von Miriam Suter

«Das ist kein Journalismus, sondern eine Zumutung.»

SP-Nationalrätin Jacqueline Badran nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um den Zustand der Medien geht. Sie tut das aus Sorge um die vierte Gewalt. Als Politikerin sieht sie sich tagtäglich mit den Mängeln des Journalismus konfrontiert. So auch kürzlich, als eine Aussage von ihr kontextfrei zum Medienaufreger wurde.

MEDIENWOCHE:

In einem Leserbrief an die NZZ schrieben Sie vor 20 Jahren: «Ich behaupte schon lange, dass die NZZ eines der drei Dinge sein müsste, die ich auf die einsame Insel mitnehmen würde.» Als überzeugte Sozialdemokratin könnten Sie auf die NZZ nicht verzichten, schrieben Sie weiter. Würden Sie die NZZ heute immer noch mit auf eine einsame Insel nehmen?

Jacqueline Badran:

Nein, ganz sicher nicht.

MEDIENWOCHE:

Warum nicht?

Jacqueline Badran:

Weil sie – hart formuliert – zu einem Propagandablatt umfunktioniert wurde. Klar, ich habe mich auch über Hugo Bütler und Gerhard Schwarz aufgeregt. Aber beide haben ihre von meiner oft stark abweichenden Meinung immer gut hergeleitet und begründet. Und der Informations- und Orientierungsgehalt war gewaltig.



MEDIENWOCHE:

Was ist heute anders?

Jacqueline Badran:

Der Anspruch der NZZ ist es, Meinungen zu machen und zu manipulieren, anstatt die Grundlagen für Meinungen zu liefern. Die ganze Konnotation hat sich verändert: Es geht darum, den Menschen zu sagen, was sie zu denken haben: «Wir müssen, wir sollen, es ist Zeit, dass.» Das sind typische Sätze, wie man sie heute in der NZZ liest. Und das ist Propaganda.

MEDIENWOCHE:

Gilt diese Veränderung denn nur für die NZZ?

Jacqueline Badran:

Bei ihr ist es ganz offensichtlich und flächig. Das sieht man auch an den personellen Besetzungen. Das sind alles Leute mit sehr starken Meinungen und Botschaften. Das ist ja in Ordnung, aber dann sollen sie in die Politik gehen und nicht in den Journalismus. Bei anderen Medien sehe ich das eher punktuell. Aber auch da spüre ich einen deutlichen Rechtsruck. Etwa bei der «Sonntagszeitung», aber auch beim «Tages-Anzeiger».

MEDIENWOCHE:

Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen?

Jacqueline Badran:

Ja sicher. Wir haben auf der einen Seite eine kommerzielle Medienlandschaft, die ganz klar FDP-dominiert ist. Und zwar rechte FDP. Das gilt eben für die NZZ, aber auch für CH Media. Deren Verleger Peter Wanner ist bekennendes und aktives FDP-Mitglied, wie auch Südostschweiz-Verleger Hanspeter Lebrument. Auch Ringier mit dem Kolumnisten Frank A. Meyer bewegt sich in diese Richtung. Daneben haben wir die Gratismedienlandschaft, die SVP-dominiert ist. Und dann gibts noch «20 Minuten», dessen Inhalt teilweise fast schon Desinformation ist. Das muss nicht einmal Absicht sein, ist aber brandgefährlich. Und das macht mir nicht nur ein bisschen Sorgen. Ich bange um die vierte Gewalt. Und ich frage mich – als Mitglied der ersten Gewalt: Wer kontrolliert denn die vierte? Ich könnte jeden Tag fünf Stunden mit #korrigendum auf Twitter verbringen, und zwar nicht aus dem Meinungsteil. Das hat nicht mehr allein mit den politischen Ausrichtungen der einzelnen Blätter oder der Gebietsmonopolisierung zu tun, sondern mit den realen Situationen der Medienschaffenden. Da besteht ein krasser Unterschied schon nur zu vor zehn Jahren.

MEDIENWOCHE:

Wo stellen Sie diesen Unterschied fest?

