«Wenn die Leute sich fragen, was der Bötschi jetzt wieder fragt, wird es spannend.»
So schreibe ich: Bruno Bötschi führt die «längsten Interviews der Schweiz». Als Fan gedruckter Zeitungen war es für ihn anfänglich nicht einfach bei Bluewin. Seit er für das News-Portal von Swisscom überlange Interviews führt, sieht er die Vorteile des unendlichen Platzes im Internet.
Bruno Bötschi:
Diese Anfrage hat mich überrascht
MEDIENWOCHE:
Warum denn?
Bruno Bötschi:
Ich schreibe ja keine grossen Reportagen.
MEDIENWOCHE:
Aber dafür grosse Interviews.
Bruno Bötschi:
Aber Interviews werden weniger geschätzt. In der Schweiz gibt es für Interviews noch nicht mal eine Auszeichnung.
So begann das Gespräch mit Bruno Bötschi, das auch als klassisches Interview funktionieren würde: Bötschis Sätze sind druckreif. Er achtet darauf, dass er nicht zu ausschweifend spricht. Er kümmert sich darum, dass der Rhythmus stimmt. Mit Bötschi kann man auf Autopilot sprechen.
Ich kann keine Repos schreiben. Wenn ich es versuche, will ich immer alles gleichzeitig beschreiben. Bei Interviews treibt mich die Neugierde auf einen Menschen an – und diese will ich den Lesern weitergeben. Das Ziel der «Bötschi fragt»-Interviews ist gute Unterhaltung, während der man jemanden kennenlernt. Natürlich lese ich News, dauernd! Aber darüber zu schreiben, würde mich langweilen. Mich interessieren Chruut und Rüebli – Menschen!
Bötschi ist seit 30 Jahren Journalist. Den Nachrichten ist er aber schon lange entkommen. Seit vier Jahren ist er Lifestyle/Reisen-Redaktor von Bluewin. Zuvor war er beim Gastromagazin «Salz & Pfeffer», gründete ein Zigarrenmagazin, war dann bis 2015 bei der «Schweizer Familie» vier Jahre als Ressortleiter «Reisen/Konsum». Parallel schrieb er von 2007 bis 2011 eine Klatschkolumne für das «Tagblatt der Stadt Zürich». Anfänglich war er bei der «Schweizer Familie» im Ressort «Reportagen/Menschen». Erstere muss er heute, anscheinend zum Glück, keine mehr schreiben.
Bei Bluewin kann sich Bötschi den Menschen widmen, «Persönlichkeiten», wie er sagt: Dani Levy, Stefanie Heinzmann, Bernhard Russi oder Hazel Brugger. Es sind Politikerinnen, Schauspieler, Satirikerinnen, Unternehmer. Bevor er sie trifft, erstellt er einen Fragenkatalog, der als Drehbuch für das ganze Gespräch standhalten muss. Bötschi nennt diese Interviews ein «Frage-Antwort-Spiel». Er stellt möglichst viele Fragen und hofft auf schnelle und spontane Antworten seines Gegenübers.
Für die Vorbereitung brauche ich mindestens einen Tag. Ich lese dreissig Jahre alte Interviews, schaue Filme, sichte alles. Meistens interviewe ich Leute, die bereits in der Öffentlichkeit stehen. Fast immer baue ich erst einen groben Rahmen aus allgemeinen Fragen und verwebe die biografisch fundierten dann in dieses Gerüst. Immer am Mittwoch habe ich Home Office. Dann starte ich am Morgen vor dem leeren Blatt. Ich bin dann echt hochkonzentriert und sauge mich fest – in den Unterlagen und dem Leben meines nächsten Gegenübers. Die Anzahl zähle ich nicht, es werden meist zwischen 80 und 120 Fragen. Habe ich vier Seiten Fragen, beginne ich rumzuschaufeln. Dann lese ich sie mit einem Tag Abstand ein weiteres Mal und hinterfrage Frage für Frage: Funktioniert der Übergang? Stimmt der Weg? Einen Weg hat es natürlich schon, aber dazu gehören auch Brüche. Wenn sich die Leute fragen, was der Bötschi jetzt wieder will, wird es spannend.
