von Anne-Sophie Scholl

The Good, The Bad & The Ugly XIII

Das Magazin, Literaturkritik, Sonntagsblick

The Good – Das Wort den Turnerinnen

Der «Blick» zuerst, danach folgten weitere Zeitungen, «Le Temps», die «NZZ am Sonntag», das Westschweizer Fernsehen RTS: Sie meldeten im Sommer menschenunwürdige Trainingsmethoden im Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbands in Magglingen. Köpfe rollten und eine Anwaltskanzlei wurde mit einer Untersuchung beauftragt. Damit hätte die Geschichte gegessen sein können.

Doch die beiden «Magazin»-Journalisten Christof Gertsch und Mikael Krogerus bohrten weiter. Am Samstag vor einer Woche publizierten sie «Die Magglingen-Protokolle» in einer quasi monothematischen Ausgabe im «Magazin» und in weiteren Tamedia-Publikationen in der Romandie. In dem Text richten sie den Fokus nicht auf einzelne Personen, sondern auf das System, auf den historisch-politischen Kontext, auf die Gesellschaft — auf uns alle. Nicht zum ersten Mal wurden Vorwürfe gegen missbräuchliche Trainingsmethoden laut, nicht zum ersten Mal wurden Verantwortliche ausgewechselt. War die mediale Aufmerksamkeit verschwunden, blieben die Missstände.

Vor allem aber: Gertsch und Krogerus stellen die Frauen ins Zentrum. Acht junge Frauen stehen hin, mit Bild, mit vollem Namen, mit ihren Aussagen. Ihr O-Ton dominiert den Artikel, die Journalisten lassen die jungen Frauen und weitere ehemalige Turnerinnen als die starken Akteurinnen auftreten, die sie sind.

Das setzt Massstäbe. Es ist eine grossartige Recherche, in Form und Inhalt. Schon jetzt ist klar: Es ist einer der wichtigsten Texte des Jahres.

Unterdessen hat Viola Amherd reagiert, die Bundesrätin will durchgreifen. Drei Monate haben die beiden Journalisten für die Recherche investiert – solchen Journalismus muss man sich leisten können. Die Schweiz muss sich solchen Journalismus leisten.

The Bad – Achtung: elitäre Literatur!

Am Sonntag wird der Schweizer Buchpreis für das wichtigste Buch des Jahres verliehen. Schon jetzt ist klar: Dorothee Elmiger muss den Preis gewinnen. Ihr Buch «Aus der Zuckerfabrik» ist herausragend, inhaltlich und literarisch.

Falls Sie das Buch lesen wollen, geben wir Ihnen hier eine Einordnung der Berichterstattung mit Lesetipps:

📚 Das Buch ist experimentell. Das ist nichts Schlimmes. Es heisst einfach: Das Buch hat keinen Plot, die Textfragmente treten miteinander in Dialog. Die Verbindungen dürfen Sie herstellen. Befolgen Sie den Rat der Autorin: Wenn Ihnen eine Stelle zu wirr erscheint, lesen Sie einfach darüber hinweg.

📚 Das Buch zitiert eine Vielzahl historischer Persönlichkeiten. Sie haben diese Namen noch nie gehört? Das spielt keine Rolle. Auch hier: Folgen Sie dem Rat der Autorin, lesen Sie das Buch nicht mit zu viel Respekt. Alles, was Sie wissen müssen, steht im Text. Wissen über das zitierte Personal auszuspielen ist eine überholte Kritikereitelkeit. Es ist auch eine Form der Aneignung des Textes – im Buch selbst wirft Elmiger die Frage auf: Wie kann ich schreiben, ohne mir den Gegenstand des Textes anzueignen?

📚 Kolonialismus, Kapitalismus, Kant: Sie glauben, das Buch ist ein Männerbuch? Dann haben Sie vermutlich die eine oder andere Rezension eines Kritikermannes gelesen — die statistische Wahrscheinlichkeit dafür ist in der Schweiz sehr hoch. Aber es stimmt nicht: Es kommen viele Frauen darin vor, mit bemerkenswerten Biografien. «Aus der Zuckerfabrik» ist ein sehr offener Text — Frauen lesen anders, Männer auch, das zeigt sich in diesem Fall deutlicher als gewöhnlich. Es geht in dem Buch um Rassismus UND um Sexismus, vor allem geht es darum, wie die beiden zusammenhängen.

