von Christian Bernhart

Gesundheitsexperte Locher: «Man muss unabhängig sein, um seine Meinung frei äussern zu können»

Suchen Schweizer Medien eine unabhängige Einschätzung zum Gesundheitswesen, dann steht ein Name zuvorderst in der Kartei: Heinz Locher. Im Interview mit der MEDIENWOCHE reflektiert der Gesundheitsökonom seine Rolle als viel gefragter Experte. Das Gesundheitswesen sieht er als «Blackbox der Nation». Den meisten Medien fehlten heute die Ressourcen, um den Überblick zu behalten und die Probleme einzuordnen.

MEDIENWOCHE:

Welchen Stellenwert haben Flaggschiff-Recherchen wie die «Implant-Files» mit Blick auf die übrige Berichterstattung zum Gesundheitswesen?

Heinz Locher:

Solche Recherchen zeigen, dass man mit genügend Ressourcen entsprechend tief graben kann. Sie schaffen einen Referenzwert und bilden damit einen Benchmark. Die Ressourcen dafür fehlen jedoch den meisten Medien heute.

MEDIENWOCHE:

Die Medien berichten vor allem über die immer weiter steigenden Kosten im Gesundheitswesen, kaum jedoch über die Qualitätskontrolle. Eine falsche Optik?

Heinz Locher:

Man fokussiert tatsächlich zu stark auf die Kosten. Was mich im Moment umtreibt und wütend macht, ist die Tatsache, dass entgegen dem Versprechen des Krankenversicherungsgesetzes faktisch nicht mehr alle Leute Zugang haben zum Versorgungssystem Gesundheit. Es betrifft die Leute, die sich auf der schwarzen Liste befinden, die eine zu hohe Franchise gewählt haben und deshalb nicht zum Hausarzt gehen oder deren Haushaltsbudget bis zu 15 Prozent durch die Prämien, Franchisen und Selbstbehalte belastet wird. Damit ist eine der grössten Stärken des Schweizer Gesundheitssystems, der Zugang für alle, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, heute gefährdet. Die Priorität in der Berichterstattung müsste darum anders lauten. Erstens: Zugang für alle. Zweitens: Patientensicherheit als unterste Stufe der Qualität. Denn wir haben in der Schweiz deswegen 2000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr. Im ambulanten Bereich fehlen Qualitätsdaten, weil man das bis heute erfolgreich verhindert hat. Das Projekt «Mars» des Bundesamtes für Statistik ist erst der Beginn der Qualitätsmessung im ambulanten Bereich, 23 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes. Dann erst kommt die Fragen nach den Kosten.

«Wenn jüngere oder weniger erfahrene Journalisten zum Zuge kommen, hat es auch einen Vorteil, weil sie die Sache oft aus einem neuen Blickwinkel anschauen, und das schätze ich.»

MEDIENWOCHE:

Das Gesundheitswesen hat einen Komplexitätsgrad erreicht, bei dem fast nur noch Experten durchblicken. Wie können sich Medien einen Durchblick verschaffen?

Heinz Locher:

Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird: Wie kann ich es richtig einordnen? Mir scheint, je komplexer etwas ist, desto mehr muss man sich fragen, was hier eigentlich abläuft. Das richtige Einordnen setzt voraus, dass man systemische und ordnungspolitische Kenntnisse sowie Positionen hat. Dies gilt besonders für Medien, die für sich in Anspruch nehmen, eine Meinung zu vertreten und Opinion Leaders zu sein. Sie sollten helfen einzuordnen.

MEDIENWOCHE:

Einordnen setzt ein breites Wissen voraus. Die grosse Personalfluktuation verhindert das.

Heinz Locher:

Es gibt immer wieder Wechsel, selbst bei SRF. Es braucht in der Tat pro Medienhaus eine oder zwei Führungspersonen, die ein Übersichtswissen haben. Wenn aber jüngere oder weniger erfahrene Journalisten zum Zuge kommen, hat es auch einen Vorteil, weil sie die Sache oft aus einem neuen Blickwinkel anschauen, und das schätze ich.

«Das Lobbying der Ärzte und der Pharma ist viel wirkungsvoller, aber halt weniger plakativ.»

MEDIENWOCHE:

In welchen Bereichen des Gesundheitswesens müssten die Medien hartnäckiger recherchieren? Gibt es blinde Flecken?