Dass man unser Gespräch abtippen, verdichten und als Interview bringen könnte, ist nicht mein, sondern sein Verdienst. Ich habe bloss Themen notiert, keine ausgeschriebenen Fragen. Bötschi hat als Befragter das Gespräch geführt, ohne aber die Rollen umzudrehen.
Wenn jemand zu lange redet, rede ich rein. Das muss ich auch, damit die Leute verstehen können, dass «Bötschi fragt» ein schnelles Format ist. Aber ich habe auch schon unterbrochen und in dem Moment gemerkt, dass es ein Fehler war. Moment verpasst.
Seit diesem Sommer interviewt Bötschi auch Leute vor der Fernsehkamera, für Teleclub Zoom. 1000 Fragen stellte er Frank Baumann; 1000 Fragen stellte er Marco Rima. Bötschi arbeitete als junger Mensch auf eine Karriere als Leichtathletik-Spitzensportler hin. Es scheint, als treibt ihn die Jagd nach Rekorden auch bei Interviews an. Es waren die «längsten Interviews, die in der Schweiz jemals geführt worden sind». Bald 80 normal-überlange «Bötschi fragt»-Interviews hat er auch schon geführt. Obwohl er meist Promis befragt, hält der ehemalige Klatschkolumnist von Journalistengetratsche und Branchenapéros nichts.
In meinem Umfeld habe ich sonst von der Kindergärtnerin bis zum Bankdirektor alles – Chruut und Rüebli! Aber zu Journalisten habe ich ausserhalb der Redaktion wenig Kontakt. Die, die auf Social Media mit mir befreundet sind, kenne ich nicht persönlich. Spiegeln lasse ich mich meist lieber von Leuten mit einem anderen Beruf.
Der verstorbene Interviewer André Müller, dessen nervöses Kichern vom Deutschlandfunk aufbewahrt ist, tastete das Gegenüber nach seinen Widersprüchen ab. Peer Teuwsen vermag es, das unterhaltsamste Interview mit einer Altertumswissenschaftlerin zu führen. Moritz von Uslar scheint, sowohl im Fragestil wie in der Auswahl seiner Gesprächspartner*innen, noch immer seine Jugendjahre in der deutschen Pop-Literatur zu verarbeiten. Für den Rekordjäger Bötschi sind die beiden letzteren der Masstab.
Peer Teuwsen ist unglaublich gut vorbereitet und kommt immer von ganz verschiedenen Seiten. Auch Moritz von Uslar finde ich toll. «Bötschi fragt» hat ja einen ähnlichen Aufbau wie dessen Interviews. Von Uslar verfolge ich auch schon seit 15 Jahren. Bei dem hat es auch mal gekracht, als Frank Castorf alles zurückgezogen hat. Oft stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn es bei mir Streit gäbe. Es wäre ja auch mal lustig, aber ich glaub, ich bin zu nett. Obwohl man aus manchen meiner Interviews eine Anspannung rauslesen kann.
«Wow. Viel phrasenhafter kann ein Mensch über Politik nicht reden. Gössi antwortet wie auf Knopfdruck. Liegt es an den Fragen?», schreibt Bötschi als Zwischenkommentar im Interview mit Petra Gössi. Aber der nette Herr Bötschi hat das nicht ausgesprochen. Man kann nachfühlen, wie der Interviewer zur Aussage kommt, aber trotzdem liest sich das Interview mit der FDP-Präsidentin passabel. Bötschi, der bei seiner Kandidatur für den Zürcher Gemeinderat mit einem ironischen Video aufgefallen ist, hat hohe Ansprüche an Originalität.
In letzter Zeit habe ich mehr Männer interviewt, aber insgesamt ist die Zahl ausgeglichen. Interviews mit Frauen fallen mir ein wenig schwerer, ich bin scheuer. Ohnehin bin ich ein scheuer Mensch. Ein Interview machen kann ich noch, aber eine Weile empfand ich es als Hürde, zum Coiffeur zu gehen, weil der so viele blödsinnige Fragen stellt.