Lesen Sie das Buch einfach selbst. Seien Sie neugierig. Haben Sie Humor. Lassen Sie sich berauschen. Viel Vergnügen!

The Ugly – Goldene Tomate für den Sonntagsblick

Wir haben es immer vermutet. Nun wissen wir: Jürg Halter KANN lächeln. Der Beweis gelang SRF-Literaturclub-Moderatorin Nicola Steiner jüngst in einem Clip mit dem düsteren Barden.

Nichts zu lächeln hatte Jürg Halter diese Woche. Am Sonntag publizierte der Sonntagsblick viereinhalb Doppelseiten zum Thema, wie «wir» durch die Krise kommen – und erntete damit einen Shitstorm auf Social Media. Unter den 111 portierten Persönlichkeiten waren lediglich 23 Frauen, auf der ersten Doppelseite war eine einzige Frau zu sehen, der Rest lauter Männer ü50, ü60, ü70, ü80. Zahlreiche Frauen protestierten, ganz genau sah der düstere Barde hin: Es sind alles Millionäre, schreibt Jürg Halter auf Twitter, das sei geradezu zynisch.

Oder: Haben wir etwas verpasst und sie alle wollen freiwillig eine Solidaritäts-Sondersteuer zahlen – wie sie in Deutschland bei Wiederaufbau nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erhoben wurde?

Liebe Medienkommission, lieber Nationalrat, lieber Ständerat: Wir bitten Sie inständig, integrieren Sie eine griffige Genderpolitik in die überarbeitete Version der Medienförderung. Retten Sie so die Herren an den Schaltstellen der Vierten Gewalt vor künftigen geschäfts- und gesellschaftsschädigenden Fauxpas.

Wir vergeben derweil den Preis der Goldenen Tomate.

Leserbeiträge

Ueli Custer 07. November 2020, 13:34

Die Frage ist nur, was unter einer griffigen Genderpolitik zu verstehen ist. Müssen dann auf Teufel komm raus in jedem Beitrag immer gleich viele Frauen und Männer vorkommen? Das kann es ja nicht sein. Bei Radio SRF1 fällt mir aber seit mehreren Monaten auf, dass sehr viel mehr weibliche Stimmen zu Wort kommen. Und zwar auch als Auskunftspersonen. Es geht also offenbar. Aber mit sturen Vorschriften ist eine solche langfristige Entwicklung nicht herbeizuzwingen. Ein Lichtblick ist aber, dass bei Schulabschlüssen aller Art in der vorderen Rängen praktisch immer mehr weibliche als männliche Vornamen zu finden sind. Wenn diese Frauen ihr Potential nutzen und wenn wir die Möglichkeit schaffen, dass das auch mit Kindern geht, stehen wir vor einem weiblichen Zeitalter. Das werde ich zwar nicht mehr erleben. Aber die jungen Leute von heute werden davon profitieren. Denn dann werden die sog. Soft Skills an bedeutender werden. Dann gibt es weniger Ellbogen und mehr Herz.

Lahor Jakrlin 07. November 2020, 17:41

Galoppierende Quotenreiterei

Goldene Tomate: Ich verstehe nicht, was der SoBli (den ich kaum mal lese) mit den ca. 20 Frauen falsch gemacht hat. Wieviele hätten es denn sein sollen? 30? 40? 50? 60? 70? … gibts da ein ungeschriebenes Gesetz? Lex Laeri?

chris 15. November 2020, 22:37

Nein, selbstverständlich hätten es nicht mehr Frauen sein sollen! Wie kann man nur auf solch eine abwegige Idee kommen! Wo doch keineswegs Frauen durch diese Krise belastet werden, durch die „wir“ da laut SoBli kommen müssen. Und wo es doch tatsächlich so komische Leute gibt, wie den UN-Frauenrat oder Swissaid oder die Deutsche Welle, die auch noch meinen, diese Krise treffe Frauen härter als Männer. Da kann man doch nicht erwarten, dass ein Medienerzeugnis wie der SoBli unter 111 Portraits mehr als 23 Frauen portaitiere. Man könnte das Problem doch auch anders lösen – und erst noch so, dass @Lahor Jakrlin nicht fragen muss: Man portraitiert einfach deutlich weniger Männer, z.B. einfach auch 23 statt 88. Das würde der redaktion erst noch weniger Arbeit machen. (Wer hier Ironie vermutet…)