von Nick Lüthi

Paywall und Pandemie: Medien zwischen Geschäft und gesellschaftlicher Verantwortung

Besonders in den USA, aber auch in Europa, lockern kostenpflichtige Online-Medien ihre Paywalls und bieten ihre Corona-Berichterstattung frei zugänglich an. Die grossen Schweizer Medienhäuser sehen derweil keinen Anlass, dies auch zu tun. Sie begründen das mit einem breiten Gratisangebot, der grossen Zahlbereitschaft und dem starken Service public der SRG.

«Fake News gibts kostenlos. Echte Nachrichten befinden sich hinter Paywalls. Bitte entfernen Sie die Paywalls während #coronavirus.» Twitter-Mitgründer Biz Stone ist mit dieser Forderung nicht allein. Ob von Medienleuten oder aus dem Publikum – derzeit erfolgt gehäuft der Appell an Verlage und Redaktionen, ihre Berichterstattung zur Corona-Pandemie doch schranken- und kostenlos im Netz anzubieten. Die einen argumentieren mit der Moral und bezichtigen die Verlage der Krisengewinnlerei, weil sie aus (über)lebensnotwendigen Informationen ein Geschäft machten. Andere betonen die gesellschaftliche Verantwortung der Medien.

In der Schweiz richten sich die Aufrufe insbesondere an die Medienunternehmen, die ihr Online-Angebot grösstenteils kostenpflichtig anbieten. Die härteste Paywall hat Tamedia bei seinen Tageszeitungen in der Deutsch- und Westschweiz hochgezogen. Entsprechend kann wesentliche Teile der Corona-Berichterstattung nur lesen, wer ein Abo oder einen Tagespass gekauft hat.

Selbst Artikel mit Service-Charakter, etwa über die Wirksamkeit von Schutzmasken, sind bei Tamedia Teil des Bezahlangebots. An dieser Strategie solle sich nichts ändern. Die Vermittlung der wichtigsten Informationen und Fakten sei aber kostenlos zugänglich, so etwa die Newsticker zur Corona-Krise. «Wir nehmen unsere Verantwortung ernst», betont Tamedia-Sprecherin Nicole Bänninger. «Weiterführende Artikel sind aber den Abonnentinnen vorbehalten», erklärt Bänninger. Ausserdem könnten alle, die sich auf einem Newsportal von Tamedia registrieren, kostenlos und ohne weitere Verpflichtungen zwei Wochen lang das volle Angebot nutzen.

Das liberale Prinzip von Angebot und Nachfrage funktioniert bei der NZZ auch – und gerade – in der Krise.

Auch die Neue Zürcher Zeitung verweist auf ihr kostenloses Grundangebot, etwa in Form des zweimal täglich versandten Newsletters NZZ-Briefing. Die recherchierten Artikel stehen aber hinter einer Paywall – und werden auch dort bleiben, wie NZZ-Sprecherin Seta Thakur auf Anfrage erklärt. Allerdings sei diese Paywall «nicht von Beginn weg hart», ein Zugriff ohne Kostenfolge also zumindest vorübergehend möglich. Eine komplette Freigabe der Corona-Berichterstattung komme aber nicht in Frage, weil «die Produktion und Bereitstellung von Qualitätsjournalismus aufwändig und teuer ist». Und die Kundschaft sei «durchaus bereit, dafür zu bezahlen». Das liberale Prinzip von Angebot und Nachfrage funktioniert bei der NZZ auch – und gerade – in der Krise.

Auch Ringier und CH Media werden die Paywalls für Corona-Artikel nicht lockern. Beide Verlage verweisen auf das breite Informationsangebot in ihrem Portfolio, das kostenlos bereitsteht. Bei den Titeln von Ringier Axel Springer mit Paywall, etwa der Tageszeitung «Le Temps» oder dem Magazin «Beobachter», seien zudem «sämtliche Artikel mit Informationen von allgemeinem Interesse ebenfalls frei zugänglich – ohne Registrierung oder Abonnement», teilt Ringier-Sprecher Mike Pelzer mit. Sein Kollege Stephan Heini von CH Media gibt weiter zu Bedenken, man könne «ja jederzeit auf die frei zugänglichen News der SRF-Kanäle zugreifen».

