von Gerhard Lob

Tessin: Ein Kanton und seine Medien im Ausnahmezustand

Das Tessin ist in der Corona-Krise dem Rest der Schweiz stets um etliche Tage voraus. Entsprechend mussten die Medien der Südschweiz früher reagieren, ihre Produktion und das Programm umstellen. Die journalistische Arbeit wird immer schwieriger.

Es war Sonntag, der 23. Februar. Die Welt schien an diesem Tag noch in Ordnung. Die Sonne strahlte und in Bellinzona rüstete man sich zum grossen Karnevalsumzug «Rabadan». Doch das Unheil stand bereits vor der Grenze. In Italien waren die ersten Corona-Fälle bekannt geworden. «Die ganze Angelegenheit ist grösser, als es anfänglich schien», sagte mir an diesem Sonntag der Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani am Telefon, als ich ihn für einen ersten Artikel zu Corona kontaktierte. Er sollte Recht behalten, auch wenn es damals noch keinen konkreten Verdachtsfall im Tessin gab.

Das änderte sich in Windeseile. Das Tessin – geografisch exponiert in die Lombardei, dem Hotspot der italienischen Corona-Welle – war in dieser Geschichte dem Rest der Schweiz stets um viele Tage voraus, in Bezug auf die Infizierten und die Massnahmen. Absage von Veranstaltungen, Schliessung von Beizen, Schliessung der Schulen und schliesslich ein Shutdwon fast des ganzen Gewerbes und industrieller Betriebe. Es ging Schlag auf Schlag. In der Medienwelt der Südschweiz spiegelte sich die allgemeine Entwicklung.

Gab es anfänglich noch Medienkonferenzen, in denen die Journalisten dicht gedrängt im Pressesaal des kantonalen Regierungsgebäudes sassen, wurden zuerst die Abstände verbreitert, dann die Konferenzen in den riesigen Grossratssaal verlegt, schliesslich nur noch online durchgeführt unter physischem Ausschluss der Journalisten. Fragen müssen seither schriftlich vor (!) der Medienkonferenz eingereicht werden. Das kommt in der Branche nicht gut an.

«Je länger die Krise dauert, desto schwieriger wird es, an die Leute zu kommen»
Valentina De Vos, Korrespondentin SRF

Valentina De Vos hat sich als Fernsehkorrespondentin für SRF die letzten Wochen praktisch nur mit dem Coronavirus beschäftigt. Anfänglich war sie in Italien, musste aus diesem Grund dann in eine 14-tägige Quarantäne, bevor sie im Tessin weiterarbeiten durfte.

Sie bestätigt, dass die Arbeitsbedingungen immer schwieriger werden. So konnte sie vor zwei Wochen noch im Covid-19-Spital «La Carità» von Locarno filmen – inzwischen ist das nicht mehr möglich. «Je länger die Krise dauert, desto schwieriger wird es, an die Leute zu kommen», sagt sie. Gesprächspartner fragten sie bei der Kontaktaufnahme, ob es wirklich nötig sei, sich zu treffen. Die Arbeitstage werden dabei immer länger, und da alle Restaurants und Cafés geschlossen sind, ist es selbst schwierig geworden, sich unter dem Tag einen Kaffee zu verschaffen.

De Vos glaubt, dass man in der Deutschschweiz erst mit einer Verzögerung realisiert, was im Tessin schon alles passiert ist. Analog zur Politik habe sich dies auch in der Medienwelt gezeigt, etwas wenn aus Zürich die Anfrage für einen bestimmten Beitrag kam, den sie so gar nicht mehr ausführen konnte. Diesen Eindruck bestätigt Nicole della Pietra, Tessin-Korrespondentin für Radio und Fernsehen RTS, die ebenfalls seit Wochen im Dauereinsatz für das Coronavirus ist. Nach den wichtigen Entscheiden, Norditalien quasi zur roten Zone zu erklären, stand sie morgens um 6 Uhr an der Grenze, um Grenzgängerinnen und Grenzgänger zu interviewen, die ins Tessin zur Arbeit fuhren. «Belastend in solchen Stresssituationen ist auch, dass sehr viele Anfragen fast gleichzeitig von verschiedenen Kollegen und Ressorts kommen», sagt sie. Der ständige Produktionsdruck sei hoch, genauso die Notwendigkeit, Infos weiterzugeben. Für Hintergrundrecherchen bleibe in solchen Momenten kaum noch Zeit.

Unter den gegebenen Bedingungen kann RSI das bisherige Programmangebot nicht aufrechterhalten.

Die Tessiner Medien mussten frühzeitig in den Corona-Modus umschalten. Das Radio und Fernsehen der italienischen Schweiz RSI setzte all jene Mitarbeitenden in Quarantäne, die in Italien in den Karnevalsferien gewesen waren. «Wir müssen sehr komplexe Situationen lösen», sagt RSI-Informationschef Reto Ceschi. Die gesamte Redaktionsarbeit wurde in den letzten vier Wochen umgestellt; Gesprächspartner können in der Regel nur noch via Skype zugeschaltet werden.