Jacqueline Badran:

Vor allem was Zeit für Sorgfalt angeht. Ich bekomme so oft Anfragen, in der man mich um Antworten oder Stellungnahmen innerhalb der nächsten zehn Minuten bittet, weil der Artikel so bald fertig sein muss. Es herrscht ein massiver Zeitdruck und daraus entsteht eine unglaubliche Verseichtung. Viele Journalisten haben heute keine Zeit mehr ordentlich zu recherchieren. Dann entstehen eben Artikel, für die sie schnell, schnell ein Zitat von mir holen und dann noch eins von der politisch konträren Seite. Dann waren sie ja neutral, weil sie «beide Seiten» gefragt haben. Aber das ist nichts, das ist kein Journalismus, sondern eine Zumutung. Einerseits für das politische System, das auf die mediale Vermittlung angewiesen ist, andererseits für die Lesenden und ebenso für die Journalisten selbst.

MEDIENWOCHE:

Inwiefern haben sich diese Missstände in der Corona-Berichterstattung gezeigt?

Jacqueline Badran:

Ich fand eigentlich die Berichterstattung relativ gut. Auffallend war, dass gerade zu Beginn die direkte Berichterstattung extrem dominiert hat. Schon nur aufgrund dessen, dass es praktisch tägliche Medienkonferenzen mit dem Bundesrat und Experten gab. Das ging eins zu eins zu den Leuten, ohne mediale Vermittlung, und das haben hunderttausende Menschen gesehen. Das ist sehr aussergewöhnlich. Man darf aber nicht vergessen: Diese Pandemie ist ein kollektives Erlebnis, das kennt die Menschheit sonst eigentlich nur aus dem Krieg. Und natürlich gibt es Dinge am Journalismus, die sich verbessert haben im Gegensatz zu früher, es wurde ja nicht alles schlimmer. Das zeigte sich dann auch in der Corona-Berichterstattung.

MEDIENWOCHE:

Was zum Beispiel?

Jacqueline Badran:

Gerade der Zugang zu Daten hat sich etwa deutlich verbessert. Da geben sich etliche Journalisten auch wirklich Mühe. Auswertungsmethodisch ist da vielerorts zwar noch Luft nach oben, aber das sage ich als doppelt akademisch geprüfte Statistikerin. Ich finde, die Redaktionen haben zum allergrössten Teil wirklich gut auf die Corona-Krise reagiert. Gerade was Faktenchecks angeht oder wenn Beschlüsse vom Bundesrat aufbereitet und begründet werden mussten. Oder wenn es darum ging, Verschwörungstheorien aufzudecken, also etwa zu beweisen, dass 5G nicht schuld am Coronavirus ist. Vor allem SRF hat aus meiner Sicht diesbezüglich einen sehr guten Job gemacht, aber das gilt eigentlich wirklich für fast alle Medien.

MEDIENWOCHE:

Würde Medienförderung, wie sie das Parlament derzeit diskutiert, den Journalismus stärken?

Jacqueline Badran:

Ich glaube, momentan haben viele Journalisten diesbezüglich noch einen etwas falschen Stolz. Sie sagen: Wir sind stolz auf unsere «Unabhängigkeit» und wollen uns doch nicht vom Staat finanzieren lassen! Aber eigentlich müssten sie hinstehen und sagen: Wir sind stolz auf unseren Beruf, Journalismus brauchts, der ist nicht nice-to-have sondern ein absolutes Must-have – und deshalb muss er öffentlich finanziert werden. Und es gäbe ja wirklich genügend journalistische Produkte, die das absolut verdient hätten. «Watson» beispielsweise ist ein klassisches Reichweitenmedium, hat aber definitiv einen Charakter von Service public, was die Qualität angeht. Es braucht solche Medien, die viele Leute erreichen und einen guten Job machen.

MEDIENWOCHE:

Aber gerade «Watson» würde ja kein Geld bekommen.