Das Interview als Chance, um – in einem professionellen Rahmen – jemandem zu begegnen, obwohl das vielleicht der eigenen Persönlichkeit zuwiderläuft. Der Coiffeur ist ihm dabei wichtige Referenzfigur: Bötschi erwähnt ihn immer wieder. Etwa als er gesteht, dass er, der Redaktor beim Online-Pionier-Medium Bluewin, selbst Zeitungen und Magazine eigentlich nur gedruckt liest.
Die «Gala» las ich früher auch nur beim Coiffeur, aber mittlerweile gar nicht mehr. Ich habe Abos von «Zeit», «Edito», «Schweizer Journalist», «Reportagen», «Crime», «Tages-Anzeiger», «WOZ», seit 20 Jahren den «Spiegel». Die «Republik» habe ich auch abonniert, aber ich lese sie zu wenig. Ich bin nämlich ein totaler Zeitungs- und Magazinmensch. Der Wechsel in den Online-Journalismus war zu Beginn grauenvoll für mich. Aber «Bötschi fragt» passt ins Internet: Man darf auch mal länger werden.
Seine Interviews enthalten regelmässig Fragen, die an Willkürlichkeit nicht zu überbieten sind und deshalb wohl jeden interviewerfahrenen Promi überrumpeln. Das Überrumpeln bereitet ihm Freude; im Gegenzug presst Bötschi nicht immer weiter, wenn er eine spannende Antwort entlockt hat. Der Regisseur und Schauspieler Dani Levy erzählte Bötschi von seinem LSD-Trip. Der Interviewer geht nicht darauf ein, sondern stellt als nächstes eine Frage zur Filmbranche, als wäre nichts gewesen. Dafür fragte Bötschi fünf Mal nach Levys Frühstücks- und Morgenritualen.
Die Frage «Wann wachen Sie auf, wenn Sie keinen Wecker stellen?» wäre bei jedem spannend. Mit dieser Frage kann man testen, ob die interviewte Person wirklich aus dem Moment erzählt. Manche Fragen bringe ich immer wieder, zum Beispiel Entweder-oder-Fragen. Manchmal hake ich bewusst nicht nach, auch bei einsilbigen Antworten. Mit einem «Inglorious Bastards»-Schauspieler bin ich auch schon zweieinhalb Stunden in der Beiz sitzen geblieben für ein Interview. Das ist eine Chance, um ein Grundvertrauen herzustellen: Ich frage vielleicht Blödsinn, aber plane mit ihnen keinen Blödsinn. Zum Autorisieren schicke ich die Interviews immer nach dem Redigieren. Meine Ansage ist klar: Es gilt das gesprochene Wort, aber sie dürfen gegenlesen. Besonders von denen, die regelmässig mit der Presse zu tun haben, kann man erwarten, dass sie einen Moment innehalten, bevor sie etwas sagen, das sie eigentlich nicht wollten. Könnte man erwarten.
Ira Glass, Macher des stilbildenden Podcasts «This American Life», sagte einmal, dass er während den besten Interviews Liebe für die Interviewten empfinde. Es passiere selten, aber diese Interviews seien das Nonplusultra. Kennt der nette Herr Bötschi solche Gefühle?
Verliebtsein ist ein pathologischer Zustand. Wenn ich jemanden in Liebe interviewen würde, wäre ich blind. Das kommt nicht gut raus. Für ein Interview braucht man ein Interesse an den Interviewten, ob negativ oder positiv. Bei mir ist es häufiger positiv, aber meine Freunde werden die Interviewten ja trotzdem nicht. Wenn ich ihnen wiedermal begegne, ist es mir oft peinlich. Dann weiss ich noch nicht mal, ob ich sie grüssen will oder nicht. Ich muss eine Stimmung hinbekommen, das ist das Ziel. Es muss nicht mal eine positive Stimmung sein, es gibt auch sehr angespannte Situationen, die befördern, dass mir die interviewte Person möglichst viel – möglichst alles – erzählt.
Die ganze prägende und gestalterische Arbeit findet vor und während dem Gespräch statt. Das eigentliche Schreiben ist bloss Fleissarbeit.
