Datenvisualisierung vom Publikum her denken
Infografiken und Datenvisualisierungen suggerieren grosse Glaubwürdigkeit und hohe Beweiskraft. Doch dem Publikum fehlen Kenntnis und Interesse für eine kritische Rezeption. Über Tücken und Chancen des visuellen Journalismus.
Wo hat welche Partei wie viele Stimmen erlangt – eine wichtige Information an einem Wahlsonntag, die heute zumeist in Form von Datenvisualisierungen bereitgestellt wird. Jede Gemeinde wird abgebildet, interaktive Darstellungsformen ermöglichen es ausserdem, die Grafiken aktiv und eigenständig zu durchsuchen, Ergebnisse zu vergleichen und zu interpretieren.
Solche Datenvisualisierungen versprechen Faktizität und Objektivität. Doch wie wertneutral können Diagramme und Karten tatsächlich sein? Braucht es eine Ethik der Datenvisualisierung? Und was bedeutet das für ihre Produktion und Nutzung?
In der Kommunikationswissenschaft werden solche Fragen bisher nur vereinzelt gestellt. Der Ruf nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Visualisierungspraktiken im Journalismus wird aber zugleich immer lauter (Weber, 2019), denn Datenvisualisierungen sind keineswegs neutrale Abbilder der Wirklichkeit. Im Gegenteil: Durch die Vorauswahl der Daten, die Art ihrer Darstellung und den spezifischen Einsatz von Interaktivität (wo kann ich klicken, sliden, zoomen?) legen Visualisierungen immer ein gewisses Deutungsmuster nahe. Sie sind somit nicht per se näher an der Realität als herkömmliche journalistische Formate, auch wenn sie valide (Roh-)daten zeigen.
Durch technische Möglichkeiten wie Interaktivität und Animation präsentieren sich Datenvisualisierungen als innovative Kommunikationsformate. Die visuelle Darstellung von Informationen ist aber keine Erfindung unserer Zeit. Diagramme gelten schon seit der Antike als «Idealform visueller Evidenz und Anschaulichkeit» (Ernst, Schneider & Wöpking, 2016), da sie augenblicklich sichtbar machen, was Texte umständlich erklären müssen. So genügt zum Beispiel ein kurzer Blick auf Ed Hawkins‘ sogenannte «Warming Stripes», um zu erkennen, wie sich die Temperaturen in der Schweiz in den letzten 170 Jahren verändert haben. Die Fähigkeit zu zeigen wird jedoch dann zum Nachteil, wenn es darum geht, «Nichts» zu zeigen. Um etwas zu negieren oder auch nur «Vielleicht» zu sagen, müssen Informationsdesigner*innen auf zusätzliche Elemente wie Durchstreichen, Schraffieren oder Ausgrauen zurückzugreifen, was wiederum erklärende Legenden erfordert.
Datenvisualisierungen schaffen ein Gefühl von Sachlichkeit, welches wiederum die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Information erhöht.
Während Diagramme in der Vergangenheit vorwiegend wissenschaftlichen Zwecken dienten und einem kleinen Fachkreis zugänglich waren, werden sie heute eingesetzt, um ein breites Publikum über die unterschiedlichsten Themen zu informieren. Trotz dieser Öffnung blieb die enge Verknüpfung mit der Wissenschaft bestehen. Wie eine Studie aus den USA (Tal & Wansink, 2016) zeigt, verweist die mathematisch-statistische Grundlage des Diagramms auf das Wissenschaftssystem, weshalb auch der Nachricht insgesamt Wissenschaftlichkeit zugesprochen wird. Wissenschaftlichkeit wiederum ist ein Indikator für die Richtigkeit der Information, wodurch Nachrichten mit Diagramm als vertrauenswürdiger bewertet werden als Nachrichten ohne Diagramm.
Anders gesagt: Die visuelle Darstellung von Daten impliziert eine Wissenschaftlichkeit, die unbewusst auf die restlichen Informationen übertragen wird. Diesen Effekt bezeichnet man als «halo effect of scientific validity». Indem Datenvisualisierungen abstrakte Informationen in eine übersichtliche, geometrische Form bringen, schaffen sie zudem eine Aura der Wahrhaftigkeit (Kennedy et al., 2016), also ein Gefühl von Sachlichkeit, welches wiederum die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Information erhöht.
Kommunikationswissenschaftliche Forschung aus Deutschland bestätigt diesen Zusammenhang. So wurde etwa ein Artikel zum Thema Terrorismus als ausgewogener, besser recherchiert und glaubwürdiger wahrgenommen, wenn er eine Datenvisualisierung enthielt (Bussemas, 2018). Dies ist bedeutend, denn Datenvisualisierungen sind immer Produkte ihrer Entwickler*innen. Welche Daten werden weggelassen, hervorgehoben oder mit weiterführenden Informationen versehen? All das unterliegt einem redaktionellen Entscheidungsprozess, der in der Auswahl einer möglichen Visualisierungsvariante endet. Die visuelle Aufbereitung von Daten ist somit rückgebunden an die Werte, Einstellungen und Interessen der Redaktion.