Jacqueline Badran:

Deshalb ist die Medienförderung, so, wie sie jetzt vorliegt, auch eine Fehlkonstruktion. Wir müssen nicht «fördern», sondern finanzieren. Das Einzige, was zu diskutieren ist: Wann und wie finanzieren wir auch das geschriebene Wort? Es kann ja auch nicht sein, dass Verleger Peter Wanner sich darüber echauffiert, dass er nicht mehr Geld aus dem Gebührentopf kriegt. Das ist doch Quatsch. Wer ein grösseres Stück von einem schrumpfenden Kuchen haben will, der bekommt dann trotzdem ein kleineres. Deshalb sollte die Diskussion nicht sein, wer das grössere kleinere Stück davon kriegt, sondern wie man den ganzen Kuchen grösser machen kann.

MEDIENWOCHE:

Was ist Ihr Rezept für einen guten Kuchen?

Jacqueline Badran:

Wie bisher Abofinanzierung, Werbefinanzierung – und zwingend zusätzlich öffentliche Finanzierung.

MEDIENWOCHE:

Gerade die Werbeeinnahmen brechen bei vielen aber stark ein, beim SRF wurde vor kurzem ein gewaltiger Sparplan bekanntgegeben.

Jacqueline Badran:

Was es zusätzlich braucht, sind beispielsweise mehr Kooperationen der verschiedenen Medien untereinander. Und eine Allianz aus vernünftigen Verlegern, die sich in Sorge um die vierte Gewalt, der gegenüber sie ja eine Verantwortung tragen, wirklich mit der Frage der Finanzierung auseinandersetzen, anstatt sich untereinander zu bekriegen.

MEDIENWOCHE:

Haben Sie denn Hoffnung diesbezüglich?

Jacqueline Badran:

Man muss es nochmals ganz klar sagen: Die Lösung, um den Journalismus zu retten, liegt in einer öffentlichen Finanzierung. Nicht in den verschiedenen Businessmodellen wie Paywalls, individualisierten Algorithmen oder der Hoffnung darauf, dass die Leute Abos kaufen. Diese Raten sind einfach zu klein. Das sieht man in Amerika schon seit 20 Jahren. Das Schauspielhaus gäbe es auch nicht, wenn es nicht öffentlich finanziert würde. Und darauf wollen wir als Gesellschaft ja auch nicht verzichten. Theoretisch gäbe es schon ein Businessmodell. Und zwar das von früher, transformiert in die neue Zeit. Früher wurde der Journalismus hauptsächlich durch Kleininserate finanziert. Bloss hatten die Medien damals halt ein Monopol: Egal, ob du einen Job, eine Wohnung oder ein Auto gesucht hast, du musstest dafür eine Zeitung kaufen. Die TX Group ist ein gutes Beispiel. Als das wegen der Digitalisierung auseinanderbrach, holte sich Verleger Supino die Inserateportale wieder zurück ins Haus – bloss leider viel zu spät und deshalb auch viel zu teuer. Nur weigert er sich, den Journalismus wie früher über diese lukrativen Einnahmen zu finanzieren. Ringier hingegen macht das, soviel ich weiss. Die NZZ hat es dafür gleich komplett verpasst, CH Media und Publigroup übrigens auch.

MEDIENWOCHE:

Ich möchte mit Ihnen noch über den Vorfall kürzlich vor dem Bundeshaus sprechen, wo die Klima-Aktivist*innen ihr Protest-Camp aufgeschlagen hatten. Sie haben dort einem SRF-Journalisten die Leviten gelesen. Was ist da eigentlich genau passiert?

Jacqueline Badran:

Ich muss hier ein bisschen Kontext geben. Ich engagiere mich seit präzis 40 Jahren für die Klimathematik. Dieses Engagement steht in engem Zusammenhang damit, wie ich als Jugendliche politisiert wurde: Ich war schon als 18-Jährige sehr aktiv, damals noch in der Schule. Ich war in der vorletzten reinen Mädchenklasse im Gymnasium Hohen Promenade in Zürich und wir haben damals – im Jahr 1980 – eine «Zukunftsausstellung» gemacht. Wir haben dafür selber solche Plakate gemalt, wie sie die Klimajugend heute auch wieder malt: Zum Treibhauseffekt, zu steigenden Meeresspiegeln und zu Klimaflüchtlingen. Ich stand vor diesen Plakaten und dachte: So soll unsere Zukunft aussehen? Das dürfen wir nicht zulassen. Daraufhin habe ich Biologie studiert und später Umweltökonomie an der HSG. Nach 40 Jahren spürte ich aber langsam den Frust, den ein langjähriges Engagement mit sich bringen kann, gerade in einer so dringlichen Thematik wie dem Klimawandel. Als die Klimajugend entstand, fühlte ich mich wieder neu motiviert – von diesen Jungen! Und als ich das Camp auf dem Bundesplatz gesehen habe, war das ein extrem emotionaler Moment für mich. Ich trat aus dem Bundeshaus, um den Forderungen zuzuhören, die die Aktivisten an uns Politikerinnen und Politiker richteten.