Heinz Locher:

Hinterfragt werden müsste die Machtstruktur, die dank Herrschaftswissen ausgeübt wird. Ich bin als Beirat bei Transparency International Schweiz tätig, einer Organisation, die Korruption bekämpft, namentlich das Ausnutzen von Wissen, das andere nicht haben können. So gesehen ist das Gesundheitswesen die Blackbox der Nation. Wir wissen, ich eingeschlossen, viel zu wenig, wie die Verästelungen im Gesundheitswesen verlaufen. Zum Beispiel sind die viel gescholtenen Krankenkassenlobbyisten zwar ein Übel, aber noch die harmlosesten. Das Lobbying der Ärzte und der Pharma ist viel wirkungsvoller, aber halt weniger plakativ. Man sollte diese Verbindungen aufzeigen können. Jetzt gibt es die parlamentarische Initiative für transparentes Lobbying im eidgenössischen Parlament und die Vorschläge dazu von Transparency International Schweiz, dass alle Eingaben und Gespräche im Rahmen eines Vernehmlassungsverfahrens offengelegt werden. Damit wäre ersichtlich. wer welchen Einfluss genommen hat. Diesen Vorschlag sollte man unterstützen, denn in diesem Bereich ist die Schweiz im Hintertreffen.

MEDIENWOCHE:

Sie waren von 1976 bis 1989 in der Berner Gesundheitsdirektion tätig. Wie kamen Sie in die Rolle des allseits gefragten Gesundheitsökonomen?

Heinz Locher:

Auslöser war eine Headhunter-Anfrage im Jahre 1988, als man an mich herantrug, die Leitung des Berner Sitzes der Schweizerischen Treuhandgesellschaft STG zu übernehmen. Da sagte ich mir, als Betriebswirtschafter muss ich auch mal den Schritt in die Privatwirtschaft wagen und habe die Anfrage positiv beantwortet. Schon bald nahm ich zusätzlich zum Sitz-Management auch die Leitung der Beratungsbereiche Gesundheit und öffentliche Verwaltung wahr. Dieser Markt entwickelte sich, und als erster Ökonom im Gesundheitswesen hatte ich deshalb über alle Bereiche einen Wissensvorsprung. Von meinen ehemaligen Kollegen wurde ich zwar ausgelacht, sie seien jetzt bei IBM in Paris, während ich mich für die Berner Regierung in Sumiswald mit Spitalfragen herumschlage. Ich wusste jedoch, dass dieser Markt kommt.

«Ich fragte die Medien auch schon, ob sie keinen anderen Experten hätten. Ich habe mich jetzt eigentlich von öffentlichen Auftritten weitgehend zurückgezogen.»

MEDIENWOCHE:

Sie sind in den Printmedien wie auch im Radio und Fernsehen regelmässig zu Fragen im Gesundheitswesen präsent. Sind sie immer erreichbar und bei allen Medien zuvorderst in der Kartei?

Heinz Locher:

Keine Ahnung, ich fragte die Medien auch schon, ob sie keinen anderen Experten hätten. Ich habe mich jetzt eigentlich von öffentlichen Auftritten weitgehend zurückgezogen. Nun hat Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, mit dem ich mich gut verstehe, fürs Fernsehen die Aufgabe übernommen. Einst war Willi Oggier sehr aktiv; er ist jetzt aber Präsident des Verbandes der Rehabilitationskliniken. Zu erwähnen ist auch, dass man unabhängig sein muss, damit man seine Meinung frei äussern kann.

MEDIENWOCHE:

Gehen Sie auch mal auf die Medien zu, falls Probleme des Gesundheitswesens ihnen unter ihren Nägeln brennen?

Heinz Locher:

Nein, das kam höchsten zwei oder drei Mal vor, wenn ich etwas Dringendes mitzuteilen hatte.

«Es gibt bei den Medien, auch bei den tagesaktuellen, zu wenig Leute mit breitem Wissen zum Gesundheitswesen.»

MEDIENWOCHE:

Wie schätzen Sie das Fachwissen der Medien zum Gesundheitswesen ein?

Heinz Locher:

Es gibt eben wenige, die drauskommen. Es stört mich zwar nicht unbedingt, wenn ein Journalist anruft und sagt, er sei dazu verknurrt worden, über dieses oder jenes grosse Spital zu schreiben. Es gibt dann für mich mehr zu tun, um Kenntnisse zu vermitteln oder seine Aussagen zu bearbeiten. Aber es ist auch spannend für mich, weil ich auch viel lerne, wie jemand es noch anders sehen kann und weil ich so nicht fachblind werde. Aber es gibt bei den Medien, auch bei den tagesaktuellen, zu wenig Leute mit breitem Wissen zum Gesundheitswesen, weil die Redaktionen sparen.

