von Marko Ković

Wer die Mär von der Durchseuchung am Köcheln hält

Wirtschaftsfreundliche Denkfabriken und Intellektuelle propagieren eine Durchseuchung als bester Weg aus der Coronavirus-Pandemie. Das ist zwar wissenschaftlich widerlegt und gefährlicher Humbug. Einschlag im öffentlichen Diskurs haben solche Forderungen trotzdem – weil sie im Kleide der Wissenschaftlichkeit daherkommen. In einer weiteren Folge unseres Podcasts «Das Monokel» nehmen Christian Caspar und Marko Kovic neoliberale Corona-Propaganda unter die Lupe.


Die «Great Barrington Declaration», ein offener Brief dreier Epidemiologinnen und Epidemiologen, sorgte Anfang Oktober international für Aufsehen. Die Fachpersonen riefen in ihrem Appell die Regierungen der Welt auf, im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie auf die Strategie der «Durchseuchung» zu setzen: Möglichst viele Menschen, die nicht zu den Risikogruppen gehören, sollen sich aktiv anstecken, damit wir rasch eine natürliche Herdenimmunität erreichen und damit die Risikogruppen schützen können. Der Aufruf sorgte für Stirnrunzeln. Denn die Idee, dass Durchseuchung der Weg aus der Pandemie ist, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Nicht zuletzt, weil damit massives Leid und Tod in Kauf genommen würde – ohne Garantie, dass eine Herdenimmunität tatsächlich zustande kommt. Ein Lehrstück hierfür ist Schweden, wo in der ersten Pandemiewelle eine Strategie in Richtung Herdenimmunität verfolgt wurde, was gehörig in die Hose ging.

Dass eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine derart unseriöse Forderung aufstellt, erstaunt auf den ersten Blick. Bis man genauer hinschaut, wer die Initiative ins Leben gerufen hat: Hinter dem Aufruf steht der neoliberale US-Thinktank «American Institute for Economic Research», der einen möglichst wirtschaftsfreundlichen Kurs als beste Lösung für die Pandemie propagiert. Die «Great Barrington Declaration» ist damit ein Feigenblatt, mit dem ein ideologisch motiviertes Postulat wissenschaftlich getarnt werden soll. Der Think-Tank suchte und fand dafür drei Forschende, die seit Beginn für eine Durchseuchung und nachfolgender Herdenimmunität plädieren. Der Erfolg dieser Propaganda-Aktion ist gross, denn die Nachricht, dass nun auch seriöse Fachleute auf Durchseuchung setzen, ging um die Welt. (Der Appell wurde aber rasch als PR-Aktion erkannt und kritisiert.)

Das «American Institute for Economic Research» ist nur einer von zahlreichen neoliberalen Thinktanks in den USA, die den öffentlichen Diskurs über die Pandemie mit ihrer ideologischen Perspektive zu durchtränken versuchen. Weitere wichtige amerikanische Player sind zum Beispiel das «American Enterprise Institute» und die «Heritage Foundation», die ebenfalls eine stramm wirtschaftsfreundliche Linie fahren und dabei Werte wie «Freiheit» und «Eigenverantwortung» betonen. Neoliberale Thinktanks mit Durchseuchungsfantasien sind aber kein rein amerikanisches Phänomen.

Avenir Suisse etwa, ein Schweizer Thinktank, der «marktwirtschaftliche, liberale und wissenschaftlich fundierte Ideen für die Zukunft der Schweiz» entwickelt, propagiert ebenfalls die fehlgeleitete Idee der Durchseuchung und kritisiert ein «hartes Corona-Regime» als übertrieben. Ganz ähnlich sieht es beim «Liberalen Institut» aus, das sich der «Erforschung freiheitlicher Ideen» widmet. Im Corona-Kontext resultierte aus dieser «Erforschung», dass wir Durchseuchung brauchen, weil alles andere «autoritär» sei.

Es sind nicht nur neoliberale Thinktanks, sondern bisweilen auch engagierte wirtschaftsfreundliche «Einzelkämpfer», die aller epidemiologischen Kritik zum Trotz am Durchseuchungs-Mythos festhalten. Ein Beispiel hierfür ist der Schweizer Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger. Seit Beginn der Epidemie verkündet Eichenberger etwa in der «Neuen Zürcher Zeitung» oder bei «20 Minuten», dass die gezielte Durchseuchung die beste Strategie für den Umgang mit der Pandemie sei. Die gewichtigen wissenschaftlichen Argumente gegen seine Forderung kümmern ihn dabei herzlich wenig.

Die neoliberale Corona-Propaganda ist aus drei Gründen bedenklich:
Erstens verbreiten die betroffenen Thinktanks und Individuen gefährliche Falschformation, die Verwirrung stiftet und Schaden anrichten kann.
Zweitens schmücken sie sich dabei mit dem Anschein von Wissenschaftlichkeit, was ihnen Glaubwürdigkeit verleiht.
Und drittens verfügen diese Akteure über grosse diskursive Macht: Sie sind Elite-Organisationen mit Zugang zu Medien und Politik. Was sie in die Welt hinausposaunen, mag Quatsch sein, aber es ist Quatsch, der hängen bleibt.

Hier gehts zum Podcast:

Leserbeiträge

Peter W. Frey 29. Oktober 2020, 22:45

Das „American Institute for Economic Research“, das hinter der „Great Barrington Declaration“ steht, hat sich in den letzten Jahren vor allem hervorgetan mit „Studien“, die den anthropogenen Klimawandel leugnen. Kein Wunder, wird das AIER doch massgebend von Exponenten der amerikanischen Erdöl- und Kohleindustrie finanziert, darunter dem milliardenschweren Koch-Konzern.

Andreas Hagenbach 30. Oktober 2020, 14:19

Dass eine ungenau beschriebene Anti-Corona-Propaganda ein neoliberales Konstrukt sei, dass die Bedürftigen opfere, ist m.M. nicht belegbar, auch wenn es noch so oft wiederholt wird. Mit solchen Falschargumenten wird abgelenkt, wer denn in dieser Angelegenheit die Diskurshoheit innehat. Und wieder einmal wird mit der Kontaktschuld argumentiert, dass also ein Argument falsch sei, wenn es von der falschen Seite kommt.

Spannender wäre es dagegen darüber nachdenken, ob und wie Machteliten eine monolithische Schicht sind. Nicht vergessen werden sollte, dass die in der Vergangenheit auf Kosten der Bevölkerung Kriege u.ä. veranstalteten. Vielleicht könnte man sich fragen, ob die gegenwärtige Krise auch so etwas sei? Damit käme man aber in die Nähe von etwas unangenehmen Antworten und möglicherweise zur Einsicht, dass man nicht auf der Seite der Guten stünde.