von Philipp Cueni

Von der journalistischen Pflicht, keine Falschaussagen zu verbreiten

Die vier US-Sender, die unlängst die Live-Übertragung einer Trump-Rede abklemmten, zeigten journalistische Verantwortung. Die Redefreiheit zu respektieren heisst nicht, ungefiltert Lügen zu verbreiten.

«Bravo» – war meine erste Reaktion. Vier US-amerikanische TV-Stationen, MSNBC, NBC, CBS und ABC, brechen die Direktübertragung einer Rede des noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump ab. NBC-Moderator Lester Holt erklärt: «Wir müssen hier unterbrechen, weil der Präsident eine Reihe falscher Aussagen gemacht hat. […] Dafür gibt es keine Beweise.»

Die vier TV-Sender schreiben damit vermutlich Mediengeschichte. Mir ist kein vergleichbarer Fall bekannt, wo Medien einem amtierenden Präsidenten das Wort abschneiden. Was aber heisst das für den Journalismus?

Nicht alle Beobachter reagieren positiv: Die NZZ kommentiert das Handeln dieser TV-Sender als «Tiefpunkt der politischen Berichterstattung», nennt das Vorgehen eine «Machtdemonstration» und einen «entmündigenden Paternalismus» gegenüber dem Publikum.

Auch ein Staatspräsident hat kein Anrecht darauf, dass seine Reden live verbreitet werden.

Mich führt die medienethische Reflexion nach dem ersten «Bravo» zu einer Reihe von Einwänden und Fragen. Darf ein Sender ausblenden, dem Publikum vorenthalten, was ein amtierender Staatspräsident äussert? Und allgemeiner gefragt: Was soll live verbreitet werden? Ein Sender entscheidet eigenständig, welche Ereignisse er live übertragen will, welchen Äusserungen er auf seinem Kanal eine direkte Plattform bietet – seien es Reden, Medienkonferenzen, Kundgebungen.

Auch ein Staatspräsident hat kein Anrecht darauf, dass seine Reden live verbreitet werden. Die Argumentation, die genannten TV-Sender hätten den «Präsidenten um sein Recht der freien Äusserung» gebracht, wie das die NZZ schreibt, ist falsch. Denn das Recht der freien Äusserung ist nicht zu verwechseln mit einem Recht auf eine Live-Verbreitung durch unabhängige Medien.

Macht sich eine Redaktion mit der Live-Schaltung zum PR-Instrument des Absenders?

Die reine Übermittlung eines Ereignisses ist noch keine journalistische Leistung. Der Entscheid über eine Direkt-Übertragung muss jeweils redaktionell geprüft und begründet werden. Gute Gründe für eine Live-Übertragung sind etwa die hohe Relevanz eines Ereignisses oder die Möglichkeit fürs Publikum, sich durch das Live-Setting besser eine eigene Meinung bilden zu können. Die entscheidende Frage bleibt aber: Macht sich eine Redaktion mit der Live-Schaltung zum PR-Instrument des Absenders?

Zur Frage der Relevanz im konkreten Fall. Es ist durchaus von öffentlichem Interesse, was der US-Präsident in einer heiklen Phase der Stimmenauszählung zu sagen hat – sogar wenn er lügt. Aber selbst wenn man die Relevanz bejaht, folgt daraus nicht automatisch, dass man die Botschaft ungefiltert verbreiten muss. Eine Redaktion ist kein Multiplikator, kein Transmissionsriemen. Auch bei gegebener Relevanz bleiben für die Redaktion zwei zentrale Aufgaben bestehen: Was dem Publikum angeboten wird, soll überprüft und eingeordnet werden. Erst diese Leistung macht den Journalismus aus.

Die Redaktion muss es dem Publikum ermöglichen, die übermittelte Botschaft einzuordnen.