«Ich bin mir nicht sicher, wie ethisch es wäre, dem Publikum wichtige Informationen vorzuenthalten, wenn sie nicht ihre Kreditkarte zücken»
Jeffrey Goldberg, The Atlantic

Tatsächlich bietet allein das gebührenfinanzierte Angebot der SRG weit mehr als nur eine Grundversorgung mit Nachrichten und Einschätzungen zur anhaltenden Pandemie. Das ist nicht überall so. Wenn nun vor allem in den USA kostenpflichtige Online-Medien vermehrt ihre Paywalls lockern, dann auch deshalb, weil dort die Sender des Service-public kaum eine Rolle spielen. Medien wie «The Atlantic», «The Philadelphia Inquirer», «The New York Times» oder «The Wall Street Journal» und «Bloomberg News» stellen ihre Corona-Berichterstattung nun auch für Nicht-Abonnenten zur Verfügung. «Das ist eine Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Wenn wir Informationen haben, die für die Menschen wichtig sind, bin ich mir nicht sicher, wie ethisch es wäre, ihnen diese vorzuenthalten, wenn sie nicht ihre Kreditkarte zücken», sagte Jeffrey Goldberg, Chefredakteur von «The Atlantic», gegenüber dem Branchenmagazin Adweek.

Doch auch in Europa gibt es Verlage, die angesichts der ausserordentlichen Lage das Geschäft vorübergehend hintenanstellen und die gesellschaftliche Verantwortung des Journalismus ins Zentrum rücken. So etwa Dagens Nyheter DN. Die führende Tageszeitung Schwedens nahm anfänglich ihre komplette Berichterstattung zur Corona-Pandemie hinter der «harten» Paywall hervor. «In einer Krisensituation ist es wichtig, dass es verlässliche und sachliche Information für alle gibt», begründete DN-Chefredaktor Peter Wolodarski den Entscheid. Für die Zeitung war das kein ungewöhnlicher Schritt. Bereits vor den Wahlen 2018 und einem Terroranschlag in Stockholm 2017 stellte die Zeitung ihre Berichterstattung zum jeweiligen Ereignis kostenlos online. (Update 19.3.2020: Inzwischen hat Dagens Nyheter die ausführlicheren Artikel zur Corona-Krise wieder hinter die Paywall gestellt.)

Hilfreich und sinnvoll sind Erklärungen, wo eine Redaktion transparent macht, wie ihre Abo- und Bezahlstrategie in Zeiten der Pandemie funktioniert.

Unabhängig davon, ob eine Redaktion nun sämtliche Corona-Beiträge frei ins Netz stellt oder nur jene mit Service-Charakter, sollte für den Nutzer die Strategie erkennbar sein. Bei den Schweizer Verlagen ist das nicht der Fall. Auf den Websites der Tamedia-Zeitungen herrscht ein ziemliches Durcheinander. Artikel mit harter Paywall (Abo+) und solche, für die nur eine Registrierung erforderlich ist, stehen ohne erkennbare Struktur nebeneinander. Hilfreich und sinnvoll sind Erklärungen, wie jene der «Schwäbischen Zeitung» in Deutschland oder der «Kleinen Zeitung» in Österreich, wo verantwortliche Redaktoren offenlegen, wie ihre Abo- und Bezahlstrategie in Zeiten der Pandemie funktioniert. Solche Transparenz sorgt für Verständnis und schafft Vertrauen.