Ich schreibe alles ab – und dann ist der Text fertig, zumindest im Idealfall. Von Hazel Brugger sind ihre 99 Antworten auf meine 99 Fragen komplett so erschienen. Andere sprechen weniger druckreif, schwadronieren ein bisschen. Da geschieht dann schon mehr Arbeit hinterher. Wenn du kein Konzept hast, hast du keine Chance, dass das funktioniert. Ist man vorbereitet, kann man ein Interview wirklich dirigieren, aber anders als ein Dirigent beginnt man damit schon vor dem Konzert.
Dirigent Bötschi spürt den Flow also, während er seinen Fragenkatalog erstellt – nicht wenn er gegen eine Deadline anschreibt. Aber natürlich muss, wer Interviews führt, wie es Bötschi tut, mental in der Situation präsent sein. Oft fürchtet er, dass die Zeit für sein Programm zu knapp ist.
«Wir kennen uns doch!», begrüsste mich Dani Levy. Ich verneinte. Dann haben wir uns gesetzt. Schon bei der zweiten Frage war mir klar, dass der unendlich reden wird. Manche «Bötschi fragt»-Interviews dauern 21 Minuten, andere 90 Minuten. Das Interview mit Stephanie Heinzmann dauerte wirklich nur 21 Minuten. Sind es weniger als 25 Minuten, bin ich extrem schnell im Abtippen. Dauern sie länger als eine Stunde, geht das Abtippen ewig. Am liebsten ist mir eine gute halbe Stunde, so bleibt ein gewisses Tempo gewährleistet. Levy redete und redete und ich war besorgt: Was mache ich, wenn die Sekretärin reinkommt und sagt «Fertig!»? Es hat dann perfekt gereicht: Mit der letzten Frage ist die Tür aufgegangen.
Meistens enden seine Artikel mit den Reaktionen auf Bötschis Hinweis, dass das Interview zu Ende ist. Manchmal sind diese Interview-Enden so gut, dass Bötschi sie zum Titel macht. Etwa bei Gülsha Adjili, die sagt «Es war schön. Ich höre mich gern reden.» Sind die Leute wirklich alle so selbstironisch?
Wenn die Antworten auf die letzte Frage nicht so auf den Punkt kommen, streiche ich sie. Manchmal funktioniert es, es ist nicht gezielt. Bei Gülsha war es genau der Satz. Ich muss den Schluss nicht zwingend haben. Ein Politiker im Bahnhofsrestaurant ist einmal direkt mit dem letzten Satz aufgestanden und gegangen. Selten spricht man noch lange, wenn es vorbei ist. Mit Hazel Brugger haben wir dann noch ein paar Minuten überbrückt, bis die abgemachte halbe Stunde voll war. Das war aber ein Gag und wurde Teil des Interviews.
Im Gespräch ist Bötschi immer wieder sprunghaft genug, dass der Fluss weiter angeregt wird, aber nie zu sprunghaft. Man kann ewig mit ihm sprechen, ohne Gründe für Stirnrunzeln. Bötschi unterhält, man unterhält sich gerne mit Bötschi. Es ist ein Pingpong-Spiel, bei dem das Gegenüber auch mal ein Auge zudrückt, wenn man den Aufschlag versäbelt.
Dass er, der nach eigener Aussage Smalltalk hasst, bei all dieser scheinbaren Leichtfertigkeit ein sehr ernsthafter Mensch ist, zeigt sich bei zwei Themen: 1. Wenn er mit Verachtung Rechtsextreme erwähnt (was er von sich aus mehrmals tut). 2. Wenn er – bei aller Distanzierung von der Journalistenszene – über Arbeitsbedingungen in der Branche spricht.
«Geht es auch in 25 Minuten?» begrüsste mich vor ein paar Jahren mal eine Presseverantwortliche. Zuvor haben wir uns mühselig auf 35 Minuten geeinigt. Da wäre ich fast davongelaufen, aber es war eine Fotografin dabei – eine Freelancerin. Wenn ich gegangen wäre, hätte sie ihren Auftrag verloren. Sonst hätte ich gesagt: «Es geht auch in 0 Minuten, einen schönen Tag. Adieu.»