MEDIENWOCHE:

Und dann?

Jacqueline Badran:

Als ich rauskam, stand Andreas Glarner vor dem Bundeshaus. Ich stand absichtlich nicht in seine Nähe, weil ich ihm keine mediale Plattform bieten wollte, auf die er es immer anlegt. Und eben deshalb, weil ich den Jugendlichen – als Politikerin, aber auch als Mensch – zuhören wollte. Glarner hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als die Aktivisten zu fotografieren, um sie später zu denunzieren – weil das alles ist, was er tut. Dann kam Sibel Arslan heraus und lief Glarner praktisch in die Arme. Da wusste ich, dass Stress vorprogrammiert ist – jetzt hat er, was er will. Ich habe den Vorfall aber immer noch ignoriert. Weil eben: Ich wollte den Aktivisten zuhören. Und dann geschah das, worüber ich mich eigentlich aufgeregt habe.

MEDIENWOCHE:

Nämlich?

Jacqueline Badran:

Praktisch alle Journalisten, die auf dem Platz waren, rannten zu den beiden, als wären Harry und Megan persönlich aus dem Bundeshaus geschritten. Und alle filmten, wie Glarner Arslan beschimpfte. Ich dachte: Das kann doch wirklich nicht wahr sein, die Medien fallen schon wieder auf Glarners Empörungsbewirtschaftung herein. Da lesen Jugendliche ähnliche Forderungen, die ich vor 40 Jahren schon auf Plakate gemalt hatte, und ein so kleiner, unbedeutender Nebenschauplatz bekommt die ganze mediale Aufmerksamkeit. Und dann kamen die Journalisten zu mir. Ich habe gar nicht gemerkt, ob die Kameras und Mikrofone zum SRF gehören oder zu «20 Minuten» oder zu wem auch immer, ich war derart emotional geladen.

MEDIENWOCHE:

Es war Oliver Washington von Radio SRF.

Jacqueline Badran:

Genau, das wurde mir dann retrospektiv auch klar. Er fragte mich: «Frau Badran, was halten sie davon, was zwischen Glarner und Arslan passiert?» Ich antwortete ihm wörtlich: «Mit euch spreche ich nicht.» Dann fragte er mich nach dem Grund und erst meine zweite Antwort ist das Zitat, das man nun überall gehört hat: «Weil ihr die falschen Fragen stellt, weil ihr die Kameras auf die falschen Orte richten. Ihr müsst die Jugendlichen filmen und nicht Huere Fucking Glarner, who cares».

Replik von Oliver Washington

MEDIENWOCHE:

Woraufhin man Ihnen vorwarf, Sie hätten sich nicht im Griff. Man verglich Sie mit Glarner. Der Tages-Anzeiger stellte gar die Frage, ob Sie für die SP noch tragbar seien, für «Blick» «wurden Sie wieder einmal Ihrem Ruf gerecht».

Jacqueline Badran:

Dabei war ich offensichtlich nicht in der Verfassung, ein Zitat abzugeben. Dass das «Echo der Zeit» diese Aussage dann so verwendet hat und einfach den Satz «mit euch rede ich nicht» rausgeschnitten hat, das ist eigentlich eine unautorisierte Geschichte. Wir sind nicht Vieh. Wir sind auch Menschen und keine Roboter, die nonstop professionelle Medienarbeit machen. Wir haben das Recht, nicht überrumpelt zu werden und auch mal keine Aussage zu machen. Der Journalist hätte eine Stunde später zurückkommen können und ich hätte ein vernünftiges Statement zur Medienkritik abgeben können.