Bestimmte Sendungen lassen sich im Moment nicht mehr produzieren, beispielsweise die beliebte Konsumentensendung «Patti chiari» vom Freitagabend. «Wir arbeiten nun an neuen Möglichkeiten für dieses Sendefenster, es sollen die Menschen zu Wort kommen», sagt RSI-Programmdirektorin Milena Folletti. Zwei grosse Infofenster – am Montag- und Donnerstagabend – bleiben über die Nachrichtensendungen hinaus bestehen. Sie konzentrieren sich vorerst auf das Thema Coronavirus.

Das Bedürfnis nach Informationen und Austausch sei gewaltig, das zeigten auch die vielen eingehenden Telefonate, sagt Folletti. Klar ist aber: Unter den gegebenen Bedingungen lässt sich das bisherige Programmangebot nicht aufrechterhalten. So wird seit dieser Woche Mittwoch die Tagesschau um 12.30 Uhr auf La1 nicht mehr vom Fernsehen produziert, sondern vom Radio übernommen und mit Bildern unterlegt. Die regionale Nachrichtensendung «Il Quotidiano» um 19 Uhr wird verkürzt, die abendliche Tagesschau «TG notte» komplett gestrichen. Mitarbeitende, Reporter oder Kameraleute, die Stresssituationen ausgesetzt seien, werden laut Folletti nicht zu Einsätzen gezwungen. Zudem sei ein psychologischer Beistand garantiert, wenn jemand in Schwierigkeiten geraten sollte.

«In diesen Zeiten werden die Stärken des Radios besonders deutlich»
Cathy Flaviano, Abteilungsleiterin RSI

Im Unterhaltungsbereich ist die Produktion von Quiz-Sendungen ausgesetzt. «Unterhaltung in Zeiten von Corona ist schwierig», sagt Cathy Flaviano, RSI-Abteilungsleiterin Kultur und Gesellschaft, «aber Not macht auch erfinderisch.» Im Moment werde viel experimentiert, unter Einbezug der neuen Medien. Beim Radio sei die Sache einfacher: «In diesen Zeiten werden die Stärken des Radios besonders deutlich: Es ist nicht nur ein schnelles Medium, es ist auch nahe an seinem Publikum. Die HörerInnen lachen mit den Radiostimmen, aber sie teilen auch ihre Sorgen mit ihnen.»

Gleiches gilt für den digitalen Bereich. Die junge RSI-Crew unterhält und informiert mit dem digitalen Produkt SPAM ihr Publikum täglich. Unterhaltung sei auf allen Kanälen wichtig, auch in dieser Phase. «Ein wenig schmunzeln darf man, aber natürlich wollen wir nicht, dass man vergisst, was draussen los ist», so Flaviano. Neue Produktionen müssten auf allen Kanälen an die Stimmung angepasst werden.

«Schon seit einigen Wochen haben wir keine Gäste mehr im Studio»
Sacha Dalcol, Vizedirektor Teleticino

Auch die privaten Fernseh- und Radiosender Teleticino und Radio3i mit Sitz in Melide mussten ihr Angebot innert Kürze den neuen Umständen anpassen. «Schon seit einigen Wochen haben wir keine Gäste mehr im Studio», sagt Vizedirektor Sacha Dalcol. Die Redaktion, die in zwei Teams gesplittet wurde, konzentriert sich auf das Informationsfenster zwischen 18 und 19.30 Uhr. Einige Sendeformate aus dem Bereich Sport und Wirtschaft wurden ganz abgesetzt, die jeweiligen Moderatoren treten nun via Skype in den Infosendungen auf. Bisher sind noch Reporter draussen unterwegs. «Aber diese Ausseneinsätze müssen gut überlegt und austariert sein», so Dalcol.

Für die Printmedien sind O-Töne und Bilder weniger wichtig, doch auch die Arbeit der Zeitungen im Tessin wird stark von Corona geprägt. «In unserem Betrieb sind leider zwei Personen positiv auf Covid-19 getestet worden», sagt Matteo Caratti, Chefredaktor der Tageszeitung «La Regione». In Nullkommanichts habe man umstellen müssen: Die Redaktion ging ins Homeoffice und die journalistische Produktion wurde auf ein Minimum reduziert. Nur noch ein Rumpfteam arbeite in der Zentrale. «Da das reale Leben hier im Tessin weitgehend stillsteht, wird es auch immer schwieriger, überhaupt eine Zeitung zu machen», sagt Caratti. Glück im Unglück: Die Zeitung hat am 8. März unabhängig von Corona ihr Redaktionssystem umgestellt. Das kam gerade im richtigen Moment, weil es nun ein Arbeiten von zu Hause aus ermöglicht.

Ein Trost auf allen Redaktionen sind die hohen Nutzerzahlen.

Sowohl «La Regione» als auch der «Corriere del Ticino» haben Kurzarbeit eingeführt. Der «Corriere» als Branchenleader hat die regionale Berichterstattung sowie Sport, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft stark reduziert, dafür aber Rubriken ausgebaut zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib, etwa mit Kreuzworträtseln.

Ein Trost auf allen Redaktionen sind die hohen Nutzerzahlen. «Da wird mir richtig schwindelig», meint Sacha Dalcol von Teleticino. Auch RSI stösst in ungeahnte Reichweiten vor. Fernsehen und Radio erweisen sich in der Corona-Krise als Leitmedien, aber auch die gute alte Zeitung bewährt sich neben dem Web als verlässlicher Wert.

Leserbeiträge

Rémy Steinegger 26. März 2020, 18:51

Bravo Gerhard ! Weiter so !