Vergleichbar mit einem textbasierten Kommentar können Journalist*innen Datenvisualisierungen bewusst einsetzen, um eine Meinung zu vertreten und Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Beispiel dafür ist eine Grafik von Simon Scarr («Iraq’s bloody toll», 2011), welche die Opferzahlen des Irakkriegs von 2003 bis 2011 als Balkendiagramm in Form einer nach unten rinnenden Blutlache zeigt. Aufgrund des Titels («Iraks blutiger Tribut»), der Ausrichtung der Balken und der roten Farbe wird die Datenvisualisierung zu einer bildlichen Metapher mit starker emotionaler Wirkung – die sich völlig verändert, wenn die Balken auf den Kopf gestellt und blau eingefärbt werden.
Oftmals werden Deutungsmuster aber weit weniger deutlich und vor allem weniger bewusst transportiert. Die «New York Times» beispielsweise bereitete Bevölkerungsdaten der USA in Form einer interaktiven Datenbank auf («Mapping America: Every city, every block», 2011). Die Nutzer*innen können selbst bestimmen, welche Bereiche des Datensatzes sie sich ansehen möchten, um Vergleiche zwischen Bevölkerungsgruppen oder Regionen anzustellen. Die ausgewählten Daten und Zusammenhänge werden jeweils als Kartengrafik dargestellt.
Eine wissenschaftliche Analyse des Projekts hat gezeigt, dass die Nutzer*innen zwar ihren eigenen Interessen selbstbestimmt folgen können, das Design aber so konzipiert ist, dass beim ersten Öffnen der Datenbank jeweils die regionale Verteilung ethnischer Gruppen erscheint. Durch diese Voreinstellung müssen die Nutzer*innen davon ausgehen, dass die ethnische Herkunft für die Interpretation der Daten wichtiger ist als andere Merkmale wie beispielsweise das Alter (Hullman & Diakopolous, 2011).
Im Datenjournalismus ist man sich sehr wohl bewusst, dass das Publikum den Visualisierungen nur Vertrauen schenkt, wenn der Prozess ihrer Entstehung möglichst nachvollziehbar ist.
Die Frage nach ethischen und normativen Aspekten im Kontext von Datenvisualisierungen erreicht die Kommunikationswissenschaft erst langsam. In der Praxis gibt es dafür bereits konkrete Ansätze. Laut einer Interviewstudie sind sich Datenjournalismus-Teams aus Redaktionen von Medien in Deutschland und der Schweiz sehr wohl bewusst, dass Datenvisualisierungen nur Vertrauen geschenkt wird, wenn der Prozess ihrer Entstehung möglichst nachvollziehbar ist. Die Angabe von Quellen, das Beschreiben der Recherche, Selektion und Aufbereitung von Daten, Lesebeispiele und der Zugang zu den Rohdaten erachten die Redaktionen als wichtige Instrumentarien zur Herstellung von Transparenz (Weber, 2019). Nutzungszahlen zeigen jedoch, dass jene Funktionen, die eine Einsicht in die Rohdaten erlauben würden, von nahezu niemandem aufgerufen werden. Auch das generelle Interesse, interaktive Visualisierungen im Detail zu erkunden, ist eher gering (Zwinger & Zeiller, 2016).
Der kritische Diskurs zu Datenvisualisierungen beschränkt sich somit nicht auf ihre Produktion respektive die Frage nach bewusst oder unbewusst transportierten Deutungsmustern. Auch die Nutzer*innen und ihre Kompetenzen müssen in den Blick genommen werden. Die «Data Visualization Literacy», also die Fähigkeit und Fertigkeit, Datenvisualisierungen zu lesen, zu verstehen und zu hinterfragen, ist in der Bevölkerung eher gering ausgeprägt. Neben Erfahrung, Vorwissen und Themeninteresse spielt dabei auch das Vertrauen in die eigene «Data Visualization Literacy» eine Rolle: Personen trauen sich die Rezeption einer Datenvisualisierung oft schlicht nicht zu, weshalb sie Nachrichten lieber als Text lesen, der Informationen bereits ausformuliert präsentiert (Börner et al., 2016; Dick, 2014).
Wenn Datenjournalist*innen und Infografiker*innen den Konstruktionsprozess offenlegen, schaffen sie damit zwar Transparenz und ermöglichen eine kritische Auseinandersetzung mit den präsentierten Informationen. Aus Sicht der Nutzer*innen ist dies jedoch mit (zu) hohen Anforderungen und Voraussetzungen verbunden. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Datenvisualisierungen sollte deshalb alle Ebenen des Produktions- und Rezeptionsprozesses einschliessen (D`Ignazio & Klein, 2016) – umso mehr in einer Zeit, in der wir zunehmend auf die visuelle Aufbereitung von Informationen angewiesen sind, um komplexe politische und soziale Phänomene nachvollziehen und einordnen zu können.