Oft wird eine Direktübertragung gleichgesetzt mit einem neutralen Abbild – so könne sich das Publikum ein eigenes, objektives Bild machen. Aber eine Übertagung garantiert weder die Wiedergabe einer komplexen Realität noch vollständige Transparenz. Deshalb muss eine Redaktion auch im Live-Setting Verantwortung übernehmen. Etwa indem sie die Hintergründe transparent macht: Welchen Fokus der Realität wählt und macht sie sichtbar? Soll etwa bei der live übertragenen Medienkonferenz der Regierung der vorgängige Satz des Pressesprechers, Fragen der Medien seien heute nicht zugelassen, mit übertragen werden? Sollen die kritischen Fragen der Konkurrenz in die Übertragung mitgenommen werden? Werden während eines Live-Fussballspiels Proteste auf Zuschauerrängen gezeigt oder ausgeblendet? Die Redaktion muss es dem Publikum ermöglichen, die übermittelte Botschaft einzuordnen.

Das Gebot, eine Vielfalt von Positionen abzubilden, bewahrt den Journalismus nicht davor, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, mit Fakten zu argumentieren und selbst einzuordnen. Offensichtliche Falschinformationen oder unbelegte Anschuldigungen sind keine Meinungen. Sollen etwa Holocaust- oder Klimaleugner unter dem Aspekt der Meinungsvielfalt ihre Lügen in den Medien verbreiten dürfen? Natürlich nicht. Etwas anderes ist es, wenn Medien über solche Akteure berichten und deren Positionen kritisch referieren und einordnen.

Die vier amerikanischen TV-Sender haben mit ihrer Unterbrechung der Präsidenten-Rede an die Verantwortung des Journalismus erinnert.

Redaktionen müssen im konkreten Fall entscheiden und belegt begründen, was als Interpretation von Fakten in einem Meinungsspektrum zulässig sei und was als klare Tatsachenwidrigkeit eben nicht. Solche Entscheide gehören zum Standardrepertoire der Redaktionsarbeit und bedingen Faktencheck, Sachwissen und Recherche. Allein der Hinweis auf die Vielfalt von Meinungen genügt nicht.

Die vier amerikanischen TV-Sender haben mit ihrer Unterbrechung der Präsidenten-Rede an die Verantwortung des Journalismus erinnert. Das ist ihr Verdienst und so darf man den Moment gar als historisch bezeichnen: Sie haben die Reissleine gezogen, als der US-Präsident die unabhängigen Medien immer schamloser zu instrumentalisieren versuchte in seiner Absicht, einen Grundpfeiler der Demokratie, freie Wahlen, zu unterlaufen. Die vier Redaktionen haben mit ihrem Entscheid Verantwortung übernommen und damit Haltung gezeigt.

Medienschaffende sind in den unterschiedlichsten Situationen gefordert, und müssen das Gesagte des Gegenübers überprüfen und einordnen.

Die Ausblendung der Trump-Rede war eine einmalige Situation. Sie erinnert aber gleichzeitig an die Herausforderungen im unspektakulären journalistischen Alltag. Etwa dann, wenn in Interview-Situationen die Gesprächspartner Lügen verbreiten oder unbelegte Behauptungen aufstellen und Beschuldigungen in die Welt setzen. Auch dann sind Medienschaffende gefordert, und müssen das Gesagte überprüfen und einordnen. Das erfordert aber entsprechende Sachkenntnis und Vorbereitung.

Gut, wenn Sätze wie «das ist in weiten Teilen absolut unwahr» (CNBC), «wir müssen korrigieren» (MSNBC) oder «dafür gibt es keine Beweise» (NBC) wieder stärker im journalistischen Repertoire verankert sind.

Leserbeiträge

Beat Schwab 13. November 2020, 16:52

Die Journalisten haben ihre Verantwortung wahrgenommen, keine Lügen weiterzuverbreiten.Interessant ist nun, dass es Leute gibt, die in erster Linie den notorischen Lügner schützen wollen und nicht die professionell korrekt arbeitenden Journalisten.Diese erstmalige – und überfällige – Zensur des notorischen Lügners als Gefahr für die Meinungsfreiheit darzustellen, ist absurd. Und was wirklich nicht wieder vorkommen darf, ist, dass so ein charakterloser Lügner Präsident einer Demokratie wird.