung stellt. Der junge Eugen A. Russ, Geschäftsführer und Chefredaktor der Vorarlberger Nachrichten, setzte bereits 1995 voll auf die Karte Internet, lancierte das regionale Internet-Portal vol.at und bot auch schon Breitband-Internet über Kabel-TV an. Und er teilte sein Wissen mit der Branche, auch mit seinen Kollegen aus der Schweiz. Dabei zeigte er sehr plastisch auf, wie alt ein gedrucktes Kleininserat im Vergleich zu den Möglichkeiten im Internet aussah. Aber eben – niemand wollte das wirklich hören. Den Verlag gibt es immer noch, er heisst inzwischen Russmedia und feiert in diesen Tagen sein 100-jähriges Bestehen.

Die Verlage steckten den Kopf so lange in den Sand, bis andere Marktplayer unübersehbar gross wurden – und sie gezwungen waren, ihre neuen Konkurrenten für Unsummen zu übernehmen.

Warum also nahmen die Verleger in der Schweiz diese Herausforderung nicht an oder reagierten zu spät? Als ich einem Verlagsdirektor vorschlug, sich einen der damals vielen kleinen Internet-Provider anzuschnallen, meinte er nur, dass das nicht ihr Kerngeschäft sei. Genauso hielten es zunächst auch die andern Verleger. Sie steckten den Kopf so lange in den Sand, bis andere Marktplayer unübersehbar gross wurden – und sie gezwungen waren, ihre neuen Konkurrenten mit teilweise dreistelligen Millionenbeträgen zu übernehmen.

Sie wollten auch nicht sehen, dass die Medien als Informationsvermittler ihre Alleinstellung völlig verlieren werden. Bestes Beispiel dafür ist Donald Trump, der praktisch nur über Twitter kommuniziert und so die klassische Medien aushebeln kann. Und er kann sich deshalb auch leisten, die klassischen Medien zu beschimpfen.