MEDIENWOCHE:

Teilen Sie Ihr Wissen lieber mit Zeitungen oder am Radio oder im Fernsehen? Wo wird ihnen genügend Zeit eingeräumt?

Heinz Locher:

Beim Radio habe ich etwas mehr Zeit, im letzten Interview räumte man mir vier Minuten ein. Beim Fernsehen bekomme ich 40 Sekunden, wenn es gut geht. Ich glaube, das «Echo der Zeit» und das «Rendez-vous» sind sicher die wirksamsten Orte von der Zuhörerzahl her. Ich bin häufig auch in den Regionaljournalen von Radio SRF in den verschiedenen Landesteilen zu Gast. Bei der Frage des Mediums kommt es darauf an, worum es geht. Für lokale Angelegenheiten sind Zeitungen sicher besser. Zur Entwicklung des Berner Tiefenauspitals habe ich zwei, drei Interviews dem «Bund» gegeben, die grosse Wirkungen zeitigten. Aber man darf das nicht unbedingt erwarten. Ich versuche manchmal, bestimmte Begriffe zu prägen, wie etwa «die Geiselnahme der Gesundheitspolitik durch die Regionalpolitik». Das St. Galler Tagblatt hat das dann einfach übernommen, was mich natürlich nicht stört. Ich mache sogar ein Spiel daraus, zu schauen, wann solche Begriffe wieder kommen.

MEDIENWOCHE:

In welchen Medien können Sie die Zusammenhänge im komplexen Gesundheitswesen besser durchbringen?

Heinz Locher:

Sicher sind die Zeitungen dazu am geeignetsten, aber es verlangt dann auch am meisten von den Medienschaffenden und den Lesenden.

«Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut es die Medienschaffenden verstehen, ein Gespräch zusammenzufassen. Man muss bei Interviews nur aufpassen, dass man nicht zum Dampfplauderi wird.»

MEDIENWOCHE:

Wie halten Sie es mit Autorisieren bei Interviews oder bei Statements?

Heinz Locher:

Ich mache praktisch nie grundsätzliche inhaltliche Korrekturen, bin aber pingelig bezüglich präziser Fachbegriffe, nicht selten auch in Stilfragen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut es die Medienschaffenden verstehen, ein Gespräch zusammenzufassen. Man muss bei Interviews nur aufpassen, dass man nicht zum Dampfplauderi wird.

MEDIENWOCHE:

Spitäler, Krankenkassen und andere Akteure im Gesundheitswesen bauen ihre Kommunikation immer weiter aus. Ist das nur Propaganda in eigener Sache oder finden sich auch Beiträge, welche die Medien ergänzen oder das kompensieren, was in den Medien unter den Tisch fällt?

Heinz Locher:

Dazu ein Beispiel: Die Massnahmen zu verbindlichen Kostenvorgaben, die der Bundesrat auf die Empfehlungen der von ihm eingesetzten Expertenkommission als Kostendämpfungsprogramm lanciert hat, ist vom Berufsverband der Schweizer Ärzte FMH vom allerersten Tag an wider besseren Wissens als «Globalbudget» apostrophiert und als Horror der Rationierung und weiss nicht was gebrandmarkt worden. SP-Parteipräsident Christian Levrat hat vor kurzem die Position des FMH eins zu eins übernommen. Das ist gefährlich, wenn man so plötzlich zum nützlichen Idioten wird. Ich entdecke im Gesundheitswesen fast durchwegs nur interessenorientierte Kommunikationsstrategien. Weil die verschiedenen Interessengruppen hochprofessionelle Berater im Kommunikationsbereich beschäftigen, bräuchten die Medien ebenso gute Journalistinnen und Journalisten, die ihnen das Wasser reichen können. Aber die Medien haben leider die Mittel nicht dazu.

MEDIENWOCHE:

Die fehlenden Mittel bei den Medien sorgen dafür, dass immer mehr Journalisten zu Interessenverbänden, der Industrie oder an Hochschulen wechseln und dann nur noch Pro Domo kommunizieren.

Heinz Locher:

Da stellt sich dann schon die Frage, wem eine solche Tendenz nützt. Und ob die verbleibenden Journalisten die Zeit aufbringen können, um die Ideologien und Strategien der Verbände und Interessenvertretern noch zu durchschauen.