MEDIENWOCHE:

Haben die Journalistinnen und Journalisten, die danach über diesen Vorfall berichteten, mit ihnen gesprochen?

Jacqueline Badran:

Nein. Sie sind die erste Journalistin, die nachfragt. Sandro Brotz brachte es bei den Einspielern als Erstes in der «Arena» zum Thema ziviler Ungehorsam. Er hat mich nicht einmal gefragt, wie meine Aussage genau zustande kam und was ich genau meinte. Kontext? Fehlanzeige. Und auch bei allen anderen Journalisten, die ich teilweise gut kenne und mehrmals in der Woche treffe, wurde ich einfach auf die Politikerin reduziert, die die Nerven verloren hat und rumrabazt und Glarner beschimpft. Und nicht etwa auf die 40 Jahre Engagement als Umweltpolitikerin, die die Medien kritisiert. Dabei sieht man ja auf den Aufnahmen von Tele Züri sogar noch, wie emotional ich war – dort fange ich fast an zu weinen. Und die Folgegeschichten, die aus einem so unautorisiert verwendeten Zitat entstehen, sind eigentlich schlimmer als dieser Vorfall an sich.

MEDIENWOCHE:

Wie meinen Sie das?

Jacqueline Badran:

Ich hätte am liebsten SRF die Mails geschickt, die ich seit der Ausstrahlung bekomme, damit die Redaktion diese beantworten kann. Von den Kommentarspalten bei «Blick» und «20 Minuten» mal ganz abgesehen.

MEDIENWOCHE:

Was steht in diesen Mails?

Jacqueline Badran:

Dass ich mit einer rostigen Blechbüchse kastriert werden solle, zum Beispiel. Aber es gab nicht nur Mails. Ich habe tatsächlich eine Morddrohung erhalten, auf Schreibmaschine geschrieben. Darin wird beschrieben, dass es an der Zeit sei, «mit ganz anderen Mitteln» gegen eine Person wie mich vorzugehen. Dass man sich wünschen würde, ich wäre damals beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und dass es in Zukunft für mich schwierig werden würde, zur Ruhe zu kommen. Dass man mich auf «Schritt und Tritt» verfolgt und man, wenn einem «der Zeitpunkt als gegeben erscheint, auch vor ungewöhnlichen Taten nicht zurückschrecken» wird.

MEDIENWOCHE:

Von wem kam der Brief?

Jacqueline Badran:

Unterschrieben ist er von einem «Mitglied des Glarner-Fanclubs».

MEDIENWOCHE:

Crazy.

Jacqueline Badran:

Ja. Ich bin allerdings nicht die einzige Politikerin, die solche Dinge kriegt. Christa Markwalder schickte letzten Winter jemand einen Strick per Post, mit dem sie sich erhängen sollte. Auch Cédric Wermuth und Mattea Meyer kriegen immer wieder solche Drohungen. Ich habe mich mit ihnen und auch mit Jolanda Spiess-Hegglin, die sich ja stark gegen solche Drohungen und Hass einsetzt, unterhalten. Was alle ungewöhnlich fanden: Der Brief ist fehlerfrei und in gewählter, präziser Sprache formuliert. Also kein klassischer Trollbrief mit Grossbuchstaben und hundert Ausrufezeichen. Die Medien merken nicht, was sie mit so einer unautorisierten Berichterstattung alles anrichten können. Für sie ist es eine Aufreger-Geschichte mehr. Für mich ist es mein Leben.

Replik von SRF-Redaktor Oliver Washington

Am 15. Oktober veröffentlichte die «Medienwoche» ein langes Interview mit SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. Unter dem Titel «Das ist kein Journalismus, sondern eine Zumutung», sprach Badran mit der Journalistin Miriam Suter über den Zustand der Medien. In diesem Gespräch wurde unter anderem ein von mir für das «Echo der Zeit» von Radio SRF realisierter Beitrag vom 22. September heftig kritisiert. Zu Unrecht, wie ich finde. Kommt dazu, dass im Gespräch die Umstände, wie der kritisierte Beitrag entstand, falsch geschildert wurden. Ich nehme deshalb die Gelegenheit zur Replik gerne war – ganz im Sinne des journalistischen Grundsatzes, dass öffentlich kritisierte Personen das Recht haben, Stellung zur geäusserten Kritik zu beziehen.

