von Oliver Classen

Kolumne: Es braucht mehr harte aber faire NGO-Kritik

Je einflussreicher ein politischer oder wirtschaftlicher Akteur wird, desto genauer schauen ihm die Medien auf die Finger. Bei Nichtregierungsorganisationen gilt das heute nur bedingt. Entweder sind NGOs für die Medien hui oder pfui. Entsprechend undifferenziert war bisher die Berichterstattung. Doch zum Glück gibt es erste Ausnahmen.

Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Und wo viele Menschen arbeiten, passieren mehr Fehler. Potenziell zumindest. Deshalb werden bei Konzernen mehr Missstände aufgedeckt als bei KMUs. Und deshalb sorgten in den letzten Jahren verschiedentlich auch global operierende NGOs für Negativschlagzeilen. Das lag nicht an den Zielsetzungen oder den Methoden von Greenpeace, Oxfam oder WWF, sondern an mangelnder interner Kontrolle (ein Phänomen, das alle Grossorganisationen kennen) und, viel häufiger noch, individuellen Fehlleistungen. So wie in anderen Branchen halt.

In der Regel erntet ein NGO-Skandal eimerweise Häme, häufig gefolgt von pauschalisierender bis haltloser Grundsatzkritik.

Das gilt auch für die jüngst von der Sonntagszeitung thematisierte Grossspende eines saudischen Milliardärs an Human Rights Watch (HRW). Der Saudi gab das Geld unter der Bedingung, dass HRW damit keine Projekte für die Rechte von Homosexuellen im Nahen Osten und Nordafrika verwendet. Die Organisation akzeptierte die Forderung. Da wusste ein Fundraiser bei der weltweit zweitgrössten Menschenrechtsorganisation offensichtlich nichts von der Kritik seines eigenen Arbeitgebers an den üblen Geschäftspraktiken des Gönners. Eine megapeinliche Panne, die von der Investigativ-Plattform «The Intercept» aufgedeckt und von SoZ-Textchef Rico Bandle zusammengefasst wurde – ebenso korrekt wie unaufgeregt. «Geht doch!», dachte ich erfreut. In der Regel erntet ein NGO-Skandal nämlich eimerweise Häme, häufig gefolgt von pauschalisierender bis haltloser Grundsatzkritik daran, «wie im Namen des guten Zwecks falsche Mythen fabriziert und Verbrechen begangen werden».

Das sagt Weltwoche-Redaktor Alex Baur, der aus dieser ultrasteilen These und seiner Verachtung für progressiven Aktivismus kürzlich ein ganzes Buch gezimmert hat. Darin geht es letztlich um die politische Deutungshoheit darüber, was Mensch und Gesellschaft guttut, aber eben auch um moralische Überlegenheit. Diese Haltung unterstellt Alex Baur allen «Weltverbesserern». Und merkt nicht, wie er sie damit bloss reproduziert. Sein Ex-Kollege Bandle zeigt, wie man sich vom Weltwoche-Furor befreien und sachlich über das Vergehen und Versagen einer NGO berichten kann. Er löst damit ein, was sein Chef Armin Müller vor Jahresfrist postuliert hat: «Alle relevanten Institutionen müssen überwacht werden, auch NGOs.»

Zurecht verstehen sich seriöse NGOs als Teil der Lösung und nicht des Problems. Doch der Heiligenschein, der ihnen von vielen Medienschaffenden (aus Naivität oder der Sehnsucht nach Heilsbringern) verpassen, hat mit der Realität ebenso so wenig zu tun wie die von Baur und Konsorten bemühte Teufelsfratze.

Grosse wie kleine NGOs vertreten die Interessen ihrer Mitglieder und gehören dafür weder idealisiert noch dämonisiert. Sie haben politisches Gewicht und kämpfen um mediale Aufmerksamkeit, zumeist mit relevanten Fakten und manchmal sogar dem besseren Argument. Der Zeitgeist verleiht der Zivilgesellschaft seit einiger Zeit schon Flügel und formt diesen Sektor grad rapide um. Ein Grund mehr für Redaktionen, auf diese aktivistischen Akteure mit Sachkenntnis statt Sensationslust zu blicken.

Leserbeiträge

Lahor Jakrlin 12. März 2020, 15:39

Geniale Satire

Da ist Oliver Classen ein Meisterstück gelungen, chapeau! Über weite Teile hinweg weckt er den Eindruck, er glaube das, was er schreibt. Nur bei der Typisierung Weltwoche hatte ich leise Zweifel an seiner publizistischen Redlichkeit … phänomenal, muss man Classen lassen.