Update 18.3.2020: Die «Wochenzeitung WOZ» verzichtet bis am 19. April auf ihre Paywall. Sie begründet den Schritt so: «Bis zum Ende der ‹ausserordentlichen Lage›, das der Bundesrat auf den 19. April festgelegt hat, haben wir uns zudem zu einem einmaligen Schritt entschieden: Wir stellen alle unsere Texte online sowie in unserer App frei zur Verfügung. Üblicherweise befindet sich der grössere Teil hinter einer Paywall. So wollen wir auch all jene LeserInnen erreichen, die uns üblicherweise in einem Café oder in einer Bar gelesen haben, die jetzt geschlossen sind. Und bestimmt freuen sich auch neue LeserInnen über unsere Texte – jetzt, wo viele Menschen viel Zeit zu Hause verbringen müssen.»

Leserbeiträge

Andreas Häuptli, Geschäftsführer VSM 17. März 2020, 21:01

Das Vorgehen der Schweizer Verlage ist absolut richtig. Generell gilt: Journalimus hat einen Wert. Die redaktionelle Leistung kann über verschiedene Geschäftsmodelle finanziert werden. Die SRG erhält Gebühren und hat den Auftrag damit Radio und TV-Sendungen zu produzieren.

Verschiedene Private wählen die Finanzierung über den zunehmend herausfordernden Werbemarkt und gewähren den Nutzern – im Interesse, möglichst grosse Reichweiten zu erreichen – kostenlosen Zugang. Dies vermehrt mit einer Registrationspflicht: Identität und Daten gegen Inhalt. So wird auch hier der Wert des Journalismus vermittelt.

Andere Publikationen stellen Ihre Eigenleistungen hinter die Paywall. Auch das ist richtig. Die Abonnenten der Printausgabe bezahlen auch für diese Inhalte. Sie sind sich bewusst, dass der Journalismus einen Wert hat.

BUGSIERER 20. März 2020, 17:37

Das Vorgehen der Schweizer Verlage ist absolut falsch. Generell gilt: Journalismus hat dem Volk zu dienen. Gerade in diesen Zeiten. Zudem ist Ihr unflexibles und unkreatives Gebahren auch ökonomisch kurzsichtig, um nicht zu sagen dumm. Ein zeitlich auf ein oder zwei Monate oder bis zur Aufhebung der „Besonderen Lage“ beschränktes Online Probeabo für alle wäre eine vertrauensbildende Massnahme für die Verlage (was v.a. die Grossen gut gebrauchen könnten) und eine top Möglichkeit, neue Abos zu verkaufen. Mehr als ein paar tausend Franken für mehr Serverkapazität würde das ja nicht kosten.

 

Ueli Custer 24. März 2020, 18:24

Ich kann Andreas Häuptli nur beipflichten. Es wäre irgendwie schizophren, wenn die Verlage einerseits Kurzarbeit einführen müssen und andererseits einfach so eine Einnahmequelle aufgeben. Genau dafür gibt es die SRG, die ja einen sehr guten Job macht. Wer mehr will, muss halt bezahlen. So einfach ist das. Wenn der Staat der Meinung ist, die Verlage sollten ihre Inhalte verschenken, so soll er den Verlagen den Einnahmeausfall  vergüten.

Roland Hausin 05. April 2020, 07:55

Die Redaktionen von NZZ und Tagesanzeiger sind meiner wiederholten Bitte ihre Paywalls, zumindest zum Thema „Coronavirus“ freizuschalten, nicht nachgekommen.
Unverständlich: diese thematische Freischaltung würde die Einnahmen der Verlage nicht reduzieren. Demzufolge muss diese Weigerung der Versuch sein, die Anzahl der Bezahl-Abos durch die Corona-Kriese zu erhöhen (Kriesengewinnler). Geben wir die verdiente Antwort.
Deren Print-Abos sind nun abbestellt und der AdBlocker für deren OnLine-Produkte aktiviert.
Das Geld geht als Belohnung an Verlage, welche sich verantwortungsbewusst verhalten haben.

Ueli Custer 05. April 2020, 09:35

Redaktionen, die „verantwortungsbewusst handeln“ wird es schon bald nicht mehr geben weil die Löhne nicht mehr bezahlt werden können. Weil Leute wie Sie nicht einsehen wollen, dass Leistungen bezahlt werden müssen.