Es geht um die Geschichte mit der unterdessen berühmten «Huere-Fucking»-Aussage von Jacqueline Badran, die während des Klimastreiks auf dem Bundesplatz entstanden ist. Im Interview bringt die Journalistin Miriam Suter von sich aus meinen Namen ins Spiel, ich soll nach dem Zusammenstoss zwischen SVP-Nationalrat Andreas Glarner und der Grünen Nationalrätin Sibel Arslan auf Jacqueline Badran zugegangen sein. Worauf Jacqueline Badran dies im Interview bestätigt und auch noch sagt, was ich Sie auf dem Bundesplatz dabei gefragt haben soll, nämlich: «Frau Badran, was halten Sie davon, was zwischen Glarner und Arslan passiert?» Weiter sagt Jacqueline Badran, sie habe mir auf dem Bundesplatz auch gesagt «Mit euch spreche ich nicht».

Doch hat sich die Szene auf dem Bundesplatz nicht so zugetragen: Ich war an jenem Tag auf dem Bundesplatz, interviewte PolitikerInnen und AktivistInnen mit dem Ziel einen Beitrag für das «Echo der Zeit» zum Klimastreik zu machen. Während ich den Grünen Nationalrat Balthasar Glättli interviewte, sah ich Jacqueline Badran aus dem Augenwinkel. Vom vorangegangenen Zwischenfall zwischen Glarner und Arslan wusste ich zu jenem Zeitpunkt nichts. Nach dem Interview mit Glättli ging ich auf Badran zu. Sie unterhielt sich angeregt und lautstark mit anderen und verwendete dabei das Wort «Medienversagen». Ich griff das auf und wollte mit ihr ins Gespräch kommen und sie dann zum Klimastreik interviewen. Dabei entstand folgender, auf Mundart geführte Dialog:

OW: «Darf ich kurz stören?»
JB: «Oh nein.»
OW: «Doch. (Gelächter im Hintergrund) Was ist das Medienversagen?»
JB: «Oh nein, ihr geht mir jetzt gerade schaurig auf den Sack.»
OW: «Ahja?»
JB: «JA»
OW: Warum?»
JB: «Weil ihr die falschen Sachen filmt, und die falschen Fragen stellt.»
OW: «Ich filme nichts.»
JB: «Ja, weil ihr vorher den huere fucking Glarner who cares gefilmt habt, statt die Forderungen der Jugendlichen. Und weil ihr irgendwie eine Empörungsgeschichte darüber macht, ob man jetzt den huere Bundeshausplatz besetzen darf. Anstatt einmal sich zu empören, dass man den huere Planet zerstört, und seit fucking 40 Jahren nichts passiert.»

Es ist offensichtlich, dass dieser Dialog der Darstellung widerspricht, wie sie in der «Medienwoche» geschildert wurde. Badrans Schilderung wurde von der Journalistin nicht hinterfragt. Die Sache wird auch nicht besser, wenn man berücksichtigt, dass die Journalistin als Interviewerin von einer falschen, und nicht verifizierten Behauptung ausging.

Im Zusammenhang mit dem Beitrag stellt sich noch die Frage, warum wir jene «Huere-Fucking»-Aussage überhaupt verwendeten. Jacqueline Badran ist der Meinung, dass die Aussage nicht autorisiert gewesen sei und wir sie deshalb nicht hätten veröffentlichen dürfen. Wir sind anderer Meinung:

Der Bundesplatz war zu jenem Zeitpunkt ein öffentlicher, politischer Ort – die Klimajugendlichen verwandelten diesen durch Ihre Aktion des zivilen Ungehorsams ja gerade in einen solchen. Jacqueline Badran ist als bekannte Nationalrätin zudem eine öffentliche Figur. Wenn sie in dieser öffentlichen, politischen Arena den vor ihr stehenden Journalisten als Vertreter seiner Zunft also dermassen anschimpft, so dass es auch die um sie herum stehenden Leute mitbekommen und hören, ist das nicht einfach eine private Aussage, sondern eine öffentliche Aussage, die viel aussagt über die politische Kultur und die Anspannung jener Tage rund um das Bundeshaus. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass ich mit dem SRF-Mikrofon in der Hand auf den ersten Blick als Journalist erkennbar war und auch erkannt wurde. Damit kann uns auch nicht der Vorwurf gemacht werden, wir hätten die Aussage «erschlichen». SRF macht keine verdeckten Aufnahmen.

Die «Huere-Fucking»-Aussage war eine relevante öffentliche Aussage, einer öffentlichen Person in einem öffentlichen, politischen Kontext. Aus diesen Gründen entschieden wir uns, die Aussage zu veröffentlichen.

Bild: Keystone/Peter Klaunzer

Leserbeiträge

Artur Vogel 15. Oktober 2020, 17:11

NR Badran flippt vor laufenden Kameras aus, schreit unflätiges Zeug in die Welt hinaus und beschwert sich nachher darüber, dass sie „unautorisiert“ zitiert worden sei. In Wirklichkeit war ihre Reaktion fast genauso primitiv wie die Tirade des unsäglichen Glarner gegen Sibel Arslan. Dass man ihr danach Platz gibt, um sich, ohne kritisch hinterfragt zu werden, herauszuschwatzen und erst noch als armes Medienopfer darzustellen, finde ich zumindest kurios.

Melissa Moningka 16. Oktober 2020, 06:44

Sie jammert nicht, sie ordnet ein. Und das gesamte Interview ist erhellend. Es bringt neue Informationen und hält obendrein den journalistischen Quellenethos hoch.

Hanspeter Spörri 15. Oktober 2020, 17:12

Leider hat Jacqueline Badran recht. Vertreterinnen und Vertreter unserer Zunft haben keine Zeit mehr. Und schlimmer: sie nehmen sich die Zeit nicht mehr. Dafür rennen sie den Aufregern nach. Meinungen werden hinausposaunt und kaum noch hergeleitet. Zur Szene vor dem Bundeshaus hätte man Badran schon längst ausführlich befragen müssen. Zum Glück ist das nun geschehen.

Peter Sennhauser 16. Oktober 2020, 09:46

Alles, was Jay hier sagt, ist eine scharfe Analyse der Situation. Ich fürchte mit ihr und Dir, Hanspi, um den Journalismus, weil er, wenn er nicht von einem vollständig disruptierten Geschäftsmodell (Inserate und Abos sprich Monopol auf der Druckerpresse) losgelöst wird, unweigerlich zur Klamaukshow verkommen wird. Auch das sagt Jay im Interview: Die USA machen es seit 40 Jahren vor. Die einzigen verbliebenen journalistischen Medien dort sind NPR und PBS – und die betteln jedes Jahr den lieben, langen November lang um Erbschaften und Spenden.  Dem Zerfall des Anstands und der Ansprüche in der vierten Gewalt folgt derjenige in den anderen Gewalten auf dem Fuss. Auch das zeigen die USA – und bei uns Leute wie Glarner, die auf der Aufregungsklaviatur spielen und damit unverdient punkten.

Oliver Brunner 15. Oktober 2020, 17:13

Jedem seine Meinung, auch der Frau Badran. Wenn ich jedoch ihre Wirtschaftsideen höre (sie ist ja Unternehmerin), könnte ich auch stundenlang mit #Korrigendum verbringen (nur nützt das nichts, weil nur 2% der Schweizer auf Twitter sind). Aber Frau Badran will hohe Staatsquoten, hohe Verschuldung, hohe Überfremdung, Aushöhlen des Sozialstaates. Ich nicht, und wahrscheinlich viele NZZ-Leser auch nicht. Ich bin froh, wenn jemand schriebt: „Man sollte den Linksruck der Mitteparteien stoppen“ etc.

Christian Bütikofer 15. Oktober 2020, 20:32

Anstatt Badran mal wieder als „Bad-Girl“ hinzustellen, sollten ich und meine Journi-Kollegen mal all das, was sie sagt zu unserer Zunft, zu Herzen nehmen. Man muss nicht mit allem einverstanden sein. Aber es ist an der Zeit, die Kritik mal einsacken zu lassen. Und dann entsprechend zu handeln. Btw.: Die NZZ war noch in den 90er-Jahren die Zeitung, die am meisten „Andersdenkende“ als festen Abonnentenstamm hatte…

taube 15. Oktober 2020, 22:03

Liebe Jacqueline, liebe Miriam Suter. Danke für diese ‚Nachlieferung‘ zu den Ereignissen. Darüber bin ich froh. Sie sprechen wichtige Dinge an: Viele Journis sind total unter Druck und können nicht mehr einordnen. Mit einer Minute Pause… Und denken, bevor sie schreiben. Daran sind sie aber nicht schuld. In vielen Fällen. Danke für den Beitrag.

Erika Paneth 16. Oktober 2020, 03:12

Liebe Jaqueline, wie recht Du hast, mit deiner Kritik der Meinungs-Schreibe der Journalisten, wo die Fakten zweitrangig werden.

Aber leider ist das nicht nur in den rechten Medien anzutreffen, sondern genauso bei den linken Blättern oder ehemals nüchternen Berichterstattern.

Plötzlich werden aus Fachjournalisten Welt-Verbesserungs-Erklärer und der Social-Media-Spezialist  zum Spezialisten für soziales Sein an sich. Dass die Journalisten heute eine Journalistenschule machen und dann publizieren dürfen, ohne dass sie besondere Kenntnisse oder eine große Allgemeinbildung vorzuweisen hätten, ist auch ein Grund dafür, dass Zeitungen unleserlicher werden.

Erika Paneth

Beat Schwab 16. Oktober 2020, 08:44

Seit einem Jahr bin ich wieder NZZ Leser (online Abo), weil man nicht nur Medien der eigenen Gesinnung lesen soll. Leider haben sich in diesem Jahr die Aussagen von Frau Badran derart bestätigt, dass es mit Sicherheit bei diesem einjährigen Versuch bleibt. Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, als Herr Spillmann noch Chefredaktor war.

Matthias Erzinger 16. Oktober 2020, 14:19

Ich gehe mit Frau Badran weitgehend einig. Und denke auch wie einige der KommentatorInnen, dass auch bei denMedienschaffenden es an der Zeit ist, die eigene Arbeit zu reflektieren. Die Arena mit Herrn Brotz ist noch irrelevanter geworden, als unter Projer.
Völlig anderer Meinung bin ich bezügich der NZZ; diese erlebe ich seit 40 J<ahren als ideologisches Kampfblatt, ideologischer als wir es uns seinerzeit beim Volksrecht getrauten. Manchmal ist das etwas besser Kaschiert, manchmal weniger. Aber die NZZ war, gerade auch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, absolut einseitig und dogmatisch – und zwar am meisaten, was die stadt Zürich und die Schweiz betraf, etwas weniger beim Kanton und am wenigsten in der Auslandberichterstattung. Aber auch diese war zum Beispiel bezüglich Mittelamerika schlicht grauenhaft.

Lahor Jakrlin 21. Oktober 2020, 11:57

Das Echo hat im fucking-Badran-Artikel – für einmal – NICHTS falsch gemacht.

rüdiger hans 23. Oktober 2020, 19:08

„Wir sind auch Menschen und keine Roboter, die nonstop professionelle Medienarbeit machen.“

Heisst dies, dass ohne professionelle Medienarbeit des öfteren die affektierte Fratze zum Vorschein käme?  Dass professionelle Medienarbeit darauf zielt, eine geeignete Erscheinung zu kreieren, in der Hoffnung dass der Plebejer sie als edles Subjekt wahrnimmt?
Leider sprechen die Rankings, die das Vertrauen der Menschen in die verschiedenen Berufe ermitteln, eine klare Sprache: Politiker rangieren an letzter Stelle.